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Über Politik im Islam und integrative Interpretationen heiliger Texte

Die Debatte über den radikalen Islamismus tobt weltweit. Die einen meinen, der Islam sei schon immer eine „Religion des Schwertes“ gewesen, andere sagen, er trage den Wert des Friedens in sich und fundamentalistische Gruppen stellten seine wahre Bedeutung verzerrt dar. In solchen Debatten werden oft die sozialen Faktoren übersehen, die jede religiöse Auslegung mit beeinflussen.

Galym Zhussipbek, Foto: oxussociety.org

Die Debatte über den radikalen Islamismus tobt weltweit. Die einen meinen, der Islam sei schon immer eine „Religion des Schwertes“ gewesen, andere sagen, er trage den Wert des Friedens in sich und fundamentalistische Gruppen stellten seine wahre Bedeutung verzerrt dar. In solchen Debatten werden oft die sozialen Faktoren übersehen, die jede religiöse Auslegung mit beeinflussen.

Masa.media hat mit dem Sozialwissenschaftler Galym Zhussipbek gesprochen, der die Beziehung zwischen dem Islam und dem Konzept der Menschenrechte untersucht. Er beantwortet unter anderem die Fragen: Welchen Einfluss hat die Gesellschaft auf die Religion? Ist ein islamischer Radikalismus in Kasachstan zu befürchten oder kann der Islam die Universalität der Menschenrechte akzeptieren?

Zum Verhältnis von Religion und Gesellschaft

Jede Religion, auch der Islam, ist ein sozial konstruiertes Phänomen. Religionen sind das Resultat einer jahrzehntelangen und jahrhundertelangen historischen Entwicklung sowie ihres sozialen Kontextes.

Was heute in der muslimischen Welt vorherrscht, ist bis zu einem gewissen Grad ein Spiegelbild der muslimischen Gesellschaften. Afghanistan dient hierzu als konkretes Beispiel. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war Afghanistan ein ganz anderes Land. Zu dieser Zeit lebte dort ein bekannter muslimischer Gelehrter und Reformer. Er stammte aus Russland und hieß Musa Jarullah Bigiev. Er formulierte die Theorie der Allumfassenden Göttlichen Gnade. Dabei handelt es sich um ein islamisches Konzept, nach dem alle, die an einen Schöpfer glauben, in das Paradies kommen werden, also Gläubige aller abrahamitischen Religionen. 

Musa Bigiev war einer der prominentesten islamischen Reformer, der sich für die Gleichstellung der Geschlechter einsetzte. Er war einer der Organisatoren des Allrussischen Muslimischen Kongresses, bei denen Geschlechterfragen hohe Relevanz genossen und auf der Tagesordnung Platz fanden.

Kurz nach der Machtübernahme der Bolschewiken in Russland begann Musa Bigievs Verfolgung. Er war ein Flüchtling, ein Mann ohne Pass, dem der afghanische Emir Asyl gewährte. Vor 100 Jahren hat also Afghanistan als Land und Gesellschaft, einem islamischen Reformer einen Pass gegeben. Heute haben die Taliban die Macht in Afghanistan inne. Sehen Sie, wie sehr sich eine Gesellschaft verändern kann? Keine Religion kann von den sozioökonomischen und politischen Prozessen in ihrem Umfeld losgelöst werden. 

Der islamische Rationalismus und die Unterschiede zu konservativen Strömungen

Die religiösen Lehren, die wir heute haben, sind sehr vielfältig. Auch der Islam ist vielfältig. Es gibt nicht nur viele Richtungen, sondern auch viele Epistemologien, d.h. verschiedene Erkenntnismethoden.

Ursprünglich hatte der Islam eine rationalistische Auslegungstradition. Das war die erste Periode der Entstehung der islamischen Wissenschaften – damals stand die Vernunft fast an erster Stelle. Diese Epoche wird häufig als „Östliche Renaissance“ bezeichnet. Sie ist gekennzeichnet durch Pluralismus in den muslimischen Gesellschaften, einer Vielzahl von Übersetzungen antiker und altindischer Literatur sowie einem wachsenden Interesse an Wissenschaften. 

