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Quryltaı – Tradition und Zukunft der kasachischen Volksversammlung

Ein halbes Jahr nach den gewalttätigen Ereignissen vom Januar zeigen Kasachstans Behörden den Wunsch nach Veränderung und nationaler Einheit. Der Quryltaı, ein geschichtsträchtiges traditionelles Konzept, steht beim Projekt des „neuen Kasachstan“ im Rampenlicht.

Ein halbes Jahr nach den gewalttätigen Ereignissen vom Januar zeigen Kasachstans Behörden den Wunsch nach Veränderung und nationaler Einheit. Der Quryltaı, ein geschichtsträchtiges traditionelles Konzept, steht beim Projekt des „neuen Kasachstan“ im Rampenlicht.

Nach den Januar-Ereignissen in Kasachstan versprach Präsident Qassym-Jomart Toqaev Reformen und ein „neues Kasachstan“. Teil dieser Neuerungen ist der Quryltaı, eine nationale Versammlung, die der Präsident in Folge der Verfassungsreform erstmals am 16. Juni einberief, deren Einführung aber auch viele Fragen aufwirft.

Einige Stimmen sind zwiegespalten in Bezug auf die seine Fähigkeit zur Einflussnahme, andere reagieren mit Enthusiasmus, wie beispielweise der Politologe Erbol Edilov gegenüber dem kasachstanischen Onlinemedium Orda.

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Der Quryltaı ist eine Ableitung aus der türkisch-mongolischen Tradition – ein Kongress, der die Häuptlinge der Stämme zusammenbringt, um den Staat zu verwalten und um die Verteidigung oder Militärkampagnen zu organisieren. Sultanhan Aqquli, Direktor des Alash-Forschungsinstituts und Professor an der Eurasischen Nationalen Universität in Nur-Sultan, erklärt gegenüber Novastan, dass die Etymologie von Quryltaı auf das Wort „quru“ zurückgeht, was „formen, erschaffen und etablieren“ bedeutet.

Der Forscher fügt hinzu, dass „der Quryltaı in seiner Bedeutung, seinen Zielen und seinen Aufgaben einer konstituierenden Versammlung oder einem Kongress entspricht.“ Ihm zufolge ist der Quryltaı eine wichtige Tradition. Einige dieser Versammlungen führten zu Schlüsselmomenten der kasachischen Geschichte: Im 13. Jahrhundert, um Dschingis Khan zum Khan zu ernennen; im 18. Jahrhundert, um die Invasion der Dschungaren abzuwehren; im 19. Jahrhundert, um das Khanat Kasachstans zu gründen.

Der Quryltaı im 20. Jahrhundert

Zwei Quryltaıs fanden 1917 in der Übergangszeit zwischen dem Zarenreich und der sowjetischen Herrschaft statt. Sultanhan Aqquli weist jedoch darauf hin, dass diese beiden Quryltaıs in Orenburg (im heutigen Russland, Anm. d. Red.) stattfanden, wo die neue kasachische Elite, die Fachleute gemeinhin als „Intelligenz“ oder „Alash-Elite“ bezeichnen, den ersten und zweiten pankasachischen Kongress einberief. In Form und Inhalt seien aber beide Kongresse Quryltaıs gewesen.

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Der erste Quryltaı im Juli 1917 forderte, dass die künftige „Allrussische Konstituierende Versammlung“ Russland zu einer föderalen parlamentarischen Republik erklärt. Die Versammlung traf sich, wurde aber gewaltsam von den Bolschewiki aufgelöst. Der zweite Quryltaı vom 5. bis 13. Dezember 1917 belebte 70 Jahre nach dem Zerfall des kasachischen Khanats die Nationalstaatlichkeit in Form der Autonomie Alash Orda, welche bis August 1920 bestand.

Um ihre Macht zu etablieren, ließen die Sowjets wenig Raum für Kultur, Ethnizität oder Religion. Daher wurde der Quryltaı, wie die meisten Traditionen, zum Schweigen gebracht. Sultanhan Aqquli erklärt: „Während der gesamten Zeit, als Kasachstan Teil der UdSSR war, war die Vielfalt der ethnischen Gruppen streng tabu. Traditionen wie Quryltaı, Nauryz (persisches Neujahrsfeier, Anm. d. Red.) oder Aitys (improvisierter Gesangswettbewerb auf der Dombra, Anm. d. Red.) und viele andere fanden nicht mehr statt. Die Nauryz-Feiern wurden erst im März 1989 wieder aufgenommen.“

Neuere Quryltaıs ohne wirkliche Auswirkungen

Laut dem Forscher Sébastien Peyrousse sind die Ergebnisse manchmal symbolisch, wenn in Folge der Unabhängigkeit der Wille zum Ausdruck kommt, das Sowjetsystem zu verlassen und die kasachische Identität wiederzubeleben. Dies zeigt auch der erste Qurultaı nach der Unabhängigkeit, der vom 28. September bis 4. Oktober 1992 in Almaty stattfand und zu dem laut Sultanhan Aqquli kasachische Gemeinschaften aus 33 Ländern zusammenkamen.

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In der Folge wurde der Weltverband der Kasachen gegründet. Quryltaıs wurden auch danach organisiert, beschränkten sich aber auf Runde Tische oder kulturelle Veranstaltungen, wie das kasachstanische Nachrichtenportal Karavan berichtete. Ihre Rollen und Auswirkungen waren nicht signifikant. Die bei der Unabhängigkeit versprochenen Veränderungen waren nicht von Dauer, da ein autoritäres Regime sie jetzt spaltet.

