Zum dritten Mal jährten sich im Januar der „Qantar“ – der blutige Januar. Aus diesem Anlass veröffentlichte The Village eine Chronik der 33-jährigen Protestgeschichte im Unabhängigen Kasachstan.
33 Jahre Unabhängigkeit, Dutzende von Protesten. Einige von ihnen spontan und örtlich begrenzt. Andere groß angelegt mit blutigem Ende. Eine Chronik der wichtigsten Ereignisse.
1991-2000: Kasachstans Übergang von einer parlamentarischen Republik zu einer superpräsidialen Republik
1. Dezember 1991. Die ersten nationalen Wahlen zum Präsidenten der damaligen Kasachischen SSR stehen an. Einziger Kandidat: Nursultan Nazarbaev.
Offizielle Angaben sprechen von einer Wahlbeteiligung von 88,2 Prozent und 98,8 Prozent Stimmen für die alternativlose Kandidatur Nazarbaevs. Den Versuch, sich als Alternative aufstellen zu lassen, unternimmt nur einer: Hasen Qojahmetov. Doch die Behörden verwehren ihm die Kandidatur – Qojahmetov gelingt es nicht, die unglaubliche Zahl von 100.000 Unterschriften zu sammeln.
Zu dieser Zeit hat Kasachstan als parlamentarische Republik eine starke Legislative: den Obersten Sowjet. Ihm gegenüber ist der Präsident rechenschaftspflichtig. Da Nazarbaev dieses System jedoch als hinderlich empfindet, leitet er im Dezember 1993 mit dem ehemaligen Stellvertreter des Obersten Sowjets, Zamanbek Nurqadylov, die Selbstauflösung der Räte ein.
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Als vereinsgetragene, unabhängige Plattform lebt Novastan vom Enthusiasmus seiner ehrenamtlichen Mitarbeiter:innen – und von eurer Unterstützung!In nur wenigen Tagen treten 200 von 360 Abgeordneten zurück – einige aus Protest, andere finden einen neuen Regierungsposten. Als Zamanbek Nurqadylov elf Jahre später in die Opposition wechselt, bedauert er öffentlich sein Mitwirken bei der Auflösung des Obersten Sowjets. Am 12. November 2005, am Vorabend der Präsidentschaftswahlen, sirbt Nurqadylov in seinem Haus. Drei Schüsse in Herz und Kopf. Laut Polizei ein Selbstmord.
Doch zurück in den März 1995. An die Stelle des Obersten Sowjets tritt die „Versammlung der Völker Kasachstans“. Sie soll „den Willen der Bürger des Landes widerspiegeln“.
Auf Ersuchen der Versammlung führt Nazarbaev sogleich zwei Volksabstimmungen durch. Die erste bringt ihm eine Verlängerung seiner präsidialen Befugnisse ein, die zweite eine neue Verfassung. Mehr als 90 Prozent der Wähler unterstützen den Präsidenten in seinem Vorhaben und schaffen so den Nährboden für seinen regierungspolitischen Alleingang.
An die Stelle des Obersten Sowjets und des Verfassungsgerichts tritt durch die neue Verfassung nun ein Zweikammerparlament, bestehend aus Mäjilis (Unterhaus) und Senat. Als eine seiner ersten Amtshandlungen verordnet Nazarbaev dem Parlament ihm alle Gesetze zur Unterzeichnung weiterzuleiten, andernfalls träten diese nicht in Kraft. Die Verfassungsänderungen häufen sich, 1.100 werden es insgesamt sein.
2001-2010: Gründung einer demokratischen Bewegung, Präsidentschaftswahlen und die Tragödie von Şanyrak
2001
18. November 2001. Bei einer Pressekonferenz kündigt eine Gruppe prominenter Politiker und Unternehmer die Gründung der Bürgerbewegung „Demokratische Wahl Kasachstans“ (DWK) an.
Zwei Tage bezeichnet Qasym-Jomart Toqaev, damals Premierminister, die Demokraten als politische „Überraschungseier“ und schlägt vor, die Mitglieder der DWK von ihren Posten zu entbinden.
Juristische Konsequenzen folgen wenige Monate später: Für zwei der DWK-Mitglieder, Muhtar Äblıazov und Ğalymjan Jaqijanov, lautet das Urteil sechs bzw. sieben Jahre Haft. Zwar kommt Äblıazov bereits 2003 frei, doch nur gegen ein Versprechen: das der politischen Inaktivität. Fünf Jahre später verlässt er als Vorsitzender der BTA Bank das Land, kurz nachdem die Bank gerade in die Hände des Staats gefallen war.