Diese Tradition der rationalen Interpretation ging einher mit dem ethischen Objektivismus. Nach diesem Konzept sind ethische und moralische Haltungen objektiv in dem Sinne, dass sie mit der Vernunft und ohne göttliche Offenbarung verstanden werden können. Zum Beispiel verstehen wir mit unserer eigenen Vernunft, dass es falsch ist, einen Menschen zu töten. Kein vernünftiger Mensch würde unter normalen Umständen einfach losgehen und jemanden töten. Dieses Prinzip des ethischen Objektivismus wurde in den islamischen Rationalismus (arabisch: Ahl al-Ra’y, wörtlich: „Leute des Urteils, der vernünftigen Meinung“) integriert. 

Übrigens war auch die hanafitische-Rechtsschule, eine traditionelle Strömung der zentralasiatischen Muslime, ursprünglich Ahl al-Ra‘y. Ihr Gründer, Abu Hanifa, war ein Rationalist. Heutzutage haben viele Muslime vergessen, dass Rationalismus und ethischer Objektivismus zusammengehören, dass sie zwei Teile ein und desselben Ganzen sind. Die Rationalisten betrachteten die Vernunft als Gabe Gottes, die es dem Menschen ermöglicht, auch ohne göttliche Offenbarungen, den Koran und die früheren Schriften, als eine moralische  Richtlinie für das eigene Leben zu nutzen. 

Parallel dazu entwickelte sich jedoch eine andere Schule, die heute fast in der gesamten sunnitisch-islamischen Welt vorherrscht. Es handelt sich um die ascharitische Schule, die aschʿarīya. Sie wird gewöhnlich als eine rationalistische Schule dargestellt, aber das ist nicht ganz richtig, denn die aschʿarīya akzeptiert keinen ethischen Objektivismus. Stattdessen gibt es das Prinzip des ethischen Voluntarismus. Dieser ist in vielerlei Hinsicht das Gegenteil des Objektivismus und geht davon aus, dass die Vernunft nicht in der Lage ist, Gut und Böse zu erkennen. Dazu bedarf es der göttlichen Offenbarung.

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Es gibt sogar eine radikal-ascharitische Auffassung, nach der Islam und Demokratie unvereinbar sind, da der Koran keine Erwähnung des Begriffs Demokratie enthält. Einige explizite Elemente der Demokratie, die im Koran enthalten sind, werden von Anhängern der radikal-ascharitischen Auffassung dabei ignoriert. Zum Beispiel, dass wir uns bei allem, was wir tun, beraten sollen, was auf eine Gewaltenteilung hindeutet.

Es gibt noch eine andere Schule, die in diesen Fragen viel extremer ist – die Ahl al-Hadith (wörtlich aus dem Arabischen: „Leute/Anhänger der Tradition“). Sie legte den Grundstein für den modernen Salafismus (eine fundamentalistische Strömung des Islam, die manchmal Teil radikaler dschihadistischer Bewegungen ist, aber auch gemäßigt sein kann).

Die islamische Geschichte ist ein beständiger Kampf zwischen diesen Strömungen. Bedauerlicherweise wurde die traditionelle islamische Wissenschaft in den vergangenen Jahrhunderten von ascharitischen und mitunter salafistischen Ansätzen dominiert. Der islamische Rationalismus wurde an den Rand gedrängt. 

