Die 25-jährige Ballerina Aygerim Atakosowa aus Bischkek steht seit über neun Jahren auf der Bühne. Doch eine Karriere als Tänzerin ist schwer, weshalb sie sich mit Kursen und harter Arbeit durchschlagen muss. Ein Portrait. Der Vorhang geht auf, lauter Applaus, fast alle Plätze im Opern- und Balletttheater von Almaty sind besetzt. Aygerim wartet auf ihren Auftritt. Sie wird einen Tanz aus Don Quijote vorführen, ihrem Lieblingsballett. Die Wartezeit zieht sich hin, aber neben der Angst fühlt sie auch Zuversicht. Sie hat sich ein ganzes Jahr vorbereitet und sie kennt den Tanz so gut wie ihren eigenen Namen. Allegro! Sie ist an der Reihe, betritt anmutig und lächelnd die Bühne und stellt plötzlich mit Entsetzen fest, dass sie sich überhaupt nicht an den Tanz erinnert. Die Ballerina beginnt zu improvisieren und ringt mit ihrer Erinnerung, aber vergebens. Ihr Tanz war nicht der von Don Quijote, doch nur ein erfahrener Zuschauer konnte es erraten. „Es war so aufregend, ich war 16 und hatte bereits die Bühnenerfahrung in mehreren Städten. Ein ganzes Jahr Vorbereitung für dieses Stück, nur um alles zu vergessen. Ich habe dann eine Woche lang geweint“, erinnert sich die heute 25-jährige Aygerim mit einem warmen Lächeln.
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Aygerim hatte ursprünglich nicht geplant Ballerina zu werden, doch als sie acht Jahre alt war, nahm ihre Mutter sie zur rhythmischen Sportgymnastik mit. „Eigentlich war es der unerfüllte Traum meiner Mutter. Sie liebte Akrobatik und wollte immer im Zirkus tanzen“, erzählt sie im gut beleuchteten Raum des Tanzstudios, umgeben von Spiegeln an jeder Wand.
Ballett in Kirgistan
So kam sie Schritt für Schritt doch zum Beruf der Ballerina. Mit kleinen Auftritten und großer Inspiration ging der Lernprozess voran. Als Aygerim elf war, trat sie in die Bischkeker Choreographische Schule ein, die nach dem kirgisisch-sowjetischen Balletttänzer und Volkskünstler der UdSSR Tscholponbek Basarbayev benannt wurde. Die achtjährige Ausbildung schloss Aygerim mit einem Diplom der sekundären Fachausbildung in Ballettkunst ab. Während ihres Studiums hatte sie jedes Jahr die Möglichkeit, auf Tournee in die GUS-Länder zu fahren. In diesem Kontext fand auch der Don Quijote-Auftritt in Almaty statt.
Die professionelle Theaterkunst kam mit der Sowjetunion nach Kirgistan. Im Jahr 1926 wurde das erste Musik- und Schauspielstudio in Frunse (heute Bischkek) gegründet. Das aktuelle Gebäude des kirgisischen Oper- und Balletttheaters stammt aus dem Jahre 1955, wie die Webseite des Theaters beschreibt. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts war das Theater als „Laboratorium der sowjetischen Choreographie“ – so die kirgisische Jugendzeitschrift Limon.kg – besonders aktiv und brachte mit Basarbajew und Bübüsara Beischenalijewa auch einige Ballett-Stars hervor. Lest auch bei Novastan: Umbau der Oper in Bischkek abgeschlossen Auch nach dem Ende der Sowjetunion setzte das Ballett seinen Weg fort, obwohl die verfügbaren Mittel erheblich gekürzt wurden. Das Bischkeker Theater hörte auf zu touren. Und mit der Unabhängigkeit begann eine schwierige Phase für das Theater wie auch für die Kunst im Allgemeinen: Durch die starke Reduzierung der staatlichen Förderung wurden seine Entfaltungsmöglichkeiten und seine Bedeutung in der Gesellschaft eingeschränkt.
