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So (über-)lebt der Underground in Almaty

Der Begriff "Underground" wird üblicherweise für wenig bekannte, unabhängige Musik und die dazugehörige Kultur verwendet. In Kasachstan konzentriert sich die Szene vor allem auf die ehemalige Hauptstadt Almaty. Der folgende Artikel, erschienen bei The Village Kasachstan, beleuchtet die Ursprünge des kasachischen Undergrounds.

Foto: The Village Kasachstan
Foto: The Village Kasachstan

Der Begriff „Underground“ wird üblicherweise für wenig bekannte, unabhängige Musik und die dazugehörige Kultur verwendet. In Kasachstan konzentriert sich die Szene vor allem auf die ehemalige Hauptstadt Almaty. Der folgende Artikel, erschienen bei The Village Kasachstan, beleuchtet die Ursprünge des kasachischen Undergrounds.

Die Autorin sprach mit den Musikerinnen und Mitbegründerinnen des Underground-Kollektivs Pink Noise, Lena, Lika und Laura, mit Artjom Wwedenskij, Besitzer der Konzertbar „Anclav„, Veranstalter des Festivals „Shabash“ und Mitglied der Band P.I.G.Z, und mit Pessa Katzenelenbogen, Mitglied der Bands „Krasnychulki“ und „ANTIVSYO“.

Die Anfänge

Lena, Mitbegründerin von Pink Noise, Mitglied der Band Secret Radio: Das Projekt Pink Noise wurde Ende 2022, vor etwa einem Jahr, gegründet. Zusammen mit Lika und Laura haben wir beschlossen, eine Community zu gründen, die die lokale Szene hervorhebt und über lokale Musiker:innen spricht, um mehr Aufmerksamkeit zu bekommen.

Lika, Mitbegründerin von Pink Noise, Gründungsmitglied von The Ravenmockers: Ich habe immer daran geglaubt, dass man mit Musik Geld verdienen kann. Die Band hilft dabei, in den Bereich der Kunst einzudringen, sie von allen Seiten zu erforschen und sie mit der Wissenschaft zu verbinden. Als die Idee geboren wurde, ergaben sich auch die entsprechenden Möglichkeiten: Vor acht Jahren habe ich Ivan (Gitarrist von The Ravenmockers – Anm. d. Red.) und Sasha (Bassist von The Ravenmockers – Anm. d. Red.) kennengelernt, die mich unglaublich inspiriert haben und dies immer noch tun. Neben der Musik forsche ich in der Neurobiologie, schreibe und halte Vorträge über die Schnittstelle von Kunst und Wissenschaft.

Wie geht es der lokalen Szene?

Lena: Nach Covid sind in Kasachstan viele neue Bands entstanden, die vom Genre her weder in den Mainstream noch in die damals existierenden Labels passten. Mittlerweile hat sich die Situation stabilisiert, aber wenn man die lokale Szene nicht unterstützt, kann es mit ihr bergab gehen. Das ist in Almaty schon passiert: Neue Bands sind aufgetaucht, Clubs mit Live-Musik wurden eröffnet, aber mit der Zeit haben sie aufgehört, auf die Bedürfnisse des Publikums einzugehen, und wurden geschlossen.

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Der gesamte Underground in Kasachstan konzentriert sich hier in Almaty. Hier gibt es eine große Genrevielfalt, die Leute sind offen für Neues und Experimentelles. Darin unterscheidet sich unsere Szene beispielsweise sehr von der russischen Szene. Dort geht alles in Richtung Vereinfachung der Musik, Post-Punk ist dominant. Unsere Leute spielen Noise, Grunge, Psychedelic. Sie wollen musikalisch mit dem Rest der Welt gleichziehen, während die russischen Musiker:innen innerhalb ihrer eigenen Szene arbeiten.

Gefangen im Untergrund

Artjom Wwedenskij, Besitzer des Konzertlokals „Anclav“, Veranstaltungsorganisator „Shabash“, Mitglied der Band P.I.G.Z.: Die meisten Bands bleiben im Untergrund, weil es ihnen an Unterstützung durch die Zuhörer:innen mangelt. Zum Konzert einer neuen Band kommt eine kleine Anzahl von Freund:innen, aber die breite Masse ist nicht interessiert. Sie würden lieber ein Konzert bekannter Künstler:innen besuchen, als dem lokalen Underground zuzuhören. In Europa gehen die Leute gerne zu einem Konzert einer „No-Name“-Band, um etwas Neues zu erfahren. In unserem Land ist es leider genau umgekehrt.

