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Die Pocken in Kasachstan 1971: Wie eine Epidemie verhindert wurde

Im Jahr 1971 konnte in Aralsk ein größerer Ausbruch der damals in der UdSSR als bereits ausgerottet betrachteten Pocken verhindert werden. Jandos Asylbekov berichtet von seinen eigenen Erfahrungen als Teenager im Zentrum des verhinderten Ausbruchs einer Pandemie. Folgender Artikel erschien im russischen Original bei Central Asian Monitor, wir übersetzen ihn mit freundlicher Genehmigung der Redaktion.

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Menschen in Schutzkleidung
In Aralsk brachen 1971 die Pocken aus.

Im Jahr 1971 konnte in Aralsk ein größerer Ausbruch der damals in der UdSSR als bereits ausgerottet betrachteten Pocken verhindert werden. Jandos Asylbekov berichtet von seinen eigenen Erfahrungen als Teenager im Zentrum des verhinderten Ausbruchs einer Pandemie. Folgender Artikel erschien im russischen Original bei Central Asian Monitor, wir übersetzen ihn mit freundlicher Genehmigung der Redaktion.

In den Archiven Kasachstans nach Dokumenten darüber zu suchen ist sinnlos. Wenn es sie denn noch gibt, dann nur in Moskau, und höchstwahrscheinlich werden sie nach wie vor als „streng geheim“ vermerkt. Wenn also jemals bekannt wird, wie es zu der Infektion kam, wie viele Menschen erkrankten und starben und welche Maßnahmen zur Verhinderung der Epidemie ergriffen wurden, wird dies wahrscheinlich nicht so bald geschehen.

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Verschiedene Quellen haben Versionen mit Bezug auf die so genannten Zareninseln vorgelegt (ursprünglich wurden diese 1848 nach Kaiser Nikolaus I., Großherzog Konstantin und anderen Thronfolger benannt und erhielten zu sowjetischer Zeit neue Namen – Erweckung, Lazarew und Komsomolski). Seit 1954 befand sich dort ein Feldforschungslabor (PNIL), das sich mit der Untersuchung und dem Test von Proben biologischer Waffen befasste. Im Mai 1991, sechs Monate vor dem Zusammenbruch der UdSSR, als die öffentliche Meinung nicht mehr ignoriert werden konnte, wurde eine kleine Delegation zugelassen, der auch der Autor dieses Artikels angehörte. Natürlich wurden die geheimen Objekte selbst nicht gezeigt, aber wie die Militärs behaupteten, wurden die Experimente in sehr begrenzten Gebieten durchgeführt und stellten keine Gefahr dar. Als Beweis wurde den Besuchern der Kindergarten gezeigt und versichert, dass die Beamten hier nicht mit Kindern leben würden, wenn die Gefahr bestünde, dass diese sich mit etwas Ernstem infizieren könnten.

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Andererseits wurde die Aktivität der PNIL und der am gleichen Ort errichteten Stadt Kantubek durch eine große, in der Nähe von Aralsk (heute Aral, Anm. d. Red.) stationierte Militärgarnison sichergestellt, die über eine Flugabwehr-, Flug-, Bau- und Radar-Einheit verfügte. Dies allein könnte bereits ein Hinweis darauf sein, dass die Arbeit auf den Inseln sehr wichtig war und dass sie ziemlich umfangreich war. Darüber hinaus argumentieren die Autoren Sergej Bubnovsky und Igor Prokopenko in dem Buch „Mythen über Krankheiten“, dass bis Mitte der 1980er Jahre, also vor der Verschmelzung der drei Inseln zu einer, Tests auf der Lazarew-Insel  durchgeführt wurden.

Hier ein Zitat aus dem Buch: „In den Labors dieser als geheim eingestuften Insel befanden sich Kampfstämme von Viren und Bakterien. Es gab zuverlässige Aufzeichnungen über einen Fall des Durchsickerns eines aggressiven Virus, der 1971 auftrat. Damals wurde auf der Konstantin-Insel  ein Biopräparat gegen die Schwarzpocken getestet. Dazu wurde eine kleine Bombe mit einem Gewicht von nur 400 Gramm gezündet. Aber zum Zeitpunkt der Explosion änderte sich die Windrichtung plötzlich, und die Wolke zog nach Norden bis zur Stadt Aralsk„.

Es ist nicht klar, ob wir den Text von Igor Prokopenko, einem bekannten Fernsehjournalisten des Fernsehsenders Ren-TV, dem oft Unwahrheiten und Verfälschungen vorgeworfen werden, glauben sollten. Es gilt zu bedenken: Wenn eine Wolke von Pockenviren Aralsk erreicht hätte, wären Tausende von Menschen infiziert worden, während es in Wirklichkeit viel weniger waren.