Übersee für eine Karriere
„Heute kann man sagen, dass die Theaterkunst einen der letzten Plätze einnimmt“, bemerkt Aygerim mit Traurigkeit in ihren tiefen braunen Augen. Wegen des geringen Gehalts ziehen viele prominente Ballettkünstler weg oder sehen sich „gezwungen, sich an die Marktwirtschaft anzupassen“, wie Aygerim selbst sagt. Bestenfalls können Tänzer an der staatlichen Oper mit 9000 Som (etwa 90 Euro) Gehalt rechnen. Seit der Unabhängigkeit ist der Stellenwert von Kunst im Land zurückgegangen. Das erklärt auch, dass einige besonders talentierte Ballettkünstler ins Ausland ziehen. Eldiyar Daniyarow arbeitet heute, nach Etappen in Kasachstan und Russland, am „Atlantic Ballet of Canada“. Weitere führende kirgisische Tänzer arbeiten am 2012 gegründeten „Astana Ballet“ in Nur-Sultan, wo sie laut Limon.kg mit deutlich höheren Gehältern rechnen können. „Oder auch Talant Osmonow. Er war Ballettmeister an unserem Theater. Als er dort arbeitete, versuchte er, das Repertoire zu erweitern und Neues einzuführen, aber aus Mangel an Unterstützung zog er mit seiner Frau, der Ballerina Gulay Sadybakasowa in die Türkei, um dort an einem Theater zu arbeiten“, erzählt Aygerim.
Ballerina, Mutter, und, und, und…
Heute ist Aygerim nicht nur Ballerina, Ehefrau und Mutter, sondern gibt auch Unterricht in privaten Studios, arbeitet im Büro der Firma ihrer Schwiegereltern und absolviert ein Zweitstudium an der Bischkeker Finanz- und Wirtschaftsakademie. „Wegen der Pandemie ist der Kindergarten unserer Tochter Akylai geschlossen, deshalb muss sie immer bei mir sein. Und ich habe einen sehr vollen Zeitplan, von 8:00 bis 12:00 Uhr die Morgengruppen und dann Arbeit im Büro. Während Akylai schläft, überprüfe ich die Berichte online und dann gehen wir zu den Abendkursen.“ Auf der Bühne bevorzugt Aygerim das traditionelle Ballett gegenüber dem zeitgenössischen Tanz. Als sie noch unverheiratet war, unterrichtete sie auch Körperballett. Heute beschränkt sie sich aus Zeitgründen auf Stretching, denn dabei muss man keinen Tanz vorbereiten wie bei modernem Ballett. „Aber soweit ich mich erinnere,habe ich immer gerne Tänze inszeniert. Ich habe Tänze für mich und andere Schüler choreografiert und fand große Freude daran“, beteuert sie. Lest auch bei Novastan: Stangentänzerin in Kirgistan – “Mein Leben ist Leidenschaft fürs Tanzen” Auch beklagt Aygerim den Mangel an männlichen Balletttänzern in Kirgistan. Während Ballerinas im Land eher positiv angesehen werden, ist es für Ballerinos deutlich schwieriger: Viele Menschen akzeptieren sie nicht, halten den Beruf für ausschließlich weiblich, und lachen über ihre Strumpfhosen. So melden Eltern ihre Söhne nur sehr selten bei Ballettkursen an.
„Die Kunst stirbt nie“
Das hat auch Auswirkungen auf die Aufführungen: In Zentralasien tanzen im Ballett hauptsächlich junge Frauen. „Wenn die Leute wüssten, wie viel Kraft Ballett von Männern fordert, würden sie nicht lachen und würden diesen Beruf nicht nur als „mädchenhaft“ sehen“, meint Aygerim. So wiegt der durchschnittliche Tänzer 70 Kilo und kann eine 45 Kilo-schwere Partnerin auf einer ausgestreckten Hand hochheben. „Heute sind wir noch nicht reif genug, das kulturell und mental zu verstehen. Aber ich glaube, das kann sich ändern“, fügt sie hinzu.
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Trotz allem glaubt Aygerim, dass Ballett sehr gute Perspektiven in Kirgistan haben kann. Zwar stagniert es zur Zeit, weil sich das Repertoire seit der Sowjetunion nicht geändert hat. Mit der Leitung eines jungen, dynamischen Ballettmeisters wie seinerzeit Talant Osmonow könnte es sich jedoch schnell wieder entwickeln. „Es ist manchmal schwer zu glauben, dass sich in unserem Land etwas für die Kunst verändert, doch Ballett ist eine Kunst, und die Kunst stirbt nie. Sie wird jederzeit aktuell sein“, beteuert Aygerim. Sie verfolgt weiter ihren Traum, Choreographin zu werden. Auch würde sie gerne zeitgenössischere Stile tanzen, was aber bei einem seit Jahren stagnierenden Repertoire quasi unmöglich erscheint. So überlegt sich auch Aygerim, ihr Glück an einem anderen Ort zu suchen: „Ich denke oft darüber nach, in ein anderes Land zu ziehen, um mich im Beruf zu verwirklichen.“
Sezim Arynova Journalistin für Novastan.org in Bischkek
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