Lika: Das größte Problem ist das völlige Fehlen von Kultur und Berufsethik. Wir haben nicht einmal Verträge. Niemand will Verantwortung übernehmen. Aber selbst im Untergrund braucht man Vorschriften und Regeln. Wenn es keine Ethik gibt, gibt es eine Menge interner und externer Konflikte. Ich habe festgestellt, dass viele Leute von Generation zu Generation einfach desillusioniert sind: Entweder haben sie keine Möglichkeit, sich weiterzuentwickeln, oder das Projekt basiert rein auf ihrem Enthusiasmus. Viele Leute vergessen, dass die Musikindustrie ein Geschäft ist.

Lena: Es ist einfach eine Frage der Ressourcen. Wir haben nicht so viele Profis, die Songs aufnehmen und abmischen können. Und die, die es können, verstehen die Feinheiten der Genres nicht und können nur mit bestimmter Musik arbeiten. Viele Musiker:innen sind noch dabei zu lernen, und nicht alle schaffen es, konkurrenzfähiges Material zu schreiben. Die Unterstützung für Anfänger:innen in der Gemeinschaft ist schwach, ebenso wie die Infrastruktur: Es gibt nur wenige Auftrittsorte und Proberäume.

Außerdem denken viele Musiker:innen, wenn sie einen Song aufnehmen und ihn veröffentlichen, wird er sofort gehört werden. Aber so einfach ist es nicht, man muss die Hörer:innen auf die Veröffentlichung vorbereiten, Ankündigungen machen, weitere Analysen durchführen. Wenn die Veröffentlichung nicht geklappt hat, sollte man nach den Gründen suchen und überlegen, was man verbessern kann. Es ist wichtig, über die eigene Kreativität nachzudenken.

Laura, Mitbegründerin von Pink Noise, Solokünstlerin Laura Casper: Auch die Persönlichkeit von Musiker:innen kann der Entwicklung im Wege stehen. Oft teilen Anfänger:innen ihre Arbeit nicht, aus Angst, kritisiert zu werden. Aber konstruktive Kritik ist notwendig, um sich weiterzuentwickeln. Es ist wichtig, Kommentare angemessen aufnehmen zu können und Kritik und Hass zu trennen. Leider laden die Organisator:innen bereits lokal bekannte Künstler:innen mit einer großen Zahl von Abonnent:innen ein und ignorieren dabei fast die Anfänger:innen. Das führt dazu, dass die Beliebten noch beliebter werden und die Neuen unbekannt bleiben.

Pessa Katzenelenbogen, Mitglied der Bands “ krasnyjetschulki“ und „ANTIVSYO“: Unsere Szene fängt gerade erst an, sich zu entwickeln, vor allem in den Punk-Genres. Die Szene wird von einigen etablierten Bands getragen, die im Vergleich zum Underground populär sind. Sie treten bei allen großen Veranstaltungen auf, während andere an eine unsichtbare Wand stoßen. Um in der Musikbranche zu wachsen, braucht man entweder Beziehungen oder die Mittel, um seine eigenen Festivals und Veranstaltungsorte zu organisieren.

Musikunterricht in Kasachstan

Lika: Wir können die Kenner:innen der Szene an unseren Fingern abzählen. Die Menschen in Kasachstan werden sich nicht von sich aus für die Entwicklung unabhängiger Musik interessieren, wenn nicht jemand mit brennenden Augen sie inspiriert, ihr Interesse weckt. Wir brauchen Leute, die regelmäßig das Feuer entfachen in den kreativen Einheiten und bei denen, die sie unterstützen. Wie man das macht? Kontinuierliche Manifestation! Für einen Menschen, der etwas unbedingt will, ist nichts unmöglich. Wenn man mit Leidenschaft bei der Sache ist, wird man auch andere Menschen dafür begeistern können.

Lena: Die Musikausbildung wird von vielen Faktoren beeinflusst, vor allem von der Wirtschaft. Unsere Szene ist dort konzentriert, wo es Ressourcen und Geld gibt – in Almaty. Der Rest der Bevölkerung hat keine Möglichkeit, etwas über die Underground-Szene zu erfahren. Aber wir können einen positiven Trend feststellen: Es gibt in Kasachstan ein wachsendes Bedürfnis nach Selbstidentifikation und Selbstreflexion, und es erscheint viel populäre Musik in kasachischer Sprache. Das ist gut, denn wenn es einen Mainstream gibt, wird es früher oder später auch einen Underground geben, in dem kasachischsprachige Künstler:innen mit weniger populären Tendenzen repräsentiert werden.

