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Die Dörfer Kirgisistans: historische Bedeutung und soziale Fragen

Аалам айылдан башталат (Kirgisisches Sprichwort)

gulnaraa 

Redigiert von: daniela

Аалам айылдан башталат (Kirgisisches Sprichwort)

(Übersetzung: Das Dorf ist eine kleine Welt)

Die Großzügigkeit und die Gastfreundlichkeit der kirgisischen Dörfer, Wiege der Tradition und Kultur des Landes, sind berühmt. Gleichermaßen liegt die Originalität jedes kirgisischen Dörfes in seiner Entstehungsgeschichte und in seinen Hauptaktivitäten, die sich je nach geographischer Lage unterscheiden. Die Dörfer teilen gemeinsame Bräuche, wie die Feiern nach der Ernte, aber auch gemeinsame Probleme, wie der schwierige Zugang zu Trinkwasser und die große Hoffnung, dass sich die politische Macht auch abseits von Wahlkampagnen für die Lebensbedingungen der Dorfbevölkerung interessiert. Fest steht, dass die Dörfer eine wichtige Schlüsselfunktion in der generellen Entwicklung von ganz Kirgisistan einnehmen.

Die Wichtigkeit der Dorfes im kirgisischen Leben

Ein Dorf ist eine Familie

Fast jedes Dorf in Kirgisistan hat eine Geschichte, die seine Zusammensetzung und Aktivitäten erklärt. Laut den Forschungen des Geschichtswissenschaftlers Tschokon Walikhanow in den 1840-50ern, wurden die Dörfer zwischen den Städten Kara-Balta und Sokuluk von den Nachfahren des kigisischen „Solto“ Stammes bevölkert. Die Dörfer Orlowka und Iwanowskoe in der Region Talas (Nordosten) wurden ihrerseits von deutschen Auswanderern gegründet und bewohnt. Diese waren dort die ersten Einwohner und Gründer einer Butterfabrik. Dies zeigt, dass Auswanderer auch zur Entwicklung eines modernen Kirgisistans beigetragen haben. Das Gewerbe jeden Dorfes variiert je nach geographischer Lage. In den Bergdörfern ist die Viehzucht vorherrschend, während Taldörfer mehr Landwirtschaft betreiben. Das Dorf Guldurmo, in der Batken-Region ist zum Beispiel einer der Hauptproduzenten von trockenen Aprikosen im Land, und Bokonbaewo in der Yssyk-kul-Region ist für seine handwerkliche Filzherstellung und die Produktion von Komuz (einem kirgisischen Musikinstrument) bekannt.

Das Dorf, eine Wiege der kirgisischen Elite

Bürger, die aus den Dörfern stammten, haben in der Entwicklung Kirgisistans schon seit sowjetischen Zeiten eine große Rolle gespielt. Die Gründungsväter Kirgisiens (wie Kirgisistan zu sowjetischen Zeiten hieß), Jusup Abdrakhmanow, Torokul Aytmatow, Iskhak Razzakow oder Kasym Tynystanow kamen alle aus Dörfern. Leute vom Land beeinflussten Kunst, Literatur und Wissenschaft.

Ein Dorf des SchatkalTals
Ein Dorf des Schatkal-Tals (Foto: Etienne Combier)

Die Kirgisischen Dörfer und Veränderung: nach der Unabhängigkeit

Staatliche und nichtstaatliche Programme zur Entwicklungsförderung der Dörfer

Seit 1991 haben verschiedene staatliche und nichtstaatliche Programme Maßnahmen ergriffen, um die Lebensbedingungen der Dorfbevölkerung zu verbessern. Mikrokredite und Leasing-Möglichkeiten sowie die Agrarreform sind die wichtigsten dieser Maßnahmen zur Entwicklung von ländlichen Gebieten. Außerdem konnte dank gemeisamer Programme des Staates und der Weltbank (Taza Suu Programm), UNDP (Elektronduk Ayil Okmotu Programm zur digitalen Erfassung der Datenbanken von Rathäusen) oder Helvetas (Community based Tourism Programmdie Modernisierung in den Dörfern beschleunigt werden.