2005
19. Januar, Almaty. Ein paar Einwohner beantragen die Durchführung einer friedlichen Kundgebung, bei Vertreter verschiedener oppositioneller Parteien sprechen sollen. Das Akimat lehnt ab.
Zehn Tage später versammeln sich mehr als 2.500 Menschen auf dem Gelände des Büros der DWK-Bewegung. Nachdem die Demonstranten Schilder mit Aufschriften wie „korrupte Akims“ und „geschmierte Gerichte“ verbrannt haben, ziehen sie durch jene Straßen, die 1986 Schauplatz der Jeltoqsan-Unruhen waren.
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Soldaten und Polizisten mit Helmen und Schutzwesten versperren ihnen den Weg. Nach einem Aufruf, die Demo zu beenden, verhaften sie acht der DWK-Aktivisten.
4. Dezember, Präsidentschaftswahlen in Astana. Nazarbaev tritt seine dritte Amtszeit an. Ein einziger Oppositionskandidat stellt sich ihm – Jarmahan Tujaqbaı. Vertreter seines Hauptquartiers berichten über zahlreiche rechtswidrige Vorfälle in Wahllokalen, Doch Anstrengungen, Massendemonstrationen in die Wege zu leiten, lassen sie aus. Unabhängige Beobachter erkennen die Wahl nicht als fair an.
2006
14. Juli, Şanyrak, in der Nähe von Almaty. Nach der gerichtlichen Entscheidung, Dutzende von Häusern im Dorf Şanyrak seien illegal gebaut worden, rücken Polizeibeamte zum Abriss an. Bei ihrer Ankunft warten die Dorfbewohner schon seit den frühen Morgenstunden auf sie. Die Frauen sind an vorderster Front: Sie flehen die Polizisten an, das Dorf nicht zu betreten. Entlang der Hauptstraße von Şanyrak haben die Bewohner eine Barrikade errichtet. Die Forderung des Aktivisten Rysbek Sarsenbаiuly, das Problem friedlich zu lösen, ist nutzlos.
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Die Polizei passiert die Absperrung der Frauen mit Leichtigkeit. Die Bewohner antworten mit Pflastersteinen und fordern den Rückzug der Polizei.
Diese zieht sich für eine Weile zurück, um wenig später mit Verstärkung in Form von Feuerwehrautos und speziellen Schallwaffen erneut in das Dorf einzudringen. Die Bewohner wehren sich erneut – mit Pflastersteinen und Molotowcocktails.
Während der Konfrontation nehmen Unbekannte den Polizeileutnant Aset Beisenov als Geisel, fesseln ihn an einen Pfahl, übergießen ihn mit Benzin und setzten ihn in Brand. Im Krankenhaus erliegt Beisenov schließlich seinen Verbrennungen.
Doch die Dorfbewohner bilden keine einheitliche Mauer – einige von ihnen verteidigen die Polizei gegen die aufgebrachte Menge. Schlussendlich, nach mehreren erfolglosen Versuchen, das Dorf zu betreten, ziehen sich die Behörden schließlich zurück.
Für einige Dutzend Mitbewohner zieht die Straßenschlacht lange Haftstrafen von bis zu 18 Jahren nach sich. Besonders hart verurteilt das Gericht diejenigen, die der Ermordung des Polizisten beschuldigt werden.
2007
10. Februar, Almaty. Mehr als tausend Menschen versammeln sich, um Altynbek Sarsenbaev zu gedenken – einem prominenten Politiker und Staatsmann, der in den 1990er und frühen 2000er Jahren dazu enger Mitarbeiter Nazarbeavs gewesen.
Nachdem Sarsenbaev die Regierung 2004 allerdings der Wahlmanipulation beschuldigt hatte und zurückgetreten war, fand man ihn zwei Jahre später tot am Straßenrand in einem Dorf bei Almaty auf. Schusswunden zierten seinen Körper. Für Angehörige keine Frage: ein politisch motivierter Mord.
Die Gedenkkundgebung ist die erste offiziell genehmigte Versammlung in Kasachstan, die im Stadtzentrum stattfinden darf.