Es mangelt an Förderung

Artjom: Alles hängt mit dem Geld zusammen. Musiker:innen brauchen Geld, um Konzerte zu veranstalten, aber die Leute wollen nicht viel Geld für Musik bezahlen. Es gibt kein Verständnis dafür, dass man für Kreativität bezahlen muss, wie für jede andere Dienstleistung auch. Wir haben versucht, Konzerte so einfach und preiswert wie möglich zu organisieren, aber es war nie möglich, damit als Musiker:in oder Veranstalter:in viel Geld zu verdienen.

Pessa: Es gibt finanzielle Schwierigkeiten. Wir Musiker:innen haben kein festes Einkommen, brauchen aber immer Geld für die Proben. Für diesen Fall habe ich nur für die Musik bestimmte Sparkonten.

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Lena: Die Algorithmen, die Musik auf Streaming-Diensten bewerben, sind nicht ausgereift genug, um Tracks richtig in Playlists zu sortieren. Wenn du Musik schreibst, die sich sehr von dem unterscheidet, was in deiner Gegend beliebt ist, dauert es eine Weile, bis die Algorithmen erkennen, wer du bist und welche Art von Musik du spielst. Es kann sein, dass sie eine Playlist mit Titeln zusammenstellen, die sich vom Genre her unterscheiden, aber geografisch zueinander passen. Daher besteht die Gefahr, dass dein Titel überhaupt nicht zu den Songs passt, mit denen er zusammengebracht wird.

Ist es möglich, mit unabhängiger Musik Geld zu verdienen?

Laura: Nein. In der lokalen Szene investiert man nur, ohne etwas zu verdienen. Ich persönlich habe keinen einzigen Cent verdient, obwohl ich seit 2018 mindestens eine Million Tenge in das Projekt investiert habe (etwa 2000 €, Stand 21.11.23, Anm. der Redaktion). Die Arbeit unabhängiger Künstler:innen wird nicht gewürdigt. Die einzige Bezahlung, die du für deine Musik bekommst, ist, wenn du deine Stammhörer:innen, diese fünf bis zehn Leute, bei Konzerten siehst, und sie dich ermutigen, weiter in deine Kreativität zu investieren.

Lika: Ich denke, es ist möglich. Es ist bewiesen, und je mehr harte Arbeit und Intelligenz du hinein steckst, desto mehr wirst du verdienen. Es gibt eine Reihe von Tipps, wie man Kreativität zu Geld machen kann. Das ist natürlich experimentell, besonders in Kasachstan.

Underground-Erfolge: Strategien für Aufmerksamkeit und Bekanntheit

Lena: Wie wird man populärer? Am Material arbeiten, Werbung machen und das eigene Publikum finden. Ich denke, wenn eine:r der Underground-Musiker:innen in der Lage ist, 500 Leute zu einem Solo-Auftritt zu versammeln, kann man mit Sicherheit sagen, dass er/sie erfolgreich war. In Zukunft können solche Musiker:innen selbst große Konzerte organisieren und Anfänger:innen in ihr Line-Up aufnehmen.

Artjom: Um in aller Munde zu sein, solltest du dein Zielpublikum wählen und dafür arbeiten. Nimm Tracks auf, damit mehr Menschen nicht nur live, sondern auch auf digitalen Plattformen von dir hören können. Setze ein starkes Zeichen für dich selbst, spiele auf großen Festivals. Bereite dich gut auf Konzerte vor, vermeide Alkohol und Faulheit. Viele angehende Musiker:innen haben den Eindruck, dass man für eine Aufnahme ins Studio rennen und viel Geld bezahlen muss. Dem ist aber nicht so, wir haben unsere Tracks immer zu Hause „auf dem Fußboden“ aufgenommen und das gewünschte Ergebnis erzielt.

Unterstützung für die lokale Szene

Lena: Das Pink Noise Team und ich haben eine riesige genreübergreifende Playlist mit lokalen Musiker:innen zusammengestellt, die hier gefunden werden kann.

Artjom: Ich möchte ich ein paar Bands empfehlen, die versuchen, die lokale Szene zu verbessern: Secret Radio„krasnyjetschulki“, Kepler’s Three Laws und „Jurskij Park“.

Julija Petrova für The Village Kasachstan

Aus dem Russischen von Ramona Bleimhofer

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