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Vom Außenposten zu Nur-Sultan: Die Hauptstadt Kasachstans im Wandel der Zeit

So wechselhaft wie die Namensgebung der heutigen kasachstanischen Hauptstadt Nur-Sultan ist auch seine Geschichte. Innerhalb von nicht einmal 200 Jahren entwickelte sie sich von einem Dorf zur Hauptstadt des Landes mit mehr als einer Millionen Einwohner:innen. Einige Überbleibsel aus alten Zeiten sind auch heute noch sichtbar. Die kasachstanische Hauptstadt aus den Augen der gebürtigen Zelinograderin Irina Sevostyanova mit Fotos von Gerard Stavrianidi. Der folgende Artikel erschien am 6. Juli 2021 auf Informburo.kz. Wir übersetzen ihn mit freundlicher Genehmigung der Redaktion. Die Fotos der Reportage sind aus bildrechtlichen Gründen im Originalartikel einzusehen.

So wechselhaft wie die Namensgebung der heutigen kasachstanischen Hauptstadt Nur-Sultan ist auch seine Geschichte. Innerhalb von nicht einmal 200 Jahren entwickelte sie sich von einem Dorf zur Hauptstadt des Landes mit mehr als einer Millionen Einwohner:innen. Einige Überbleibsel aus alten Zeiten sind auch heute noch sichtbar. Die kasachstanische Hauptstadt aus den Augen der gebürtigen Zelinograderin Irina Sevostyanova mit Fotos von Gerard Stavrianidi. Der folgende Artikel erschien am 6. Juli 2021 auf Informburo.kz. Wir übersetzen ihn mit freundlicher Genehmigung der Redaktion. Die Fotos der Reportage sind aus bildrechtlichen Gründen im Originalartikel einzusehen.

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Anfang des 19. Jahrhunderts hätten sich die Bewohner:innen des kasachstanischen Kosaken-Außenpostens am Fluss Ischim nicht einmal in ihren kühnsten Träumen ausgemalt, dass ihre kleine Siedlung in weniger als zwei Jahrhunderten die Hauptstadt eines unabhängigen Staates mit einer Bevölkerung von rund einer Millionen Menschen sein und innerhalb von 30 Jahren vier Mal den Namen wechseln würde. In der Steppe ist eine neue Stadt herangewachsen mit modernen Gebäuden, die mit ihrer außergewöhnlichen Architektur ausländische Besucher:innen anziehen. Aber wenn man genau hinsieht, kann man noch Spuren davon finden, wie die Stadt vor 200 Jahren aussah.

Das alte Akmolinsk

Die Erinnerungen an den Kosaken-Außenposten waren in der Stadt Akmolinsk schon verschwunden. Das kleine Dorf mit rund 2000 Einwohner:innen wurde in der zweiten Hälfte des 19.Jahrhunderts offiziell zur Stadt. Von den ehemals hölzernen Bauwerken dieser Zeit ist in der Stadt schon lange keine Spur mehr übriggeblieben. Wenn man genauer hinsieht, erkennt man, dass sich unter den grünen Bäumen an der Kreuzung von Republik- und Abay-Prospekt eine alte steinerne Mauer versteckt, das Einzige, was von der Grünen Moschee überlebt hat, die hier seit der vorletzten Jahrhundertwende stand.

Den Bau der Moschee hatte einer der reichsten Einwohner Akmolinsks finanziert – der Kaufmann Nurmuhamed Zabirov. Die ursprüngliche Holzkonstruktion brannte jedoch nieder und Anfang des 20. Jahrhunderts bauten die Gläubigen eine neue, steinerne Moschee. In den 1930er Jahren wurde das Gebäude dann von den Machthabenden beschlagnahmt. Anfänglich wurde die Moschee nur leicht umgebaut und den Pionieren zur Nutzung übergeben. In den 50er Jahren wurde dann jedoch an dieser Stelle ein dreistöckiges Wohnhaus für die Nomenklatura der Partei errichtet. Im späteren Zelinograd war dieses Gebäude eines der begehrtesten Wohnobjekte. Viele seiner Bewohner:innen ahnten nicht, dass der schöne Torbogen im Zaun ein Überbleibsel der Grünen Moschee war. Inzwischen werden die Überreste restauriert, um ihr ursprüngliches Aussehen wiederherzustellen.

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Eines der ältesten Gebäude der Stadt ist das Haus des Dichters und Schriftstellers Säken Seifullin, welches heute ein Museum ist. Allerdings wohnte Seifullin nicht in dem Haus, sondern arbeitete dort. Das Haus wurde 1846 von einem Kaufmann erbaut, beherbergte während der Zeit der Sowjetunion einen Kindergarten und wurde 1988 nach der posthumen Rehabilitation Seifullins in ein Museum umgewandelt. Das bekannteste historische Gebäude der Stadt ist jedoch das zwischen 1905 und 1907 erbaute Kaufmannshaus des Händlers Kubrin. Genau wie damals, befindet sich auch heute in dem Gebäude ein Geschäft, mit Namen „Astana“.

