Seit Anfang 2025 wurden in Kasachstan etwa 22,5 Tausend Ehen geschlossen, was ein Sechstel weniger Ehen als im gleichen Zeitraum des Vorjahres sind. Für das Land ist dies einer der niedrigsten Werte des letzten Jahrzehnts. Die Einstellung zum Heiraten im Land scheint sich allmählich zu ändern. Expert:innen und junge Menschen aus Kasachstan über ihre Einstellung zur Familiengründung und ihre wichtigsten Werte.
Globale Trends
Im Laufe des letzten Jahrhunderts hat sich die Rolle der Familie in vielen Ländern weltweit verändert. Während früher in traditionellen Gesellschaften Großfamilien, in denen mehrere Generationen zusammenlebten, üblich waren, sind heute Kernfamilien, die nur aus Eltern und Kindern bestehen, häufiger anzutreffen.
Bereits Mitte des letzten Jahrhunderts stellten amerikanische Soziolog:innen fest, dass die Institution der Ehe allmählich ihren Status als formale Tradition verliert und zunehmend individuelle Interessen widerspiegelt. Die Menschen dachten damals mehr über persönliche Ziele, Bildung und Selbstverwirklichung nach – und nicht nur über familiäre Umstände.
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Als vereinsgetragene, unabhängige Plattform lebt Novastan vom Enthusiasmus seiner ehrenamtlichen Mitarbeiter:innen – und von eurer Unterstützung!Ähnliche Prozesse fanden auch in Europa statt. In den 1960er Jahren begann dort der sogenannte zweite demografische Wandel – die Geburtenrate, die nach dem Krieg vorübergehend gestiegen war, begann zu sinken, und die Gesellschaft begann, alternative Familienformen gelassen zu akzeptieren. Im 21. Jahrhundert begann sich dieser Trend auch auf andere Staaten wie China auszuweiten.
Globale Veränderungen zeigen sich auch in Kasachstan. Bereits heute ist für viele Menschen in Kasachstan eine formalisierte Ehe keine zwingende Voraussetzung mehr für ihr Glück. Die einen streben zunächst nach einer Karriere und finanzieller Unabhängigkeit, andere entscheiden sich für ein gemeinsames Leben ohne offizielle Registrierung, und wieder andere halten die Ehe einfach nicht für einen wichtigen Teil ihres Lebens.
Weniger Ehen und weniger Scheidungen
Laut der Soziologin Kamila Kovıazina ist die Heiratsrate in Kasachstan in den letzten fünf Jahren von 6,87 auf 6,13 pro tausend Einwohnende gesunken. Allerdings spiegelt dieser Indikator nicht immer genau die sozialen Trends wider, da er von der Anzahl der Menschen verschiedener Generationen beeinflusst wird, beispielsweise von Kindern und älteren Menschen.
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Die Generation, die in den 1990er Jahren geboren wurde, ist weniger zahlreich als die Generation der 2000er Jahre. Dies erklärt die Statistik: Ein Teil der jungen Menschen hat einfach noch nicht das Alter erreicht, um eine Familie zu gründen, und manche der früheren Generation schieben diesen Schritt hinaus.
Wie Kovıazina jedoch feststellt, gibt es einen deutlicheren Trend, der sowohl für Männer als auch für Frauen gilt: das steigende Durchschnittsalter bei der ersten Heirat. Immer mehr junge Menschen halten es für wichtig, zuerst eine Ausbildung zu absolvieren, einen Beruf zu erlernen, eine Karriere aufzubauen und finanzielle Stabilität zu erlangen und erst dann eine Familie zu gründen. Laut der Soziologin spiegelt dies globale Prozesse wider: Die Lebenserwartung steigt, die Lebenszyklen verlängern sich, weshalb die Entscheidung zur Heirat wohlüberlegter und nicht mehr so übereilt getroffen wird wie früher.
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Interessanterweise sind auch die Scheidungen in der offiziellen Statistik zurückgegangen – von 2020 bis 2024 sank die Scheidungsrate um 21 Prozent (2,02 pro tausend Einwohnende). Expert:innen betonen jedoch, dass diese Statistik nicht das vollständige Bild widerspiegelt – die Erfassung erfolgt nur auf der Grundlage von Daten der Standesämter, ohne gerichtliche Entscheidungen über die Auflösung von Ehen.
Nach Angaben des Forschungsunternehmens Petrelli Previtera für März 2024 liegt Kasachstan bei der Zahl der Scheidungen weltweit an zweiter Stelle, nur hinter den Malediven. Internationale Berechnungen ergeben eine Scheidungsrate von 4,6 pro Tausend Einwohnende – deutlich höher als in den nationalen Statistiken angegeben.
Laut einer vom Institut für gleiche Rechte und Chancen durchgeführten Umfrage verbinden 61 Prozent der Kasachstaner:innen Scheidungen mit der Einmischung von Verwandten in das Familienleben. Weitere 41 Prozent der Befragten geben einen Rückgang moralischer Beschränkungen an, und ein Viertel nennt die Einfachheit des Scheidungsprozesses. Als weitere Faktoren werden traditionelle Einstellungen genannt, darunter die strenge Aufteilung der Geschlechterrollen.
