Eine tanzende Bergziege, ein gestickter blühender Garten, die Geschichten eines Betrügers, ein aus einem Kokon gesponnener seidener Faden – das sind die vielfältigen kulturellen Praktiken Zentralasiens, die kürzlich von der UNESCO als Teil des immateriellen Kulturerbes der Menschheit anerkannt wurden. Novastan wirft einen Blick auf diese vier lebendigen Traditionen und überlegt, wo die Liste an ihre Grenzen stößt, um die kulturelle Vielfalt Zentralasiens zu würdigen.
Jedes Jahr nimmt ein Komitee der UNESCO kulturelle Praktiken aus der ganzen Welt in eine Liste auf, die den Zweck verfolgt, als universell bedeutsam angesehene Traditionen zu präsentieren und schützen. Immaterielles Kulturerbe umfasst gemäß der Konvention der UNESCO von 2003 Praktiken, Ausdrucksformen, Wissen sowie Räume, die eine wichtige Rolle für die kulturelle Identität einer Gemeinschaft spielen.
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Die UNESCO-Liste enthält seit langem eine reiche Vielfalt kultureller Praktiken aus allen zentralasiatischen Ländern, darunter die Neujahrsfeier Nowruz, die tadschikische Tschakan-Stickerei sowie die turkmenische Teppichherstellung. Zu den vielfältigen Traditionen, die in diesem Jahr neu in die Liste aufgenommen wurden – von der kubanischen Rum-Kunst bis zum französischen Baguette – kamen auch vier kulturelle Praktiken aus Kasachstan, Kirgistan, Tadschikistan, Turkmenistan und Usbekistan hinzu.
Orteke
Beim Orteke handelt es sich um eine Aufführungskunst in Kasachstan, bei der die hölzerne Puppe einer Tauteke, d.h. einer Bergziege, zu Musik tanzt und damit zum Leben erweckt wird. Die Tauteke-Puppe wird mit einem Metallstab an der Oberfläche einer Trommel befestigt; diese ist durch eine Schnur mit den Fingern eines Musikers verbunden, der außerdem die Dombyra, ein traditionelles zweisaitiges Instrument, spielt.
Sobald der Spieler die Saiten anschlägt, wird die Tauteke-Puppe lebendig und scheint zu den lebhaften Rhythmen der Dombyra zu galoppieren. Zur wahren Beherrschung von Orteke gehört dabei nicht nur das energiegeladene Tempo des Tauteke-Tanzes zu diktieren, sondern auch die Puppe mit Anmut zu bewegen – ein Kunststück, das einige Experten mit bis zu vier Puppen gleichzeitig vollbringen können. Da
s ebenso spielerische wie faszinierende Orteke spricht Erwachsene und Kinder gleichermaßen an und bleibt ein Kernelement des kasachischen Volkskunstserbes und der generationsübergreifenden Kommunikation. Durch das traditionelle Ustaz-Shakird (Meister-Lehrling)-Lehrsystem, das von Bildungseinrichtungen und Wettbewerben Unterstützung erfährt, wird die Praktik aufrechterhalten und weitergegeben.
Turkmenisches Kunsthandwerk
Der turkmenischen Stickereikunst wird in turkmenischen Staatsnachrichten die Fähigkeit zugeschrieben, alles mit nur einer Nadel und einem Faden in „blühende Gärten und Wiesen“ verwandeln zu können. Die sehr aufwändigen Stickereien sind in ganz Turkmenistan sowie in einigen Regionen des Irans überaus beliebt. Sie ist ein charakteristisches Merkmal der Nationaltracht jeden Geschlechts und Alters und wird für Anlässe wie Hochzeiten und Nowruz-Feiern sowie für Alltagsgegenstände verwendet.
Um mit der Handarbeit zu beginnen, werden drei dünne Seidenfäden zu einem glänzenderen, festeren Faden zusammengedreht. Diesen sticht die Näherin dann mit einer dünnen Nadel in den Stoff und formt mit der Seide eine Reihe von Schlaufen, wobei sie die letzte Schlaufe mit dem Daumen der anderen Hand festhält, bevor sie nächste näht und so ein unverkennbares Muster entsteht. Mit ihren farbenfrohen Mustern, die oft die regionale Identität der Nähenden widerspiegeln, wird diese Kunstform innerhalb der Familie und Gemeinschaft über Generationen hinweg weitergegeben und hat auch in Kultur- und Bildungseinrichtungen weiterhin einen hohen Stellenwert.