Zur Frage, warum sich die Bedeutung islamischer Vorschriften im Laufe der Zeit ändern kann

Es besteht ein besonderes Problem mit den konservativen islamischen Wissenschaften, insbesondere mit der Hadithwissenschaft. Hadithe sind Aussagen, die dem Propheten Muhammad zugeschrieben werden.  Aus bestimmten historischen und theologischen Gründen wurde nicht die Authentizität der Bedeutung, sondern die Authentizität des Überlieferers zum wichtigsten Faktor bei der Anerkennung des einen oder anderen Hadith. Und das ist heute eine Sackgasse für die konservative islamische Gelehrsamkeit. Ein ganzer Zweig der islamischen Wissenschaft beschäftigt sich mit der Frage, wer einen bestimmten Ausspruch des Propheten überliefert hat. Ein Überlieferer kann etwas metaphorisch ausdrücken, kann etwas vergessen, und so kann sich die Bedeutung der Hadithe nach vielen Generationen ändern.

Über den Umgang islamischer Rationalisten mit autoritärer Herrschaft

Die Konzentration auf die Glaubwürdigkeit der Bedeutung ist ein charakteristisches Merkmal für rationalistischen Islam. Allerdings hat er seine ursprüngliche Position als „Nummer eins“ unter den Traditionen verloren. Hierbei darf der politische Faktor nicht außer Acht gelassen werden. Der islamische Rationalismus war für die herrschenden Dynastien aufgrund seiner starken Ausrichtung auf die Gerechtigkeit nicht vorteilhaft. Die islamischen Rationalisten haben es sogar so ausgedrückt: „Der Staat braucht weder Islam noch Glaube, er braucht Gerechtigkeit“. Man könnte sagen, dass dies ein modernes demokratisches Prinzip ist, das vor 1200 Jahren entwickelt wurde. Für die damalige Zeit war das ein sehr revolutionäres Prinzip. 

Der islamische Rationalist Abu Mansur al-Maturidi trug seinen Schülern auf, ihn weit entfernt vom Palast zu begraben, damit er auch im Jenseits von autoritären Herrschern ferngehalten werde. Er hat eine sehr interessante Fatwa (ein Rechtsgutachten, das von einer muslimischen Autorität auf Anfrage gegeben wird und die Übereinstimmung bestimmter Entscheidungen und Handlungen mit den Normen des Islams überprüft), in der er sagt, dass ein muslimischer Gelehrter seinen Glauben verliert, wenn er sagt, dass ein despotischer Herrscher gerecht ist. 

Innerhalb der islamischen Rationalisten findet sich die folgende Interpretation: „Frömmigkeit und Glaube sind subjektiv, Gerechtigkeit ist objektiv“. Als Beispiel wird der islamische Herrscher Haddschādsch angeführt. Er war ein sehr frommer Mann, betete die ganze Nacht und baute viele Moscheen. Aber gleichzeitig ließ er Tausende von Menschen hinrichten, töten und foltern. In der islamischen Geschichte wurde er als Haddschādsch Zalim bezeichnet, was so viel bedeutet wie „Haddschādsch der Unterdrücker“.

Die islamischen Rationalisten betrachteten die Gerechtigkeit als objektiv, da Gerechtigkeit durch Taten beurteilt werden konnte, während der Glaube etwas sei, das nur zwischen einer Person und Gott existieren würde. Sie glaubten, dass sogar der Teufel den Haddsch machen und fasten könne, aber was in der Seele des Menschen sei, wisse nur Gott. Der ascharitische und noch mehr der salafistische Ansatz sind sehr stark vom Ritualismus durchdrungen. Und die Tragödie der islamischen Welt besteht darin, dass die allererste Auslegungstradition des Islam ihre Position verloren hat, wobei politische Faktoren eine wichtige Rolle gespielt haben. 

Über islamisches Recht und Politik im Koran

Der Prophet Muhammad wird im Allgemeinen sowohl als religiöser als auch als politischer Führer und sogar als Herrscher angesehen. Es gibt jedoch auch eine andere Ansicht, die dies für übertrieben hält. Und warum? Erstens sagte er, er sei ein „Prophet-Sklave Gottes“ und lehnte es ab, als „Prophet-Herrscher“ bezeichnet zu werden. Zweitens konnte die Stadt Medina zur Zeit des Propheten Muhammad kaum als Staat bezeichnet werden. Zudem war es eine pluralistische Stadt, in der die Muslime mit etwa einem Fünftel der Bevölkerung in der Minderheit waren. Aus diesem Grund wurde die erste muslimische Gemeinde gemeinsam mit den Juden gegründet – das ist heute in Vergessenheit geraten, viele Muslime kennen diesen Teil der Geschichte nicht.