Sultanhan Aqquli erklärt: „Während der letzten 30 Jahre der Unabhängigkeit wurde die kasachstanische Gesellschaft unter dem diktatorischen Regime von Nursultan Nazarbaev bewusst und systematisch aufgelöst, nicht nur in durch die Sprache zwischen kasachisch- und russischsprachigen Personen gespalten, sondern auch durch den sozialen Status. Mit dem faktischen Fehlen einer stabilisierenden Mittelschicht in der Gesellschaft ist die Kluft zwischen arm und reich bedrohlich geworden.“

Zwischen Versprechen und Realität

Präsident Toqaev kündigte während der ersten Sitzung des neueinberufenen Quryltaı eine umfassende Modernisierung Kasachstans an und bekräftigte, dass seine Ziele die Unabhängigkeit des Staates, Demokratie und das Zuhören den Bürger:innen gegenüber seien. Außerdem kündigte das Staatsoberhaupt an, dass der Quryltaı die wichtigste Institution der Zivilgesellschaft werden solle. Er fügte hinzu, dass eine mobile Quryltaı-App in Entwicklung sei, mit der die Bürger:innen „an der Schaffung eines neuen und gerechten Kasachstans mitwirken“ sollen.

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Dabei wurde der Quryltaı nicht zufällig ausgewählt. Toqaev erinnerte er an die verschiedenen Quryltaıs in der Geschichte und schlug vor, in Ulytaý, einer Stadt, in der einst die Symbole der verschiedenen Stämme in Stein gemeißelt waren, ein „architektonisches Objekt zu schaffen, das die Einheit des kasachischen Volkes symbolisiert“.

Sultanhan Aqquli fügt hinzu: „Für Kasachen hat der Quryltaı eine heilige Bedeutung und war schon immer ein Faktor der Einheit und Konsolidierung“, fügt Sultanhan Aqquli hinzu. Ihm zufolge wurde „der letzte Quryltaı genau mit dem Ziel einberufen, die moderne kasachstanische Gesellschaft zu einen, zu konsolidieren, zu demokratisieren und das Neue Kasachstan, die Zweite Republik, aufzubauen.“

Kritik der Opposition

Das Projekt wird jedoch von der Opposition scharf kritisiert. So spricht der Politologe Dimash Aljanov gegenüber Radio Azattyq von einer natürlichen Taktik des Autoritarismus. Er bemängelt, dass im vom Präsidenten vorgeschlagenen Quryltaı die Opposition nicht vertreten sei. Darüber hinaus sei der Quryltaı nicht befugt, verbindliche Entscheidungen zu treffen, und er werde vom Präsidenten selbst geleitet. Laut Aljanov könne man „derartige Patronage-Strukturen bereits in Kirgistan, Turkmenistan und Belarus beobachten“.

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Eine Parallele wird auch zwischen der ebenfalls kritisierten „Rat für gesellschaftliches Vertrauen“ und dem Quryltaı gezogen. Der im selben Artikel zitierte Oppositionspolitiker Jasaral Qýanyshalin glaubt, dass „die Behörden vorgeben, Reformen durchzuführen, um die Ereignisse vom Januar zu beseitigen. […] Dem Rat für gesellschaftliches Vertrauen gehörten Menschen an, die es nicht wagten, sich den Behörden zu widersetzen. Ich glaube nicht, dass dieser Quryltaı besser sein wird.“

Das schwere Erbe von Nursultan Nazarbaev

Sultanhan Aqquli glaubt, dass „die brutale Unterdrückung friedlicher Demonstrationen in ganz Kasachstan im Januar 2022, die zum Tod von mehr als 230 friedlichen Bürgern führte (mehr als in Almaty im Dezember 1986 und in Jańaózen im Dezember 2011) , Verhaftungen, Strafverfolgung, Folter friedlicher Protestteilnehmer, die Verfolgung ziviler Aktivisten, die Verweigerung einer Registrierung neuer politische Parteien, die vorläufigen Änderungen der derzeitigen Verfassung sowie die Teilnahme der meisten Vertreter des Regimes von Nursultan Nazarbaev am nationalen Quryltaı und viele andere Tatsachen zusammengenommen, Zweifel an der Ernsthaftigkeit, Entschlossenheit und dem politischen Willen des derzeitigen Präsidenten aufkommen [lassen], alle von ihm angekündigten politischen Reformen umzusetzen.“

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Darüber hinaus fügt Aqquli hinzu, dass „die derzeitigen politischen Führer Kasachstans unter starkem Druck des Regimes von Wladimir Putin stehen. Diese Abhängigkeit von der Russischen Föderation ist auch das politische Erbe des ehemaligen Präsidenten.“ Im Januar 2022 erschütterten gewalttätige Unruhen Kasachstan. Ursprünglich gegen steigende Gaspreise gerichtet, verwandelten sich anfangs friedliche Proteste in gewalttätige Revolten. Die Reaktion der Sicherheitsorgane war blutig. Bis heute gibt es keine offizielle Liste der Toten, aber laut dem kasachstanischen Nachrichtenportal Orda beläuft sich deren Anzahl auf mindestens 225.

Claire du Verdier, Redakteurin für Novastan

Aus dem Französischen von Robin Roth

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