Die Rolle der Dörfer in politischen und wirtschaftlichen Veränderungen

Landwirtschaft bleibt das Hauptgewerbe in den meisten Dörfern, ebenso wie auf nationaler Ebene, wo sie im Jahr 2012 20,1% des Bruttoinlandsprodukts (BIP) ausmachte. Die Öffnung von Bankfilialen in den Dörfern erleichtert es ausgewanderten Arbeitern, Geld in die Heimat zu schicken. Diese Geldtransfers allein steuern einen Anteil von 29% des BIP bei. Darüber hinaus spielten die Dörfer bei politischen Veränderungen eine wesentliche Rolle. Die Wurzeln der Kirgisischen Revolution von 2005 sind in den Dörfern zu finden, die aufgrund der von der schlechten Regierungsführung durch große Preiserhöhungen und häufige Stromausfälle am meisten betroffen waren. Diese Schwierigkeiten hatten schon 2002 eine Revolte einer Oppositionsgewerkschaft begünstigt. Diese hatte sich für die Opfer der schlechten Verwaltung des Präsidenten Askar Akajew in dem Dorf Bopieke (Aksy Region) eingesetzt.

Dorfbewohner verladen Stroh auf einen Lastwagen
Dorfbewohner verladen Stroh auf einen Lastwagen (Foto: Etienne Combier)

Der Teufelskreis der Probleme der kirgisischen Dörfer

Arbeitslosigkeit, Preisfluktuationen, Unsicherheiten bezüglich der landwirtschaftlichen Saison sowie die Abwesenheit von Eliten in den Dorforganisationen führen zu einer Verschlechterung der Ausbildung und der Gesundheit der Dorfbewohner. Dem kann man den Mangel an konstruktiven Beziehungen zwischen der Regierung und den Bewohnern der Dörfer Kirgisistans beifügen.

Das Dorf als Ausgangspunkt für die Jugend: ist die Dorfkarriere ein Mythos?

Die Armut und die Arbeitslosigkeit haben direkte Auswirkungen auf die Kirgisischen Dorfbewohner, die oft ein besseres Leben außerhalb des Dorfes suchen. Dies führt zu intra- und internationalen Migrationen. Laut Salima Ismailowa, Verantwortliche des Arbeitskomittees der Stadt Osch, gibt es immer mehr inländische Migranten in der Stadt. Man kann sehen, dass die Bewegung der Dorfbewohner hin zu großen Städten für sie wie eine Lebensnotwendigkeit erscheint. Außerdem führen die harten klimatischen Bedingungen, das Risiko, dass sich die landwirtschaftliche Produktion nicht auszahlen wird, ebenso wie die Visafreiheit zwischen Kirgisistan und Ländern wie Kasachstan oder Russland zu einer Abwanderung junger Dorfbewohner in diese Gegenden, um dort eine Arbeit zu finden.

Das Defizit an ausgebildeten Klassen in den Dörfern

Durch diese Abwanderung fehlt es in den Dörfern auch an Fachkräften, wie Lehrer, Ärtzte, Tierärzte oder Agrarwissenschaftler. Niedrige Löhne und die Vertragsbedingungen von staatlichen Programmen ermutigen junge Absolventen nicht, in den Dörfern zu arbeiten. „Ich möchte nicht in einem fernen Dorf arbeiten, weil dort die Lebensbedingungen nicht ausreichend sind“, rechtfertigt Chinara, Absolventin der Universität-Naryn, die Karrierewahl außerhalb ihres Dorfes. Die staatliche Politik zur Förderung der Arbeit in den Dörfern wird von den jungen kirgisischen Absolventen nicht unterstützt.

Die Haupstraße des Dorfes Barskoon am Ufer des Yssyk-kul
Die Haupstraße des Dorfes Barskoon am Ufer des Yssyk-kul (Foto: Etienne Combier)

Die Verarmung des Dorflebens: Etappen und Konsequenzen

Trotz der Bemühungen staatlicher und nichtstaatlicher (insbesondere für Trinkwasser- und Mikrokreditprogramme) Institute, werden die Probleme der Dorfbewohner immer ernster und schwieriger zu lösen. Die Hauptprobleme heute sind der Mangel an Mitteln imBildungs- und Gesundheitssystem. Die komplexen Beziehungen zwischen der Regierung des Landes und lokalen Regierungsstrukturen machen die Lage auch nicht einfacher.