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Auch der Begriff Ummah, der heute für Mitgläubige verwendet wird, bezog sich ursprünglich auf Juden und Muslime, die sich gegen die Götzendiener in Medina zusammenschlossen.

Medina war eine Gemeinschaft, kein Staat – es gab keine Grenzen, kein Gericht, kein klares Steuersystem. Das Dokument, das einige muslimische Gelehrte als Verfassung darstellen, war keine Verfassung – es war ein Vertrag zwischen jüdischen Stämmen und Muslimen. 

Generell steht im Koran auch nichts über ein politisches System. Lediglich einige Prinzipien – Gerechtigkeit und Beratung – werden beschrieben.

Das Phänomen des islamischen Rechts entstand mit der Expansion der ersten muslimischen Länder. Wichtig ist, dass einige Elemente des islamischen Rechts, insbesondere jene, die sich auf die Verwaltung des Staates beziehen, aus dem Byzantinischen Reich und des Persischen Reichs übernommen wurden. Es fand also ein kultureller Austausch statt und somit gibt es kein „reines“ islamisches Staatsmodell. Das Kalifat war eine Synthese verschiedener Kulturen. Und die Hadithe, die zur Rechtfertigung bestimmter Politiken herangezogen werden, sind sehr ambivalent, sie enthalten keine konkreten Aussagen.

Über den Islamismus, seine Entstehung und seine historischen Wurzeln

Islamismus, oder politischer Islam, ist die Instrumentalisierung des Islam für politische Zwecke. Das ist eine mehr oder weniger kurze Erklärung, über die es in den Sozialwissenschaften keinen Konsens gibt. Da das gesellschaftliche Leben immer komplexer und komplizierter wird, ist eine Definition notwendig. 

Es ist wichtig festzuhalten, dass Islamismus ein Phänomen der Moderne ist (eine historische Periode, die mit dem 19. Jahrhundert beginnt und in der die wichtigsten Merkmale der modernen Gesellschaft entstanden sind). Er wurde zu einer Antwort muslimischer Aktivisten und muslimischer Gemeinschaften auf die Herausforderungen des modernen Staates – und in erster Linie eine Antwort auf die Kolonialpolitik der europäischen Länder. Der politische Islam wurde zu einem Element des antikolonialen Kampfes. In diesem Sinne war er oft von einem befreienden und egalitären Geist geprägt (Egalitarismus ist die Idee der Gleichheit in verschiedenen Bereichen der Gesellschaft). 

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Einige Wissenschaftler sind der Ansicht, dass der politische Islam tief in der Geschichte verwurzelt ist und seine Vorläufer bereits im ersten Jahrhundert des Islam existierten. Aber der Begriff „Islamismus“, und das Phänomen in seiner modernen Form selbst, existierten nicht, es gab keine modernen Staaten mit klaren Grenzen und anderen charakteristischen Elementen. 

Man kann sagen, dass die Vorläufer des politischen Islam den Muslimen selbst großen Schaden zugefügt haben, was sich in internen teils blutigen Kriegen zwischen verschiedenen Gruppen von Muslimen manifestierte. Die ersten dieser internen Kriege begannen einige Jahrzehnte nach dem Tod des Propheten Muhammad zwischen der ersten Generation seiner Gefährten, den Sahaba. Interessanterweise ist die Zahl der Opfer in diesen Auseinandersetzungen zehn- bis hundertmal höher als in den Konflikten mit den Götzendienern. 