2010
1. Mai, Tag der Völkervereinigung, Büro der Alğa-Partei, Almaty. Parteimitglieder und Personen des öffentlichen Lebens treffen sich anlässlich einer nationalen Sitzung der demokratischen Gemeinschaft Kasachstans. Die Polizei umstellt das Bürogebäude. Als einige der Teilnehmer herauskommen, um Blumen am Unabhängigkeitsdenkmal niederzulegen, hindert die Polizei sie daran. Zwei von ihnen treten daraufhin in einen Hungerstreik, unmittelbar vor der Polizeiabsperrung. Andere Aktivisten schließen sich ihnen an.
Trotz Handgemengen und Geldstrafen dauert der Streik an. Zelte und Plakate unterstreichen die unmissverständliche Forderung der Aktivisten: Nazarbaev muss weg. An Tag zehn wird schließlich einer der Hungerstreikenden ins Krankenhaus eingeliefert.
2011-2012: Tragödie von Jañaözen und Kundgebungen der „Dissidenten“
Mai 2011, Gebiet Mañğystau. Ölarbeiter streiken für höhere Löhne. Sieben Monate lang. Einige von ihnen werden von der Polizei festgenommen, andere getötet.
25. Mai. Die Behörden verhaften die Anwältin Natalia Sokolova, eine Anwältin einer AG der Ölindustrie wegen „Anstiftung zu sozialem Unfrieden“. Das Urteil: sechs Jahre Haft.
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3. August. Unbekannte töten Jaksylyk Turbaev, einen 28-jährigen Bohrer aus der Ölbranche, an seinem Arbeitsplatz. Für die Streikenden eine klare Sache: die Tötung ist politisch motiviert.
16. Dezember 2011, zwanzig Jahre Unabhängigkeit Kasachstans. Das Ende des Streiks: Die Polizei treibt die Demonstranten mit Schüssen auseinander. Die offizielle Bilanz: 16 Tote und hundert weitere Verletzte.
Die Behörden erwidern: „Polizei hat in Selbstverteidigung geschossen“. Doch einige Tage später tauchen Videos auf, die an der Willkür keine Zweifel lassen.
2012
25. Februar, Proteste der Opposition in Almaty und weiteren Städten. Sie fordern dreierlei: den Namen der Person, die die Erschießung von Menschen im Dezember 2011 angeordnet hatte; die Einbeziehung der Bürger in die Untersuchung der Ereignisse von Jañaözen von 2011; die Freilassung aller verhafteten Oppositionellen.
Prominente Oppositionelle fehlen – teils in Haft, teils im französischen Exil. Doch die Hauptgründe für die geringe Teilnehmerzahl – Tausend Menschen – sind andere: der Frost und die Polizei. Letztere versucht die Proteste zu unterbinden und nimmt die Anführer der „Dissidenten“ fest. Der Journalist Jermurat Bapi und die Menschenrechtsaktivistin Bahytjan Toregojina erhalten Geldstrafen.
Eine zweite Kundgebung der „Dissidenten“ versammelt wenig später etwa 200 Teilnehmer. Sie fordern: die Einstellung des Prozesses von Jañaözen; die Beendigung der Verfolgung der Opposition; ein erleichtertes Verfahren zur Abhaltung friedlicher Versammlungen; die Ermittlung im Fall versuchten Mordes an dem Journalisten Lukpan Ahmedjarov. Die Polizei nimmt an diesem Tag etwa zehn Personen fest.
Nach der Tragödie von 2011 sinkt das gesellschaftliche Engagement der Kasachstaner dramatisch. Das zeigt die Dokumentation des Büros für Menschenrechte: 162 friedliche Versammlungen für 2011, lediglich 32 für 2018.
2016-2018: Kundgebungen und Aktionen für die Freilassung von politischen Gefangenen
30. März, der kasachische Wirtschaftsminister Jerbolat Dosaev (jetzt Akim von Almaty – Anm. d. Red.) kündigt an, ab dem 1. Juli 1,7 Millionen Hektar landwirtschaftliche Nutzfläche zu versteigern. Die unzufriedene Antwort in den sozialen Netzwerken lautet: Protest.
24. April, erste Massenkundgebung in Atyrau, etwa 4.000 Teilnehmer. Sie sind gegen den Verkauf von Land an Ausländer. Drei Tage später folgen Kundgebungen in Aqtöbe und Semeı.
28. April, Aqtau. Ein paar Dutzend Menschen versuchen sich in einer Kundgebung. Die Polizei hindert sie daran.
29. April, Astana. Das Hotel Astana verweigert Personen des öffentlichen Lebens eine Konferenz zur Landfrage in ihren Räumen abzuhalten. Der Grund: Druck der Ordnungskräfte.