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Die andere Version sieht plausibler aus. Es läuft darauf hinaus, dass sich eine Wissenschaftlerin als erste auf einem Schiff der örtlichen Zweigstelle des Fischereiforschungsinstituts mit der Krankheit infiziert hat. Es scheint, dass das Schiff vom Kurs abgekommen ist und zu nahe an die Inseln herangekommen ist, obwohl alle angewiesen wurden, sich mindestens 40 Kilometer von ihnen fernzuhalten. Nach ihrer Rückkehr nach Aralsk sagte die Frau, sie habe andere angesteckt. Aber es gibt auch die Meinung, insbesondere von russischen Virologen, dass der Ausbruch der Pocken auf natürliche Weise erfolgte. Es ist jedoch unwahrscheinlich, dass wir jemals erfahren werden, was wirklich passiert ist.

Ständige Angst vor den Pocken

Seit der Antike gelten die Pocken als eine der tödlichsten Infektionskrankheiten. Im Mittelalter starb jeder fünfte Mensch daran, die Sterblichkeitsrate bei Kindern war sogar noch höher.  „Ja, die  Pest war tödlicher, aber sie besuchte unsere Gestade nur ein- oder zweimal seit Menschengedenken. Aber die Pocken blieben unerbittlich unter uns, füllten die Friedhöfe mit Toten und quälten mit ständiger Angst all jene, die noch nicht daran erkrankt waren. Sie hinterließ auf den Gesichtern der Menschen, deren Leben sie verschonte, hässliche Male als Zeichen ihrer Macht, machte das Kind für seine Mutter unkenntlich, verwandelte eine schöne Braut in das Objekt des Ekels in den Augen des Bräutigams.“ schrieb der englische Historiker Thomas McClow in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts.

Erst nachdem die Menschheit einen Impfstoff erfunden hatte, begannen die Ausbrüche der Pocken zurück zu gehen. In der UdSSR wurde ihre Ausrottung 1936 verkündet. Es gab jedoch noch einen Fall Anfang 1960, als ein Künstler, der Indien besucht hatte, die Infektion mit sich nach Moskau brachte. Obwohl sofortige Maßnahmen ergriffen wurden, um alle Kontakte zu identifizieren und zu behandeln, konnten drei Menschen nicht gerettet werden. Jahre später trat die schreckliche Krankheit in der Provinz Aralsk auf.

Im Belagerungszustand

Die Stadt wurde von führenden Wissenschaftlern und Epidemiologen aus der ganzen Sowjetunion besucht. Aralsk war ein abgerigieltes Gebiet, so dass niemand aus ihm herauskommen konnte. Zuerst standen zahlreiche Soldaten aus Einheiten der örtlichen Garnison im Sperrgürtel, dann wurden Soldaten aus anderen Regionen der UdSSR dorthin versetzt. Militärschiffe waren auf See im Einsatz. Mit einem Wort, es war unmöglich, die Stadt zu verlassen, weder auf dem Trockenen, noch auf dem Wasser, geschweige denn in die Stadt hineinzukommen. Darüber hinaus beteiligten sich Militäreinheiten zusammen mit der Polizei an der Isolierung von Personen, die Kontakt zu den Infizierten hatten. Erwähnt wird dies z. B. in Alexej Sukonkins Buch „Streitkräfte des Sowjetlandes“, das den Aktivitäten der Sonderbrigaden gewidmet ist, sowie in der Publikation „Special Forces of the GRU“.

Durch Aralsk, als ob es in zwei ungefähr gleich große Hälften geschnitten wäre, führte die Eisenbahnlinie von unionsweiter Bedeutung, die Moskau und dem europäischen Teil der südlichen Regionen der UdSSR mit Kasachstan, einschließlich der Hauptstadt Alma-Ata (heute Almaty, Anm. d. Red.), sowie mit allen Republiken Zentralasiens verband. Damals gab es sowohl mehr Personen- als auch Güterzüge als heute. Unser Haus lag direkt an dieser Bahn, und deshalb kann ich mit Sicherheit bezeugen: Die Züge fuhren fast alle zehn Minuten. Und sie alle machten am Aralsker Bahnhof Station, zumindest für eine Weile. So wurden nach Einführung einer vollständigen Quarantäne alle Stopps verboten, und die Personenzüge passierten uns mit fest verschlossenen Türen und Fenstern.