Soziale Probleme: Gesundheit und Ausbildung in den Dörfern

Anemie und hoher Blutdruck sind die häufigsten Krankheiten kirgisischer Dorfbewohner. Tursun Mamyrbajewa, Vizedirektorin des Staatszentrums für die Gesundheit von Frauen und Kindern, zufolge leiden60 Prozent der Frauen unter Anemie. Dieser hohe Anteil hat besonders während Schwangerschaften großen Einfluss auf die Gesundheit der Kinder. Der Grund für die Anemie liegt in der Unterernährung in den kirgisischen Dörfern. Außerdem leiden immer mehr junge Bewohner an Krankheiten, die typisch für höhergelegene Gebiete sind, wie etwa hoher Blutdruck und Diabetes..

Die abnehmende Qualität der Grund- und Sekundarschulen ist das zweite beunruhigende Phänomen. „Die Ausbildungsqualität in den Dorfschulen entspricht nicht den Ansprüchen weltweiter Standards und verhindert kritisches Denken weiterzuentwickeln. Daher kann Ausbildung den jungen Dorfbewohnern auch schlecht eine bessere Zukunft garantieren“, erzählt Rakhat Zholdoschaliewa, die ihre Doktorthesis bei der Universität Toronto über die Bildungsreformen in Kirgisistan schreibt.

Der Mangel an konstruktiven Beziehungen zum Staat

Die Dörfer sind Ausgangspunkte politischer Bewegungen und stellen die landesweite Mehrheit der Wähler. „Sobald Volksvertreter einmal gewählt wurden, um die Meinungen der Dorfbewohner zu vertreten, kehren sie nicht mehr in die Dörfer zurück, um sich über die Lage zu informieren, und vergessen ihre Wahlversprechen“, meinen die Bewohner des Dorfes Uschkun (Region Kara-Suu). Der andere Aspekt dieser schlechten Beziehungen zwischen den Dörfern und dem Staat ist die Konfrontation zwischen lokalen Bewohnern und denen, die in natürliche Ressourcen dort investieren. Beispiele dafür sind die Initiativen des Dorfes Daroot Korgon gegen die Erbauung einer chinesischen Kaidi-Miene und des Dorfes Katran (Region Batken) gegen den russischen Investor Aprelskoje.

Ein Haus in dem Sary Tash Tal
Ein Haus in dem Sary Tash Tal (Foto: Etienne Combier)

Eine Verbesserung der Lage?

Die Lebensbedingungen in den Dörfern waren ein wichtiger Faktor, der mitunter zu einem starken Willen nach Reformen in der ersten kirgisischen Republik geführt hat. Dieser Wille findet sich auch unter den Dorfbewohnern wieder, die ihre Felder bestellen oder sich um ihre Schaafe, Kühe und Pferde unter schwierigen klimatischen Bedingungen kümmern müssen, und so die Entwicklung der Landwirtschaft in dem Land enorm beeinflussen. Ebenso teilen viele ausgewanderte Arbeiter den Wunsch nach Entwicklung. Sie waren gezwungen, für das Auskommen ihrer Familien das Land zu verlassen und tragen einen wesentlichen Beitrag zum BIP bei. Trotz der Bemühungen verschiedener Entwicklungsprogramme haben viele kirgisische Dörfer immer noch keinen einfachen Zugang zu klarem Trinkwasser. Die Probleme mit der Gesundheit und Ausbildung der Dorfbewohner fordern klare Maßnahmen, da sie sich stark auf die Entwicklung des ganzen Landes auswirken. Der Kampf gegen die Anemie der Frauen müsste eine Priorität sein, um die Gesundheit der kommenden Generation in Kirgisistan zu garantieren. Das Desinteresse junger Universitäts-Absolventen an der Rückkehr in ihre Heimatdörfer verstärkt zudem diese negative soziopolitische Entwicklung. Die gewählten Politiker haben auch die große Verantwortung, ihre Wahlversprechen gegenüber die Dörfer einzuhalten. Dem kann man die Konfrontation zwischen Dorfbewohnern und Investoren hinzufügen. Wenn man die aktuellen Probleme berücksichtigt, kann man sagen, dass die Dörfer eine Herausforderung für das ganze Land darstellen, da sie weiterhin als Wiege des geschichtlichen, kulturellen, sozioökonomischen und politischen Lebens gelten.

Gulnara Anapiiaeva
Redakteurin für Novastan.org

Übersetzung: Florian Coppenrath und Daniela Neubacher

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