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Das „Manas“-Epos – eine Enzyklopädie kirgisischer Geschichten und Sitten

Das „Manas“-Epos wird als ein Werk mit Weltklasse angesehen. Seine schiere Länge und die Umstände seiner Schaffung sind beeindruckend. Als Enzyklopädie des kirgisischen Lebens hat das Werk für dieses Volk daher einen besonderen Wert: Dieses Epos ist nicht nur Wiedergabe von alten Geschichten, es definiert vielmehr die Grundlage der kirgisischen Kultur.

artiom 

Redigiert von: christophr

Manas
Manas

Das „Manas“-Epos wird als ein Werk mit Weltklasse angesehen. Seine schiere Länge und die Umstände seiner Schaffung sind beeindruckend. Als Enzyklopädie des kirgisischen Lebens hat das Werk für dieses Volk daher einen besonderen Wert: Dieses Epos ist nicht nur Wiedergabe von alten Geschichten, es definiert vielmehr die Grundlage der kirgisischen Kultur.

Jedes Volk verweist auf seine identitätsstiftende Geschichte und Kultur, die zugleich ein Mosaikstück der Weltgeschichte abbilden soll. Einige geistige Denkmäler weisen dann mitunter tatsächlich eine Leuchtturmfunktion auf: Das „Manas“-Epos ist beispielsweise ein in Kirgisien tief verwurzeltes kulturelles Gut, das parallel dazu im wissenschaftlichen Diskurs weltweit interessiert verfolgt wird – bemerkenswert, wenn man bedenkt, dass dieses Monumentalwerk dort entstand, wo kein bekanntes Schriftsystem die Komposition hätte fixieren konnte. So ist alles, was über die Jahrhunderte vom kirgisischen Volk gekannt, geschaffen und sogar gelebt wurde, in der mündlichen Volkskunst erhalten; Folklore wurde zum Gedächtnis eines ganzen Volkes, zum nahezu alleinigen Speicher von Ideen, Leistungen sowie Erinnerungen und damit konsequenterweise einer ganzen historischen Entwicklung.

Es erinnert an eine unendliche Geschichte: Erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts schriftsprachlich abgefasst, enthält die „Manas“-Version von Sajkaj Karalajew mehr als eine halbe Million Verse, das heißt zwanzig Mal mehr als die bekannten europäischen Großepen „Ilias“ und der „Odyssee“ zusammen. Es existieren insgesamt 65 Versionen und mit „Manas“, „Semetej“ und „Sejtek“ im Ganzen drei Teile der Dichtung. Damit jedoch nicht genug: Bis heute wird der Text fortgeführt und spiegelt dadurch analog die Entstehung des „Manas“ wider. Aus der dominierenden Sphäre der Mündlichkeit wurden beständig Weisheiten und Erkenntnisse als Kommentar ergänzt und somit alle Lebensaspekte des kirgisischen Volkes wiederholt ergänzend interpretiert. „Manas“ ist dabei mit einer kunstvollen Enzyklopädie vergleichbar: Es schildert nicht nur die weltliche Geschichte der Kirgisen, ihre Wirtschaft, ihre Lebensart und ihre Sitten, sondern macht zudem mit ästhetischem Empfinden, Ethik und Moral sowie medizinischen und religiösen Einsichten vertraut. Das Epos avanciert hiermit zu dem literarischen Erzeugnis mit nationalem Charakter der Kirgisen schlechthin. Noch vor 30 Jahren gab es kein Gesamtwerk, bis Jusufu Mamayi, bisweilen als ‘lebender Homer’ betitelt, die Parts unterschiedlichster Couleur zu einem einzigen Produkt zusammenfasste, das allerdings noch keinen greifbaren Abschluss gefunden hat.

Die Frage nach dem Erscheinungszeitraum des epischen Gedichtes behandelt ein zentrales Problem; die Meinungen der Experten gehen dabei auseinander und widersprechen sich. Einigkeit besteht vorrangig darin, dass die Erzähler von „Manas“ die jahrhundertlange Geschichte der Kirgisen darstellen. So ist die Frage nach dem „Wann“ des „Manas“-Epos zweifelsohne die heikelste. Jeder „Manastschy“, so heißen jene Erzähler, fügte seine eigene Sichtweise und seine Erklärung der Ereignisse hinzu – das epische Gedicht hat sich fortwährend durch neue Helden und neue Ideen verändert. Das heißt vor allem, dass historische Fakten mit Legenden, Traditionen und alten Mythen gemischt werden. Die Frage des Entstehungszeitpunkts verbindet sich hier mit dem Problem der Faktizität – worauf kann beispielsweise ein Geschichtswissenschaftler vertrauen und worauf nicht?