Die Kaufmannsdynastie Kubrin spielte in der Geschichte der Stadt eine wichtige Rolle. Die Kubrin-Familie, Nachkommen des Dynastiegründers Konstantin Kubrin, baute Handelshäuser und eine Brauerei, unterstützte Lehrer in Akmolinsk, finanzierte die Bibliothek und die Feuerwehr. Der Enkel des Dynastiegründers, Stepan Kubrin, baute das erste Krankenhaus der Stadt, das bis heute existiert. Während der Sowjetunion war dort eine onkologische Beratungsstelle untergebraucht, heute ein Zentrum für Kommunikationssatelliten. Dank des Mäzenatentums der Kaufmannsfamilie Kubrin entstand ab 1899 in der Stadt ein Theater, das heutige staatliche Gorki-Theater. Eine der bekanntesten Legenden der Stadt ist mit einem Enkel des Dynastiegründers verbunden. Demnach verliebte sich Wassili in eine Ballerina (oder Schauspielerin, laut einer anderen Version) des Mariinski-Theaters. Die stolze Schönheit stellte dem Bräutigam aus der Provinz angeblich die Bedingung, für sie eine Villa „nach Petersburger Beispiel“ zu bauen. Der verliebte Kaufmann erfüllte die Bedingung und die Ballerina zog zu ihm nach Akmolinsk. Die Villa ist bis heute erhalten geblieben. Die Legende besagt, dass von der Villa ein unterirdischer Gang direkt zum Kaufmannshaus der Kubrins führt. Laut einer anderen Version diente der Tunnel dem Kaufmann, um unbemerkt seine Geliebte aufzusuchen, wobei diese Version vermutlich nicht der Wahrheit entspricht. Einen unterirdischen Gang gibt es tatsächlich, allerdings ist dieser seit langem geschlossen.

Herzlich Willkommen in Zelinograd!

Ab 1961 schlug Akmolinsk einen neuen Kurs ein. Damals wurde die Stadt in Zelinograd umbenannt und zum Zentrum der Erschließung von Neuland. Aus der ganzen Sowjetunion kamen Menschen nach Zelinograd, um das Neuland nutzbar zu machen und zu bewirtschaften. Die Kasachstanische SSR spielte eine wichtige Rolle dabei, die Kornkammer der Sowjetunion mit Getreide zu füllen, und in Zelinograd begann der Bau von Fabriken. Die beiden größten der Republik, „Tselinselmash“ und „Kasakhselmash“ befanden sich in Zelinograd. Gerade zur rechten Zeit begann der Bau der „Chruschtschowkas“, für damalige Standards komfortable und kompakte Wohngebäude für die sowjetischen Arbeiter:innen. Wie in fast allen post-sowjetischen Städten machen diese den größten Teil der Gebäude am alten, rechtsseitigen Ufer der heutigen Hauptstadt aus. Heute sollen sie im Rahmen von Erneuerungsprogrammen abgerissen werden, aber wann, ist noch unklar. Zwei Gebäude an der zentralen Straße der Stadt, dem Republik-Prospekt, waren der Stolz Zelinograds. An der Kreuzung mit der Seifullin-Straße steht ein mehrstöckiges Haus in Form eines abgeschnittenen Buchstaben „Г“ (kyrillischer Buchstabe „G“, Anm. d. Ü.). Viele Jahre befand sich hier das Warenhaus „Solnechny“, wo man selten verfügbare Produkte kaufen konnte. Ein Geschäft gibt es hier bis heute, allerdings gehört es einer der großen Handelsketten an und das Haus selbst hat ebenfalls seit langem sein Prestige verloren.

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Eine Straßenkreuzung weiter befand sich in einem baugleichen Haus der größte Bücherhandel der Stadt. Heute beherbergt es die Filialen großer Banken und ein Kaufhaus. Nach Zelinograder Standards waren diese Häuser im teuren Preissegment. Die alten Höfe werden durch den Bau moderner Hochhäuser aktiv nachverdichtet. Aber es gibt Orte, an denen die naive Gemütlichkeit durch die Hände der Anwohner:innen erhalten geblieben ist. Und so wachsen im Vorgarten Blumen. Ein alter Taubenschlag befindet sich wie ein Gruß aus der Vergangenheit im Hof des ehemals großen Kaufhauses „Jubileiny“, umgeben von alten „Pjatietashkis“ und neuen Hochhäusern. Vor mehr als 30 Jahren wurde es von einem Anwohner gebaut. Früher fanden sich solche Taubenschläge in vielen Innenhöfen.

