Nach dem Anschlag , der am 3. April Sankt Petersburg erschütterte, stehen viele zentralasiatische Arbeitsmigranten in Rusland unter Generalverdacht. Die Autorin und Journalistin Elisaweta Alexandrowa-Sorina hat einen Aufruf zu mehr Toleranz geschrieben. Das russische Original des Artikels erschien bei mk.ru und wurde auf der kirgisischen Nachrichtenplattform Yntymak.kg übernommen.
Bis zum heutigen Tage hat keine terroristische Organisation sich für den Terroranschlag in Sankt-Petersburg verantwortlich erklärt. Die Täter werden aber systematisch unter Migranten gesucht. In den Augen der Gesellschaft gelten sie als Schuldig, solang sie nicht das Gegenteil bewiesen haben. Schon am Folgetag des Anschlags wurden vorschnell vermeintliche Täter gefunden.
Vorschnelle Verdächtige
Der erste „Terrorist“, den die Medien entdeckten, war ein bärtiger Mann in schwarzer Kleidung. Sofort konnte man alles Mögliche zu seiner Herkunft lesen. Dann erschien er aber plötzlich selbst bei der Polizei und der Verdacht stellte sich als unbegründet heraus. Interessant ist vor allem, was danach passierte: Zuerst konnte er nicht nach Ufa fliegen, weil andere Fluggäste ihn nicht an Bord haben wollten. Dann erfuhr er, dass er wegen eines Antrags des regionalen Ermittlungsausschusses seinen Job verloren hatte.
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Danach verdächtigte man einen Studenten aus Kasachstan, der selbst beim Anschlag ums Leben gekommen war. Auch der Verdacht wurde widerlegt, in der Zwischenzeit waren aber bereits hunderte Artikel über den kasachischen „Terroristen“ erschienen. Die Botschaft ist klar: Migrant bedeutet Terrorist.
Schließlich trat der dritte Selbstmordattantäter in Erscheinung. Über Akbarschon Dschalilow wusste man erst mal nur, dass er 22 Jahre alt war, russischer Staatsbürger war, ursprünglich aus Kirgistan kam und als Koch und Automechaniker gearbeitet hatte. Dazu häuften sich Gerüchte, Nachreden und Mutmaßungen.
Dschalilow wurde ohne jede Untersuchung von der Öffentlichkeit verurteilt und schuldig gesprochen. Laut dem Prinzip der Unschuldsvermutung muss der Angeklagte solange als unschuldig angesehen werden, bis seine Schuld in einem öffentlichen gesetzesgemäßen Verfahren nachgewiesen ist. Dschalilow hat man aber nach dem Tod schnell gehetzt, weil er asiatisch aussieht und gut in das Bild eines potentiellen Terroristen passt.
Es spielte keine Rolle, dass er russischer Staatsbürger war. Im gesellschaftlichen Bewusstsein sind Menschen aus Zentralasien immer nur Migranten (dafür gehört aber Gérard Depardieu zu uns).
Migranten als Sündenböcke
Jedes zerrüttete Land benötigt ständig einen Sündenbock, dem man alle Probleme zuschreiben kann. Heute sind unsere Mitbürger wie nie zuvor einer fremdenfeindlichen Stimmung ausgesetzt. Es gibt externe Feinde: Ukrainer oder Amerikaner, die man für globale Misserfolge verantwortlich machen kann. Und es gibt innere Feinde, nämlich Migranten, die für die hohe Kriminalität, die niedrigen Löhne, die hohen Preise, das schlechte Wetter und das unglückliche Privatleben herhalten müssen.
Dabei wird der überwiegende Teil der Morde von einheimischen Bürgern begangen. Meistens in den Haushalten, nach Saufereien, Streitigkeiten und Messerstechereien. In Tadschikistan, Kirgistan und Usbekistan ist die Mordrate hingegen zwei- bis dreimal niedriger. Und Migranten sind für weniger als 5% der Kriminaltaten in Russland verantwortlich.
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Doch die altansässigen Russländer empören sich über die große Anzahl an Migrantenkindern in den Schulen. Sie wollen, dass diese Kinder sich integrieren und russifizieren, aber ohne russische Schulen, Kindergarten und gar Spielplätze zu besuchen. Kindern, deren Eltern keine Registrierung in Russland haben, wird die Ausbildung verweigert. Tatsächlich ist die Bildungslage in Russland katastrophal: Der Bereich macht 3,8% (2012) des Haushalts aus, damit liegt Russland weltweit irgendwo zwischen Sierra-Leone und Tadschikistan. Es ist komisch, den illegalen Migranten die Schuld dafür zu geben, denn sie sind an der Haushaltsführung nicht beteiligt.