Laut W. Zhirmunski gibt es keine konkrete Antwort darauf, an welchem exakten Datum der Geschichte „Manas“ entstanden sein soll. Weitaus bedeutsamer ist die Erkenntnis, welche Stationen des kirgisischen Volkes genannt werden. So enthält das Epos eine Reihe von Ereignissen, die für die Kirgisen entscheidend waren. Den Versen von „Manas“ folgend entdeckt man in der Nennung einer Militärdemokratie eine für die ganze Region prototypische entwickelte Form des Klanregimes. Jener Zeitraum einer Militärdemokratie wird durch eine unendliche Folge an Kriegen, Angriffen und Gegenangriffen zur Eroberung von neuem Weideland und Vieh bestimmt. Gerade diese unsteten Lebensbedingungen – nach „Manas“ eine „heroische Zeit“ – in dieser noch undefinierten Zeit bringt – ebenfalls im Sinne von „Manas“ – tapfere und mutige Helden in den Vordergrund, deren Ruhm dann Jahrhunderte lang besungen und zum Teil des kollektiven Gedächtnisses wird.

  1. Die Zeit der ersten Nomaden (7. Jahrhundert v. Chr. – 5. Jahrhundert n. Chr.)
    In den Augen der verschiedenen türkisch-mongolischen Völker ist dieser Zeitraum zu der „heroischen Zeit“ geworden. In eben jener Zeitspanne soll das epische Gedicht erschienen sein.

  2. Die Zeit der Schaffung der türkischen und kirgisischen „Kaganats“ auf dem Territorium des heutigen Zentralasiens
    Mit dem Auftauchen des kirgisischen Staates wurde die Rolle der epischen Gedichte gestärkt und das Epos befand sich in einer neuen Phase seiner Entwicklung.

  3. Die Zeit des Staates des Karachaniden
    Zu diesem Zeitpunkt waren die vielen unterschiedlichen türkische Völker auf dem weiten Gebiet Zentralasiens vereint. Im 10. Jahrhundert ging die Vorherrschaft in dieser Region von den türkischen Völkern zu den mongolischen Völkern über. Einen Teil der Kirgisen zog es damals nach Kleinasien. Dieser Zeitraum gilt als eine blühende Zeit für die türkischen Völker.

  4. Die Zeit der mongolischen Invasion
    Die mongolische Invasion war eng mit der endgültigen Migration der Kirgisen aus Südsibirien in den Tian Shan verbunden. Die Truppen von Dschinghis Khan hatten dem kirgisischen Staat den „Todesstoß“ versetzt. Nach der Eroberung sind die Kirgisen gezwungen, ihren Teil des Altai und die Weiden nah des Irtysch aufzugeben.

  5. Die Zeit einer Invasion durch Oiroten und Dzungaren auf dem heutigen Territorium Kirgistans
    Es ist eine verheerende Periode für die türkischen Völker Zentralasiens.

Die vergangenen Jahrhunderte haben sicherlich ihre Spuren auf dieser Dichtung hinterlassen, und doch behält sie einen unermesslichen Wert für das kirgisische Volk. Es ist eine Sammlung seiner Geschichte, seiner Legenden und seiner Sitten. Das Epos „Manas“ versinnbildlicht letztlich auch die Vereinigung des kirgisischen Volkes. Der Hauptheld, der diese historische Mission erfüllt, ist kein anderer als Manas selbst. In seinen letzten Atemzügen erklärt dieser das Schicksal, für das er auserkoren war:

Zweiundvierzig Jahre lang war ich der Khan.
Ich habe Milane versammelt, und Falken aus ihnen gemacht.
Ich habe Sklaven versammelt, und sie zu einem Volk gemacht,
So habe ich eine vereinte und mächtige Vagabundennation geschaffen.“

Der Manas Epos spielt heute eine wesentliche Rolle in dem Aufbau der Kirgisischen Identität. Seit Dezember 2013 hat es mit seinem neu gewonnenen Status als immaterielles Kulturerbe der UNESCO auch offiziell seinen Platz als Werk mit Weltklasse gefunden.

Artiom Ismailow
Mitgründer von Novastan.org

Aus dem Französischen übersetzt von:
Christoph Richter und Florian Coppenrath

Weitere Quellen (Ru)

  1. http://www.welcome.kg/ru/kyrgyzstan/culture/aswlk/

  2. http://www.eposmanas.ru/

  3. http://www.kyrgyzstan.orexca.com/rus/legends_manas.shtml

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