Deswegen behaupten viele – nicht nur Islamophobe, sondern auch Muslime selbst -, der Islam sei eine Religion des Schwertes und der Prophet Mohammed sei ein Prophet des Krieges gewesen, aber interessanterweise stützt die Statistik diese These nicht. Gemäß islamischen Angaben erstreckte sich die Zeit des Propheten über einen Zeitraum von 23 Jahren, was etwa 8.000 Tagen entspricht. Von diesen 8.000 Tagen verbrachte der Prophet Muhammad nur 13 Stunden in Kämpfen obwohl die erste muslimische Gemeinschaft von Feinden umgeben war, die diese vernichten wollten. Und keine glaubwürdige Quelle bestätigt, dass der Prophet Muhammad selbst jemanden getötet hat. Selbst wenn man die Vorbereitungen und das Zusammenziehen der Truppen mitrechnet, dauerte der Kampf nur drei von 8000 Tagen.

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Heutzutage ist der politische Islam in vielen mehrheitlich muslimischen Ländern ein Instrument des Autoritarismus, er wird als Mittel des Kampfes zwischen einer Gruppe von Muslimen gegen andere eingesetzt. Im schiitisch dominierten Iran zum Beispiel setzen die Behörden ihre Version des politischen Islam gegen die sunnitische Minderheit ein.

Viele Islamwissenschaftler weisen darauf hin, dass alle Schulen, die es heute in der islamischen Welt gibt, aus dem politischen Kampf der Dynastien hervorgegangen sind.

Wenn eine Dynastie an die Macht kam, suchte sie sich Gelehrte und Interpreten, die ihr politisches Regime und ihre Version des Islam legitimierten. Das auffälligste Beispiel aus der Neuzeit ist die Koalition zwischen der saudischen Dynastie und der wahhabitischen Strömung des Islam. Vom 8. bis zum 13. Jahrhundert war dies in der islamischen Welt eine weit verbreitete Praxis.

Entstehung und Radikalisierung der Hamas

In den palästinensischen Gebieten lässt sich eine starke Radikalisierung des politischen Islam beobachten, die auf die gesellschaftliche Situation zurückzuführen ist. Die Religion passt sich den Anforderungen der Gesellschaft an.

In den 1930er Jahren hätte es zum Beispiel die Hamas nicht geben können, weil es keinen Staat Israel gab. Dasselbe gilt für die 1960er Jahre. Warum konnte die Hamas damals nicht entstehen? Damals war der palästinensische Widerstand säkularisiert und basierte weitgehend auf sozialistischen Ideen. Das war der allgemeine Geist in der arabischen Welt, fast alle arabischen Führer waren sozialistisch orientiert. Auch Jassir Arafat, der damalige Führer des palästinensischen Widerstands, war Sozialist.

Der Nahe Osten war säkularer, er existierte in einer anderen Form. Wenn wir heute sehen, was im Iran passiert oder was die Hamas macht, denken wir, das war schon immer so. Aber das ist ein großer Irrtum.

Mit dem gesellschaftlichen Wandel verändern sich auch die religiösen Präferenzen der Menschen. Die Hamas entstand Ende der 1980er Jahre. Zu dieser Zeit erlebte die Welt den Zusammenbruch des sozialistischen Blocks, den Niedergang der atheistischen Politik der Sowjetunion und einen Prozess der religiösen Wiederbelebung. Diese war in der arabischen Welt sehr deutlich zu spüren. Zum Beispiel ging Jassir Arafat, der säkulare Ansichten vertrat, in die Moschee und kleidete sich wie ein muslimischer Rechtsgelehrter. Aus diesen religiösen Wiederbelebungen heraus entstand auch die Hamas.

Dabei war die Hamas nicht von Anfang an radikal – sie wurde zum Teil von Israel gestärkt, um Arafats Palästinensische Nationale Befreiungsbewegung (Fatah) zu schwächen. Die Fatah war damals Israels Hauptgegner und  so galt etwas wie: der Feind meines Feindes ist mein Freund.