Erzähltradition von Nasreddin
Diese mündliche Folkloretradition, die sich auf das Erzählen witziger Anekdoten über den Weisen und Betrüger Nasreddin konzentriert, erstreckt sich über eine große Region, die sämtliche zentralasiatischen Länder sowie die Türkei und Aserbaidschan umfasst. Die Anekdoten sind bekannt für ihre scharfsinnigen Kommentare zu gesellschaftlichen Normen und zum Alltagsleben, die sich durch eine schlagkräftige Kombination aus Weisheit, Witz und Überraschung auszeichnen. In einer Anekdote stellt ein Ladenbesitzer Nasreddin wütend zur Rede, weil er seine Schulden von 75 Piaster nicht bezahlt hat.
Nasreddin antwortet ungläubig: „Nun, Sie müssen wissen, dass ich Ihnen morgen 35 Piaster und nächsten Monat weitere 35 Piaster zahlen werde. Das heißt, ich schulde dir nur fünf Piaster. Schämst du dich nicht, mich wegen fünf Piaster so lautstark in der Öffentlichkeit anzusprechen?“
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Die Anekdoten werden in ganz Zentralasien ins Alltagsleben eingebracht und dabei wegen ihrer lehrreichen und unterhaltsamen Qualitäten genutzt, um Argumente zu untermauern oder Erklärungen zu beleben.
Seidenraupenzucht und traditionelle Herstellung von Seide für die Weberei
Die Seidenkultur, die den gesamten Prozess von der Seidenraupenzucht bis zur Herstellung von Endprodukten aus Seide umfasst, ist eine wichtige Tradition Zentralasiens, die sich über Jahrhunderte erstreckt und der Seidenstraße ihren Namen gab. Als Kunstpraxis Tadschikistans, Turkmenistans und Usbekistans (neben Afghanistan, Aserbaidschan, Iran und der Türkei) in die UNESCO-Liste aufgenommen, beinhalten die Seidenraupenzucht und die traditionelle Produktion von Seide zum Weben mehrere Phasen im Gesamtprozess zur Herstellung farbenfroher Stoffe und Teppiche.
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Landwirte züchten hier zu Maulbeersträucher, deren Blätter sie an Seidenraupen verfüttern. Diese bilden dann Kokons aus Seidenfasern, welche anschließend von den Kokons abgespult und zu Seidenfäden gesponnen werden, bevor sie gereinigt, gefärbt und zu leuchtenden Stoffen gewebt werden, die man häufig bei Hochzeiten und Familienfeiern sieht. Seidenraupenzucht und Seidenproduktion werden noch immer weitgehend von Dorfbewohnern und kleinen privaten Unternehmen betrieben. In Turkmenistan profitieren diese von staatlicher Unterstützung, in Usbekistan von spezialisierter Lehre und Forschung an höheren Bildungseinrichtungen.
Wo die UNESCO versagt: uigurische Kultur
Wie diese Vielfalt zentralasiatischer Traditionen zeigt, schärft die UNESCO-Liste das Bewusstsein für immaterielles Kulturerbe und mobilisiert damit dringend nötige Unterstützung für vielfältige, oftmals gefährdete, kulturelle Praktiken. Die Liste wurde jedoch auch als Instrument kritisiert, weil sie genau die kulturelle Vielfalt verschleiert, die die UNESCO vorgeblich zu würdigen sucht. Die Aufnahme uigurischer Traditionen in die Liste als Praktiken Chinas ist ein typisches Beispiel dafür. Zu den repressiven Maßnahmen der chinesischen Regierung gegen die Uiguren gehört die Zerstörung des Kulturguts dieser Gemeinschaft – vom Verbot der uigurischen Sprache in Schulen bis zur Zerstörung religiöser Stätten.
Versuche, das uigurische Erbe auszulöschen, wurden durch die Aufnahme zweier uigurischer Traditionen in die UNESCO-Liste verstärkt: Meshrep, eine reichhaltige Veranstaltung, die Gesang, Tanz und Unterhaltung kombiniert, sowie die Muqam-Gesangs- und Tanztradition. In beiden Fällen erfolgte die Nominierung durch China. Was folgte, war die Vereinnahmung dieser Traditionen durch die chinesische Regierung. Wie die Musikethnologin Rachel Harris erklärt, werden Volksversammlungen verboten zugunsten „bereinigter, kommerzialisierter und säkularisierter“ Darbietungen der Praktiken, bei denen die wichtigsten religiösen und gemeinschaftlichen Aspekte fehlen.
Die UNESCO-Liste zeigt viele zentralasiatische Traditionen in ihrer ganzen Pracht. Die Art und Weise der Beteiligung Chinas bedeutet jedoch, dass die Unterstützung des uighurischen Kulturerbes derzeit vom Schweigen über seine Auslöschung überschattet wird.
Emma Bain für Novastan
Aus dem Englischen von Michèle Häfliger
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