In seinem kürzlich auf Deutsch erschienenen Roman „Kobra und der Herr Genosse Präsident“ beschreibt der turkmenische Schriftsteller Ak Welsapar beunruhigend exakt, zu was Mensch (und Tier?) fähig sind. Eine Rezension.
Kobra der Schlangerich hat genug davon, dass die Menschen seine Heimat, die Wüste, mit giftigem Müll verpesten und der Landschaft für ihre Baumwolle das Wasser entziehen. Also häutet sich Kobra, nimmt Menschengestalt an, verabschiedet sich von der Wüste und macht sich auf in die Menschenwelt. In den höchsten Reihen der Macht will er sein Glück versuchen.
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Zwischen perfiden Absurditäten und unbequemen Wahrheiten
Gemeinsam mit Kobra entdeckt die Leserin vom jüngst auf Deutsch erschienenen Roman „Kobra und der Herr Genosse Präsident“ ein despotisches, totalitäres Regime: wie die Bevölkerung ausgebeutet, Feinde eliminiert und dem Präsidenten sämtliche Wünsche von den Lippen abgelesen werden. Dabei stößt man auch auf einige Absurditäten: Auf einmal werden Tote nicht mehr gemäß Brauchtum ehrwürdig bestattet, sondern in einem eigens eröffneten Museum ausgestellt. Dort sollen sie als Denkmal dessen dienen, „wie man zu sterben hat: schweigend, ohne Ansprüche an die Regierung zu stellen“. Dies noch dazu in einem Land, in dem das oberste Mantra lautet: „Kein Mensch stirbt vor seiner Zeit“ – natürlich die Worte des Herrn Genossen Präsidenten höchstpersönlich.
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Ein zentrales Thema von Kobra ist die Zerstörung der Umwelt. Diese wird insbesondere durch den aggressiven Baumwollanbau vorangetrieben, mit einem hohen Wasserverbrauch zur Bewässerung, aber auch der Einsatz von Pestiziden in großem Maße. Die Menschen kümmern sich nicht darum, was sie der Natur und ihren Lebewesen antun – und letztlich sich selbst. Die Politik weigert sich, wirksame Maßnahmen zum Schutz der Umwelt zu ergreifen und treibt die Zerstörung gar aktiv voran. Damit sind Kobra und Präsident eine Allegorie für Umwelt und Politik, deren Interessen sich allzu oft widersprechen.
Stilistisch schwankt „Kobra“ zwischen minutiösen Beschreibungen der Umstände in der Despotie, von Personen und Persönlichkeiten sowie deren Schicksal und ellenlangen Monologen, die das Pathos der Sprechenden überzeugend hinüberbringt. Interessant ist auch die allwissende Perspektive des Erzählers, wodurch ein Einblick in die Gedankenwelt fast sämtlicher Beteiligter gewährt wird. Gleichzeitig bleibt die wahre Natur einiger Protagonisten bis ganz zum Schluss geschickt verborgen.
Verarbeitung persönlicher Erfahrungen?
Der Autor des Buches weiß, wovon er spricht: 1956 in Mary (damals Turkmenische SSR) geboren, absolvierte Ak Welsapar seine beiden Masterabschlüsse in Moskau. Durch kritische Artikel, in denen er die ökologischen Probleme in Turkmenistan – nicht zuletzt aufgrund des Baumwollanbaus – anprangerte, wurde die Weltöffentlichkeit auf die großen ökologischen Probleme Zentralasiens aufmerksam. Infolgedessen war Welsapar gezwungen, seine turkmenische Heimat zu verlassen. Seither lebt und arbeitet er in Schweden als Journalist und Schriftsteller.
Unklar bleibt, inwiefern der Autor seine eigenen Erlebnisse im Buch einbringt. Immer wieder finden sich gewitzte und manchmal scheinbar sinnfreie Zitate, die zum Nachdenken anregen: „Wir haben mit dem Heute nichts gemein, wir streben der Zukunft entgegen!“ – „Diebstahl ist ein sicheres Zeichen für die Furcht des Schwachen vor dem Starken und ein Eingeständnis der eigenen Nutzlosigkeit.“ Damit macht Welsapar die Gedankengänge eines Despoten beunruhigend nachvollziehbar und untermalt den Größenwahn, der in totalitären Regimes steckt – und vielleicht auch im Menschen an sich.
Kobra und der Herr Genosse Präsident ist eine scharfe Analyse von Egozentrismus, Herrschaftsgelüsten und dem Glauben, dass das Volk einen braucht – überschattet von dunklen Gedanken, dass die engsten Vertrauten hintergehen und das „geliebte Volk“ ihn eben doch stürzen könnte. „Es lebe der Herr Genosse Präsident!“
Ak Welsapar: Kobra und der Herr Genosse Präsident. 500 Seiten, Dağyeli Verlag, ISBN: 978-3-9355975-9-3, Juni 2023.
Michèle Häfliger
Redakteurin für Novastan
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