Die Hamas hat sich zu einer starken politischen Kraft entwickelt und ist inzwischen zu einem Quasi-Staat geworden. Es gibt sogar Krankenhäuser, die dank der Hamas eröffnet wurden und funktionieren. Wir wissen, dass es in Gaza keinen Staat als Institution gibt und dass viele der staatlichen Aufgaben von der Hamas übernommen werden. Allerdings hat die Hamas auch einen radikalen militanten Flügel, der terroristische Kampfmethoden anwendet. Dies ist eine Tatsache, die nicht geleugnet werden kann. Die Angriffe der Hamas im vergangenen Oktober stellen Kriegsverbrechen dar, die in keiner Weise zu rechtfertigen sind.

Aber warum hat sich die Hamas in diese Richtung entwickelt? Der Grund ist die Stimmung in der Gesellschaft unter der Besatzung. Wir wissen, dass Gaza das größte Gefängnis unter freiem Himmel ist. Diese Menschen haben seit Generationen kein Recht auf Selbstbestimmung und sie sehen sich ständiger Bedrohung ausgesetzt. Vor allem haben die Menschen in Gaza das Gefühl, dass ihre Ehre und ihre Menschenwürde systematisch herabgesetzt werden.

Zum Verhältnis von Islam zur Demokratie

Es gibt eine Vielzahl muslimischer Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, die sich für ähnliche Positionen, wie z.B. die Verfechter der säkularen Menschenrechte, starkmachen. Bedauerlicherweise leben sie zumeist in demokratischen Ländern.

Hier ist es sehr wichtig, den gesellschaftlichen Einfluss zu sehen. Khaled Abou El-Fadl zum Beispiel, ein kuwaitisch-amerikanischer muslimischer Aktivist, hätte in Kuwait kaum predigen und forschen können. Heute lebt er in Kalifornien und ist Professor an der UC Berkeley. Er leitet eine Moschee und predigt dieselben Werte, die in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte enthalten sind. Das wirft die Frage auf: Was ist wichtiger – der Habitus der Gesellschaft (politischer, sozialer Kontext) oder die Religion? In der Tat sind beide Faktoren sehr wichtig. Ein anderes Beispiel: in Russland gibt es sehr progressive islamische Persönlichkeiten wie z.B. Taufik Ibragim. Seine Ansichten sind progressiv, aber nur bis zu einem bestimmten Punkt, den sie nicht überschreiten können.

Islamische Persönlichkeiten im Westen können offen und ohne Angst um sich selbst über die Rechte sexueller Minderheiten sprechen und den Islam sehr inklusiv und pluralistisch interpretieren. Dies ist in Russland nicht der Fall. Auch wenn Taufik Ibrahim und Damir Mukhetdinov in Fragen der Geschlechtergleichstellung recht weit gegangen sind. Hier zeigt sich ein enger Zusammenhang zwischen dem Pluralismus der religiösen Auslegung und dem sozio-politischen Kontext des Landes.

Zu den Ursachen der Radikalisierung des Islam in Kasachstan 

Nehmen wir unser soziales und politisches Umfeld, unsere Familien, unser Bildungssystem in Kasachstan – sie sind autoritär. Wer in einem autoritären Umfeld aufwächst, sucht unbewusst Halt in dogmatischen Auslegungen der Religion und widersetzt sich nicht dem Puritanismus.

Ein weiterer Aspekt, der nicht außer Acht gelassen werden darf, ist die soziale Ungerechtigkeit.

Der Egalitarismus ist im Islam zunächst sehr stark ausgeprägt. In puritanischen Bewegungen steht der Egalitarismus mitunter im Vordergrund. Dies kann dazu führen, dass diese Strömungen autoritäre und hierarchische Auslegungen in Fragen der Religionsfreiheit und der Geschlechterbeziehungen vertreten. In anderen Fragen können sie jedoch durchaus egalitäre Auslegungen vertreten, z.B. in Bezug auf die Verteilung wirtschaftlicher Güter. Die Anhänger solcher Strömungen können sagen, dass wir alle gleich sind und alle Reichtümer gottgegeben sind, die gerecht verteilt werden sollten. Und dass wir unsere Unzufriedenheit offen äußern sollten. Das ist natürlich sehr attraktiv für Menschen, die soziale Ungerechtigkeit sehen.