Die Jugend und die standesamtliche Trauung
Die Einstellung zur Ehe verändert sich nicht nur in Zahlen. Expert:innen stellen fest, dass sie für junge Menschen zwar keine formale Notwendigkeit mehr darstellt, aber dennoch ein bedeutender Schritt bleibt. Nach Angaben der Friedrich-Ebert-Stiftung betrachten fast 65 Prozent der jungen Kasachstaner:innen die Ehe als einen wichtigen Lebensabschnitt und nur 8 Prozent halten sie für nicht obligatorisch.
Dabei spielen „traditionelle Werte” nach wie vor eine wichtige Rolle. So halten fast die Hälfte der Befragten die Jungfräulichkeit des Partners vor der Ehe für einen wichtigen Faktor bei der Wahl des Ehepartners oder der Ehepartnerin. Auch der Einfluss der Verwandten ist nach wie vor stark: 57,1 Prozent der Befragten berücksichtigen deren Meinung bei ihrer Entscheidung über die Eheschließung.
Die Ansichten zur Ehe unterscheiden sich auch zwischen Stadt- und Landbevölkerung. In Großstädten ist das Zusammenleben ohne Registrierung mittlerweile eher üblich, während in Dörfern konservativere Ansichten vorherrschen. Vor allem junge Frauen spüren diesen Druck: Oftmals drängen ihre Eltern sie zur Heirat, weil sie befürchten, dass sie sonst keine Familie gründen werden.
Ansichten junger Frauen
Wir haben mit zwei Frauen aus Kasachstan gesprochen, die ohne offizielle Registrierung zusammenleben. Eine von ihnen, Anar aus Almaty, lernte ihren Partner über gemeinsame Freunde kennen und ist seit vier Jahren mit ihm zusammen. Mit der Zeit wurde die Beziehung ernst, und die Entscheidung, zusammenzuziehen, fiel ganz natürlich, ohne Druck und Formalitäten.
Das Paar interessierte sich besonders dafür, wie sie im Alltag miteinander auskommen, sich gegenseitig unterstützen und Vertrauen aufbauen würden. Für sie ist Familie nicht nur eine formelle Institution, sondern tägliche Fürsorge und Respekt.
„Wir hatten es nicht eilig, zu heiraten, sondern wollten zuerst sehen, wie wir im Alltag zurechtkommen“, erzählt Anar.
Die fehlende offizielle Registrierung bringt jedoch manchmal Schwierigkeiten mit sich. Es ist nicht immer möglich, den Partner im Krankenhaus zu besuchen oder Dokumente auszustellen, für die ein Nachweis des Familienstands erforderlich ist. Hinzu kommt der Druck von Verwandten und Bekannten, die regelmäßig fragen, warum das Paar noch nicht geheiratet hat.
Anar merkt an, dass diese Umstände das Paar allmählich dazu bringen, über eine Hochzeit nachzudenken. An erster Stelle stehen für sie jedoch nach wie vor Vertrauen, Unterstützung und die tägliche Fürsorge füreinander – die Formalität ist notwendig, um alltägliche und rechtliche Fragen zu klären und den Druck von außen zu verringern.
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Janna aus Karaganda hingegen sieht die Ehe mit Vorsicht. Sie war noch nie verheiratet und ist derzeit mit niemandem liiert.
„Ich habe es nicht eilig zu heiraten, weil ich zu viele Geschichten über häusliche Gewalt gehört habe. Meine Schwestern sind nach ihrer Hochzeit wie erloschen, ihr Leben ist eingeschränkt. Die Erwartungen der Familie und der Gesellschaft nehmen ihnen ihre Freiheit. Ich glaube an die Liebe und die Familie, aber für mich ist es wichtig, mich sicher zu fühlen“, erzählt sie.
Janna gibt zu, dass sie Druck von ihren Verwandten spürt. Diese deuten oft an, dass es Zeit wäre, zu heiraten. Die junge Frau ist jedoch der Meinung, dass sie nicht bereit ist, sich zu binden, solange sie nicht den Mann gefunden hat, dem sie ohne Angst vertrauen kann. Sie hat nichts gegen die Ehe – aber es wird ihre eigene Entscheidung sein und kein Schritt, der von den Erwartungen der Familie oder der Gesellschaft diktiert wird. Für Janna ist es wichtig, mit einem Menschen zusammen zu sein, mit dem sie sich sicher und geborgen fühlt. Bis dahin zieht sie das Single-Leben einer Beziehung ohne Respekt und Sicherheit vor.
Wie die Soziologin Kamila Kovıazina prognostiziert, wird sich der Trend zu weniger Eheschließungen in Zukunft wahrscheinlich fortsetzen. Moderne Männer und Frauen haben mehr Wahlmöglichkeiten. Sie entscheiden selbst, ob sie heiraten, Kinder bekommen, welche Karriere sie einschlagen und wo sie leben möchten. Die Ehe ist nicht mehr eine zwingende Voraussetzung für das Leben, sondern nur noch eine von vielen möglichen Optionen.
Aıgerim Erbolova für The Village
Aus dem Russischen von Michèle Häfliger
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Warum die Menschen in Kasachstan inzwischen seltener heiraten