Am selben Tag planen Aktivisten eine Veranstaltung in Almaty. Vorsorglich nimmt die Polizei die Veranstalter jedoch noch vor Beginn dieser fest.
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1. Mai, im westkasachischen Jañaözen. Eine Versammlung mit hundert Teilnehmern. Am selben Tag vertreibt die Polizei in Qyzylorda die Aktivisten vom Platz.
4. Mai, Oral, Westkasachstan. Eine Kundgebung mit mehreren Dutzend Teilnehmern.
5. Mai, Astana. Nazarbaev kürzt das Bodengesetz und entlässt den stellvertretenden Wirtschaftsminister Kairat Uskenbaev. Wirtschaftsminister Dosaev tritt freiwillig zurück.
Für den 21. Mai planen Aktivisten Kundgebungen im ganzen Land. Die Behörden lehnen jedoch massenhaft Anträge ab. Am Stichtag nimmt die Polizei schließlich mehrere Dutzend Aktivisten und Journalisten fest.
Im Mai 2018 fordern mehrere hundert Demonstranten die Freilassung politischer Gefangener. Erneut nimmt die Polizei Dutzende von ihnen fest. Inhaftierungen und Geldstrafen sind die Folge.
2019-2024: Toqaevs Amtsantritt und der Qañtar
März 2019. Nursultan Nazarbaev tritt von seinem Amt zurück. Muhtar Äblıazov, Vorsitzender der verbotenen DWK, ruft am 22. März aus seinem französischen Exil (Anm. d. Ü.) zu einer Kundgebung in Astana auf. Die, die kommen, nimmt die Polizei fest.
Wenige Wochen später, 1. und 9. Mai, Astana und Almaty. Hunderte Menschen nehmen an nicht genehmigten Kundgebungen teil. Sie skandieren regierungsfeindliche Slogans. Ihr Ziel: der Boykott der Präsidentschaftswahlen am 9. Juni 2019. Zuerst beobachtet die Polizei das Geschehen. Dann folgen die Festnahmen, wie Videos von Journalisten und Teilnehmern bestätigen. Spontane Versammlungen in Qarağandy, Şymkent und Aqtöbe tragen den Unmut weiter durchs Land. Unter den Teilnehmern finden sich Anhänger der DWK, aber auch engagierte Bürger, die politische Reformen fordern.
9. Juni, der Tag der Wahl und Toqaevs Wahlsieg. Tausende zeigen sich nicht einverstanden, versammeln sich zu den bislang massivsten Aktionen. Offiziellen Angaben zufolge nimmt die Polizei an diesem Tag allein in Almaty und Astana rund 4.000 Menschen fest. OSZE-Beobachter bezeichnen die Wahlen 2019 in Kasachstan als unfrei, voll von Verstößen und Massenverhaftungen.
Qañtar – der Blutige Januar 2022
2. Januar 2022, Jañaözen. Die Einwohner demonstrieren massiv gegen die Erhöhung des Preises für Flüssiggas. In den Tagen darauf schließen sich weitere Städte an. Hier und da Massenunruhen. Toqaev verhängt im ganzen Land den Ausnahmezustand.
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7. Januar, Astana. Toqaev weist die Sicherheitskräfte an, „ohne Vorwarnung [auf die Demonstranten] zu schießen“. Unter ihnen sind auch friedliche, unbewaffnete Bürger. Offiziellen Angaben zufolge tötet die Polizei allein während des Qañtars238 Menschen, darunter auch Kinder.
In diesem Zusammenhang registrieren die Strafverfolgungsbehörden mehr als fünf Tausend strafrechtliche Ermittlungsverfahren: davon 131 wegen Massenunruhen, 27 wegen Terrorismus, 146 wegen Mordes. Am 2. November unterzeichnet Toqaev ein Amnestiegesetz für die Demonstranten, das tausend von ihnen betrifft. Die Menschenrechtsaktivistin Bahytjan Toregojina ist sich sicher, dass dieses Gesetz lediglich der Einstellung der Ermittlungen dient.
Bis heute fehlt es an einer umfassenden und unabhängigen Ermittlung, die unvoreingenommen alle Ursachen sowie die Chronologie der Januar-Tragödie aufklären würde. Die Verfahren zu Fällen im Zusammenhang mit dem Qanğtarund den lokalen Streiks der Ölarbeiter in Westkasachstan dauern bis heute an.
Sultan Temirhan für The Village
Aus dem Russischen von Arthur Siavash Klischat