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Dies ist besonders im Westen Kasachstans zu beobachten. Da gibt es Ölregionen, die grob gesagt, ihrem eigenen Schicksal überlassen werden. Wenn die Menschen sehen, dass die Öleinnahmen nicht ihrer eigenen Region zugute kommen, dann fühlen sich die Bewohner abgehängt, was wiederum zu einer hohen Unzufriedenheit unter den Menschen führt. In diesem Kontext wird der religiöse Diskurs zu einem Hebel, um die Unzufriedenheit zu legitimieren.

Aber wir können natürlich nicht leugnen, dass bestimmte politische Gruppen diese Situation für bestimmte Zwecke nutzen können. Auf der anderen Seite – und das ist ein rein postsowjetisches Phänomen – gibt es eine Verbindung zwischen radikalen islamistischen Gruppen und kriminellen Kreisen. Die Mentalität dieser Gruppen ähnelt sich sehr und sie finden leicht zueinander.

Zur Bedrohung Kasachstans durch den radikalen Islamismus

Ich bin gegen Versicherheitlichung (Securitization), d.h. gegen die Schaffung eines nationalen Bedrohungsbildes um ein bestimmtes Thema herum. Versicherheitlichung ist möglich und sollte sich nur auf soziale Ungerechtigkeit beziehen – sie hat in der Geschichte immer wieder zu Bürgerkriegen und großen sozialen Explosionen geführt. Unsere Gesellschaft befindet sich in einem Transformationsprozess. Ich selbst bin nicht unmittelbar in der Religionssoziologie tätig, jedoch lässt sich eine gewisse Sättigung mit Religion, insbesondere bei der jüngeren Generation, beobachten. Die ständigen Ermahnungen, dem religiösen Weg unserer Vorfahren zu folgen, werden zunehmend als Belastung empfunden. Heute suchen viele Menschen Spiritualität, aber nicht Religiosität [als Bekenntnis zu einer bestimmten Religion]. Die Gesellschaft verändert sich, und selbst Menschen, die früher radikaler waren, werden mit der Zeit gemäßigter.

Wir sind kein völlig autoritäres Land und sollten uns nicht selbst hassen. Wir sind offen für die Welt und die Globalisierung, wir haben verschiedene soziale, kulturelle und religiöse Hintergründe. Im Hinblick all dieser Aspekte gibt es in dieser Hinsicht eine gewisse Entwicklung.

Zur Universalität der Menschenrechte im Kontext des Islam

In der heutigen Zeit muss das Konzept der Universalität der Menschenrechte verteidigt werden. Daher ist es von großer Bedeutung, dass es inklusive und pluralistische Interpretationen des Islam gibt, die von fortschrittlichen Gelehrten, die aus politischen Gründen in demokratischen Ländern leben, entwickelt werden. So gibt es beispielsweise ein ganzes Konzept einer inklusiven Interpretation des Islam durch moderne Gelehrte – „al-karamiyyah al-insaniyyah“ (wörtlich aus dem Arabischen „der von Gott erschaffene Mensch, ungeachtet seiner Herkunft, seines Geschlechts und seines Glaubens“).

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Heute sehen wir, dass rechte Werte, Konservatismus und Militarismus das Konzept der Universalität der Menschenrechte bedrohen, indem sie Relativismus proklamieren.

Wenn religiöse Menschen, insbesondere Vertreter des Islams, sagen: „Die Universalität der Ehre und Würde jedes Menschen ist Teil meiner Religion, Teil meines Glaubens“ – dann wird dies eine große Unterstützung für das Konzept der Menschenrechte sein.

Masa.media

Aus dem Russischen von Usmon Rakhmonov

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