Über Akmola zu Astana

Schon 1992 änderte sich der Name von Zelinograd erneut, zu Akmola. Die schweren 1990er Jahre haben sich bei den Menschen auf unterschiedliche Art eingeprägt. Manche erinnern sich an das langsame Sterben der Fabriken (wie unter anderem „Tselinselmash“ und „Kasakhselmash“) und der Öfen mit ihren Schornsteinen, die aus den Fenstern der „Pjatietashkis“ ragten, weil es keine Heizung gab. Andere wiederum erinnern sich an eine Blütezeit der Zusammenarbeit und der Wirtschaft. Akmola hätte eine einfache Provinzstadt bleiben können, wie es sie zu Tausenden auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion gab. Aber 1998 zog die Hauptstadt Kasachstans vom damaligen Alma-Ata nach Akmola und die Stadt erhielt nochmals einen neuen Namen – Astana.

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Zum Zeitpunkt des Umzugs der Hauptstadt waren die neuen Gebäude noch nicht erbaut und allen übersiedelten staatlichen Einrichtungen blieb nichts anderes übrig, als sich in den bereits vorhandenen niederzulassen. Am Alten Platz siedelten sich zwei der Staatsgewalten an: das Parlament bekam das Gebäude des staatlichen Planungsinstituts „Tselingiprosselchos“ (heute befindet sich dort die Agentur sowie die Akademie für den öffentlichen Dienst); die Regierung bezog das ehemalige „Haus der Sowjets“. Daneben wurde noch ein weiteres Gebäude errichtet, das als offizielle Residenz des Präsidenten diente. Im inzwischen ehemaligen Regierungsgebäude befindet sich heute das Akimat (regionales Exekutivorgan, Anm. d. Ü.) der Hauptstadt und in der ersten Residenz des Präsidenten das Museum des ersten Präsidenten Kasachstans, Nasarbajew. Wenige Schritte vom Alten Platz entfernt ist das Gebäude des Obersten Gerichtshofes gelegen, wo die öffentlich viel beachteten Prozesse gegen den Ex-Premierminister Akeschan Kaschygeldin und den ehemaligen Bankier Muchtar Abljasow stattfanden.

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An die ersten Jahre nach dem Umzug der Hauptstadt erinnern sich viele gerne zurück, aber mit unterschiedlichen Eindrücken. Die Beamt:innen, die aus der heißen Hauptstadt im Süden umgezogen waren, erinnern sich an bittere Kälte, dreckige und kaputte Straßen und die Kälte in den Wohnungen. Bei den Anwohner:innen hingegen blieb die Erinnerung an das schlechte Verhalten der „Zugereisten“ und den Unwillen, „örtliche Kader“ einzustellen. Nach einigen Jahren hatten alle dies vergessen. Die Bewohner:innen Almatys haben gelernt, die Stadt in das ihnen vertraute „Oben“ und „Unten“ zu unterteilen, während die Einwohner:innen Zelinograds und Akmolas erfolgreich in den neuen Strukturen der jungen Hauptstadt arbeiten.

Aufstieg in Astana

Mit dem Umzug der Hauptstadt begann auch eine aktive Bauphase. In den ersten zwei Jahren wurden die Gebäude der Administration von Grund auf saniert, Wohngebäude für Staatsbedienstete errichtet und eine Begrünung der Straßen begonnen. Bereits 1999 waren das neue Wohngebiet Samal, das Diplomatenviertel sowie die Gebäude des Finanzministeriums und der Sportpalast „Kasachstan“ fertiggestellt. Am linken Flussufer begann der Bau der neuen Stadt. 2001 wurde ein Masterplan genehmigt, den der berühmte japanische Architekt Kisho Kurokawa ausgearbeitet hatte. Es begann das größte Bauvorhaben Kasachstans. So wurden neue Gebäude für staatliche Organe, Wohnkomplexe und Denkmäler errichtet. Unter diesen ist beispielsweise auch der Bajterek-Turm, der nicht nur zu einem Symbol für die Stadt, sondern des ganzen Landes wurde. Als erstes Staatsorgan bezog das Verteidigungsministerium ein neues Gebäude auf der linken Uferseite. Heute ist es nur schwer vorstellbar, dass hier vor gerade einmal 20 Jahren alte Landsitze und Steppe waren.

Von Astana zu Nur-Sultan

Im März 2019 wurde die Hauptstadt auf Vorschlag des zweiten Präsidenten, Qasym-Jomart Tokaev, in Nur-Sultan umbenannt. Unter dem neuen Namen setzte sich die Entwicklung der Stadt vor. An dem Masterplan werden Korrekturen vorgenommen, da die Bevölkerung der Stadt wächst. So entstehen neue Parks und Plätze, im alten Teil der Stadt auf der rechten Uferseite gibt es neue Kindergärten und Sportplätze. Außerdem wurden Fahrradwege und die Fußgängerzone „Arbat“ gebaut, in der am Wochenende Kunsthandwerk verkauft wird und Straßenmusiker und Artisten bestaunt werden können. Und die Bevölkerung unterteilt sich zunehmend weniger in „Zugereiste“ und „Einheimische“ und zieht für sich die Bezeichnung „Astaner:innen“ vor.

Fotoreportage von Gerard Stavrianidi und Text von Irina Sevostyanova für Informburo.kz

Aus dem Russischen von Marie Schliesser

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