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Die kirgisischen Gefängnisse – Zufluchtsort für Schwerkriminelle?

Trotz vieler Bemühungen schafft es die kirgisische Regierung nicht, ihre Gefängnisse zu reformieren. Die Gefängnisse, die noch zu Sowjetzeiten erbaut wurden, beherbergen heute hoch organisierte Gefangene, die nicht davor zurückschrecken, Unruhen zu provozieren, sobald die Behörden ihre Haftbedingungen in Frage stellen.

gulkaiyrm vanessag 

Gefängnis Kirgistan
Gefängnis Kirgistan

Trotz vieler Bemühungen schafft es die kirgisische Regierung nicht, ihre Gefängnisse zu reformieren. Die Gefängnisse, die noch zu Sowjetzeiten erbaut wurden, beherbergen heute hoch organisierte Gefangene, die nicht davor zurückschrecken, Unruhen zu provozieren, sobald die Behörden ihre Haftbedingungen in Frage stellen.

In der Nacht vom 19. Oktober gelang neun Insassen einer kirgisischen Haftanstalt der Ausbruch. Auf ihrer Flucht töteten sie drei Wächter und verletzten einen weiteren kritisch, der seinen Verletzungen später erlag. Mittlerweile wurden alle Flüchtenden von den kirgisischen Sicherheitskräften entweder getötet oder festgenommen. Am 20. November wurde der Direktor des Gefängnisses der geflüchteten Insassen in seiner Zelle erhängt aufgefunden. Der Mann war zuvor im Zusammenhang mit der Untersuchung des Ausbruchs festgenommen worden.

Diese dramatischen Ereignisse, die in Kirgistan stark mediatisiert wurden, lässt die Kontroverse über die Leistung des Gefängnissystems des Landes wieder aufflammen. Im Gegensatz zu westlichen Gefängnissen lassen die kirgisischen Anstalten den Gefängnissen große Freiheit, die in offenen Räumen, ohne Einzelzellen, ausgelebt werden können. Gavin Slade, ein Forscher an der Freien Universität Berlin, hat sich des Themas angenommen. Novastan.org sprach mit ihm auf einer Konferenz in Paris, die von der Wissenschaftlichen Arbeitsgruppe für Zentralasien organisiert wurde.

Gefängnisse „à la Gulag“

Gavin Slade vergleicht die Auswirkungen der Gefängnisreformen auf organisierte Kriminalität in drei verschiedenen Ländern der Sowjetunion: Litauen, Georgien und Kirgistan. Diese beiden Themen, die selten im selben Rahmen diskutiert werden, sind immer noch tief in der Logik der Regierungen der Regierung der ehemaligen Sowjetunion verankert.

Gefängnis Kirgistan

Nach dem Fall der Sowjetunion begannen die neuen politischen Behörden drastische Reformen, so auch im Gefängnissystem. Diese Notwendigkeit einer Gefängnisreform stammt von der Tatsache, dass es zunehmend schwieriger wurde, kriminelle Gruppen, die in Gefängnissen entstanden, zu bekämpfen. Gefängnisstrukturen „à la Gulag“ unterstützen die Bildung einer hartnäckigen Subkultur Gefangener noch zusätzlich.

Der kasachische Abgeordnete Schakip Asanow sieht die Quelle dieser Subkultur in den Gulag-ähnlichen Strukturen, die auf großen Innenhöfen und Schlafsälen für 50 bis 100 Personen basieren. Ein solcher Aufbau ermöglicht es den Gefangenen, selbst das Gefängnis zu steuern. Gavin Slade schließt daraus, dass das einzige Gegenmittel für diese Machtkrise ist, auf Einzelhaft umzusteigen.

Die Verschlechterung der Gefängnisstrukturen nach dem Ende der UdSSR

Gavin Slades Forschung zeigt, dass die kirgisischen Gefängnisstrukturen sich nach dem Fall der Sowjetunion verschlechtert haben. Die Insassen schufen die Barrieren zwischen den Höfen ab, sodass der für die Koordinierung eines Widerstands gegenüber der Reformen nötige Austausch und die Kommunikation unter Gefangenen erleichtert wurden. Die kirgisischen Gefängnisse wurden tatsächlich Schauplatz mehrerer Aufstände anlässlich jedes Versuchs einer Reform. Im Jahr 2012 nähten sich mehrere hundert Insassen die Lippen zusammen, als Zeichen ihres Protests gegen eine Reform, die sie als weitere Verschlechterung ihrer ohnehin schon schwierigen Lebensbedingungen wahrgenommen hatten.

Laut Gavin Slade gibt es noch andere Faktoren, die diesen Widerstand stärken. Die kirgisischen Gefängnisse sind nicht gleichmäßig im Land verteilt, sondern konzentrieren sich in einer einzigen Region: in Chui, im Norden Kirgistans.

Gefängnis Kirgistan

Zehn von elf Gefängnissen befinden sich in dieser Region; die meisten von ihnen sind sogar durch nur eine einzige Bahnlinie verbunden. Dies erleichtert die Koordinierung einer Protestbewegung unter den Gefangenen. Darüber hinaus gibt es nur ein Krankenhaus für kranke Insassen. Mit Rückgriff auf Korruption kann jeder Gefangener das Krankenhaus besuchen. Es ist gleichzeitig auch ein Ort der Begegnung für mögliche Austausche zwischen den Gefängnissen.