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Das Postamt arbeitete nur „als Eingang“. Mit anderen Worten: Briefe, Pakete, Zeitungen und Zeitschriften kamen in die Stadt, aber es war unmöglich, etwas zu verschicken. Übrigens sind die Infektionswege bei den Pocken etwa die gleichen wie bei COVID-19: durch die Luft mit winzigen Speicheltröpfchen einer infizierten Person oder durch direkten Kontakt, und das Virus dringt über die Schleimhäute von Mund, Nase und Augen in den Körper ein. Das heißt, die postalischen Einschränkungen mögen unnötig gewesen sein (obwohl es besser ist, dies von Spezialisten beurteilen zu lassen), aber die Behörden scheinen beschlossen zu haben, selbst minimale Risiken auszuschließen. Beim geringsten Verdacht auf eine Infektion wurde die Person natürlich isoliert. Ich erinnere mich, dass ein Junge, der neben unseren Cousins und Schwestern wohnte, die wir am Tag zuvor besucht hatten, ins Krankenhaus gebracht wurde. Die Eltern waren in Panik, aber es ist nichts passiert.

Es ist klar, dass Zeitungen und Fernsehen (das es seit einem Jahr zuvor in Aralsk gab) nichts über die Geschehnisse in der Küstenstadt berichteten – schließlich war die UdSSR in dieser Hinsicht ein absolut geschlossener Staat. Übrigens, wie sich später herausstellte, war auch die Weltgesundheitsorganisation nicht informiert. Ich erinnere mich auch nicht an Aufklärungsarbeit in der Bevölkerung. Unter den Bedingungen dieses Informationsvakuums tauchten eine Reihe von Gerüchten auf. Als mehrere Aralsker versuchten, die Stadt zu verlassen, wurden sie angeblich erschossen. Sie sagten, dass alle gesunden Bürger bald in das Pionierlagergebiet verlegt werden sollten, das einige Kilometer von der Stadt entfernt war, für das sie Zelte aufgestellt haben (es war war warme Jahreszeit), und Aralsk wird zerstört werden sollte. Und so weiter und so fort.

Keine zuverlässigen Informationen

Wir Kinder haben im Gegensatz zu den Erwachsenen nicht viel Angst empfunden. Es stimmt, als ich Bilder von Kranken sah, fühlte ich mich unbehaglich. Tatsache ist, dass der Sohn des Leiters der Bezirksgesundheitsabteilung mit mir in derselben Klasse lernte – er zog heimlich die Fotos aus der Mappe seines Vaters, machte Abzüge (damit haben wir uns alle mit Fotografie beschäftigt) und zeigte sie uns.  Selbst in Schwarz-Weiß sahen die Geschwüre auf den Gesichtern und Körpern der Infizierten erschreckend aus.

Ich kann nicht genau sagen, wie lange die Stadt in völliger Isolation lebte. Vielleicht einen Monat, vielleicht etwas weniger. Auch über die Zahl der Todesfälle gibt es keine zuverlässigen Informationen: Verschiedene Quellen geben Zahlen von 3 bis 9 an. Aber es ist eine Tatsache, dass es dank schneller und sehr strenger Maßnahmen möglich war, den Infektionsherd schnell zu lokalisieren und große Verluste an Menschenleben zu vermeiden.

Anstelle eines Nachwortes

Nach Angaben der Website der Weltgesundheitsorganisation (WHO) wurde der letzte Fall einer Pockeninfektion weltweit 1977, sechs Jahre nach den oben beschriebenen Ereignissen, in einem armen afrikanischen Land, Somalia, registriert. Drei Jahre später, 1980, empfahl die WHO, die Impfung gegen diese Infektion zu stoppen. Aber obwohl die Ausbreitung des Virus aufgehört hat, werden seine Stämme immer noch in zwei Labors gelagert, eines in Russland und das andere in den Vereinigten Staaten.

Im Dezember 2002 veröffentlichte die New York Times einen Artikel über den „Aralsker Ausbruch“ der Schwarzpocken. Nelly Maltseva, eine zu diesem Zeitpunkt bereits verstorbene Viruswissenschaftlerin, die an der Prävention der Epidemie in einer kasachischen Stadt beteiligt war, hatte den Stamm angeblich 1990 an den Irak weitergegeben. Warum haben sich die Amerikaner über den „Aralsk-Virus“ Sorgen gemacht? Weil sie ihn für besonders gefährlich gehalten haben sollen und kein Gegenmittel hatten. Diese Anschuldigung kam jedoch höchstwahrscheinlich aus derselben Inszenierung, zu der auch das „Anthrax-Reagenzglas“ geworden ist, das US-Außenminister Colin Powell ein paar Monate später zeigte, nachdem die US-Invasion im Irak begonnen hatte (falsche Anschuldigung gegenüber dem Irak in Bezug auf den potentiellen Einsatz von Massenverichtungswaffen – Anm. d. Red.).

Jandos Asylbekov für Central Asian Monitor

Aus dem Russischen von Hannah Riedler

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