Gefängnis Nr. 1, ein kriminelles Koordinierungszentrum

Ein weiterer strategischer Ort ist das Gefängnis Nr. 1, oder SIZO Nr. 1 (für Sledstwennyj Isoljator, Untersuchungshaft), eine von der kriminellen Elite Kirgistans geleitete Koordinationsstelle. Während eines Gefangenentransportes, oder bei Ankunft von Neulingen, werden die Insassen zuerst in das SIZO Nr. 1 überführt, bevor sie von der besagten kriminellen Elite auf die anderen Gefängnisse verteilt werden.

Auch die Gruppenbildung wird durch das Untersuchungsgefängnis Nr. 1 gesteuert. Generell neigen Gruppen dazu, sich nach Religions- oder ethnischer Zugehörigkeit zu bilden. Im Gefängnis hingegen ist es die kriminelle Elite, die diese Faktoren durchmischt. Dies trägt dazu bei, die Ordnung aufrechtzuerhalten, ein einziges Machtzentrum zu sichern, und Konflikte zwischen den Gruppen zu vermeiden.

Die kriminelle Elite stützt Gefangene

Gavin Slade versucht außerdem zu verstehen, warum die Gefangenen diese kriminelle Elite des Gefängnisses unterstützen und warum sie sich der Haft-Subkultur freiwillig unterwerfen.

Den ersten Ergebnissen seiner Forschung zufolge, in der er kirgisische, litauische und georgische Gefängnisse vergleicht, scheint der Hauptgrund eine Frage der Legitimität zu sein. Die von der kirgisischen Regierung erbrachten Sozialleistungen sind dürftig. 2006 wurde den Gefängnissen zum Beispiel ein Budget von 11.250$ für die Renovierung der Gebäude erteilt. Nach Aussagen der Gefangenen (von Gavin Slade zitiert) wurden nur 2% für die Sanierung verwendet.

Auch das Essen wird vor allem durch den sogenannten „obshak“, ein Fonds aus Sammlungen von Gefangenen, zur Verfügung gestellt. Das Essen wird vor allem durch diese Sammlung finanziert, deren Hauptquelle die monatlichen Zahlungen in Höhe von 400 Som (5.30 Euro) sind, die jeder Gefangene einzahlt. Die Unterwerfung unter die kriminelle Elite garantiert ein stabileres Umfeld. Die Regeln sind klar abgesteckt, was dazu beiträgt, eine gewisse Unschärfe, oft gleichbedeutend mit Gewalt, zu vermeiden. So fürchten Insassen weniger Gewalt oder sozialen Druck, vor allem an einem Ort, wo es kein Verstecken gibt.

Der letzte Grund für diese Unterstützung der Gefangenen einer von der kriminellen Elite erschaffenen Ordnung ist die Kultur der Strafe. Die Einzelhaft, wie sie in westlichen Gefängnissen praktiziert wird, wird als eine zu schwere Strafe angesehen. Bestrafung sollte in kollektiver Weise ausgeübt werden.

Die Gefängnisse – eine Herausforderung für den kirgisischen Staat

Die Forschung von Gavin Slade zeigt den Doppeldiskurs der vergangenen kirgisischen Regierungen. Kirgistan, das stark auf internationale Hilfe angewiesen ist, um sein Gefängnissystem zu finanzieren, ruft vor internationalen Gremien Menschenrechte und das Wohlergehen der Gefangenen in Erinnerung. Aber wenn es sich darum handelt, sich an ein kirgisisches Publikum zu richten, ändert sich die Sprache schlagartig und weist auf die Gefahr des aktuellen Gefängnissystems für die gesamte Bevölkerung hin.

In der Zukunft könnte sich Kirgistan ein Beispiel an seinen Nachbarn nehmen. Wenn es dem Beispiel Georgiens folgt, das heißt, Reformen durchzusetzen, jedoch mit massiver Gewalt als Preis, wäre das eine erneute Niederlage für Gavin Slade. Genau genommen erzielte diese Methode nicht die erwünschten Resultate – ganz im Gegenteil.

Sollte Kirgistan hingegen dem Beispiel Litauens folgen, dem zweiten Objekt der Forschung Slades, würde das Land versuchen, die Größe seiner Gefängnisse schrittweise zu verringern. Das Problem: dies würde strenger administrativer Kontrolle bedürfen, für die Kirgistan große Ausgaben machen müsste.

Letztlich gibt es noch ein anderes Beispiel, das der Dominikanischen Republik: eine neue Anstalt zu bauen und diese nach und nach mit Gefangenen zu füllen. Bis jetzt scheint in Kirgistan aber noch nichts entschieden zu sein. In der Zwischenzeit übernehmen Vereine das Ruder: im Jahr 2014 wurde eine Rehabilitationszentrum für jugendliche Gefangene unter der Leitung von Bir Duino eröffnet, eine der größten Menschenrechtsvereinigungen Kirgistans.

 

Gulkaiyr Magnolia
Journalistin für Novastan.org in Paris

Aus dem französischen übersetzt von Vanessa Graf

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