Viele Russländer meinen, die Migranten sollten nicht „auf Kosten der Steuerzahler“ in ihren Krankenhäusern behandelt werden. Sie stören sich nicht an Geschichten wie der einer Frau aus Usbekistan, die ihr Kind vor dem Eingang einer Geburtsstation zur Welt brachte, weil sie nicht hinein gelassen wurde. Oder die Geschichte eines Herzinfarktkranken aus Zentralasien, der aus dem Krankenhaus geworfen wurde, damit er – Gott beware – nicht dort stirbt.
Im Jahr 1990 gab es in der russischen Sowjetrepublik 12.800 Krankenhäuser und andere medizinische Einrichtungen, heute sind es nur noch 5400. Im selben Zeitraum ist die Zahl der Betten in den Entbindungsstationen von 122 700 auf 69 400 gesunken. Die Wut richtet sich aber gegen die Migranten, die meistens nur um erste medizinische Hilfe oder einfache Operationen bitten.
Musterkinder gegen die Vorurteile
Ich kenne eine Familie aus Tadschikistan, die in Sankt-Petersburg arbeitet. Akmal arbeitet auf einem Gemüsemarkt, Ferusa als Frisörin. Sie haben drei kleine Kinder und wohnen in einer Mietwohnung in einem Neubau in Kuptschino. Sie lassen ihre Kinder nicht zuhause spielen, um die Nachbarn nicht zu ärgern. Die Nachbarskinder können aber ruhig laut stampfen und kreischen.
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Der ältere Sohn geht in die erste Klasse. Seine Russischkenntnisse sind ausgezeichnet und er kann akzentfrei sprechen, aber die Lehrerin und die anderen Kinder nennen ihn „den dummen Tadschiken“. Um den beleidigenden Spitznamen loszuwerden verbringt er seine ganze Zeit hinter Büchern und gehört zu den besten seiner Klasse. Wegen dem ständigen Pauken und Mobbing hat er starke Kopfschmerzen, wogegen der Arzt ihm Tebletten verschrieben hat.
Er kann Gedichte von russischen Dichtern aufsagen, die man erst in den höheren Klassen lernt, aber die Lehrerin lässt ihn nicht mit den anderen Kindern auf den Schulfesten auftreten. Der Vater schenkt der Lehrerin immer wieder Früchtedosen. Sie nimmt sie zwar gerne an, aber ihr Verhalten gegenüber dem „dummen Tadschiken“ ändert sie nicht.
Ferusa trägt ein Kopftuch, Akmal einen Bart und einen tadschikischen Hut. Sie sind die misstraulichen Blicke schon gewohnt. Sie wollen ihre Traditionen einhalten, aber auch sein, wie alle anderen. Dafür müssen sie besser als alle anderen sein. Ihre zweijährige Tochter, die kaum gehen kann, ist auch schon getrimmt: Sie weiss fast alle Länderhauptstädte. Dabei hat sie wie jedes andere zweijährige Kind eigentlich keine Ahnung von Ländern oder Hauptstädten. Dafür können ihre Eltern allen überraschten Gästen ihr Töchterchen vorzeigen und beweisen, dass sie keine „dummen Tadschiken“ sind.
Migranten unter Generalverdacht
Nach dem Terroranschlag in Sankt-Petersburg scheuen sich die Leute vor dunkelhaarigen Frauen in Kopftüchern und fliehen aus der U-Bahn, wenn ihnen ein bärtiger Muslime begegnet. So war es auch in Moskau nach den Terroranschlägen im März 2010. Jeder Mensch aus Zentralasien oder dem Kaukasus wird als potentieller Selbstmordattentäter wahrgenommen.
Akmal und Ferusa fürchten sich, öfter als nötig draußen zu sein. Wenn sie zur Arbeit gehen, nehmen sie kleine Gassen, um niemandem ins Auge zu fallen. Sie haben nichts verbrochen, wissen aber, wie schnell sie zum Sündenbock werden können. Bei der Versammlung ihrer Diaspora wurde ihnen sanft nahegelegt, sie sollen nicht auffällig sein, auch wenn mit ihren Unterlagen alles in Ordnung ist.
Der Straßenfeger und sein Sohn, die unsere Straße und den Boden am Hauseingang reinigen, wohnen im Keller neben dem Müllschacht. Frisörinnen in einem Frisörsalon, der übrigens einem ihrer Landsmann gehört, wohnen in einer Garage. Im August letzten Jahres starben 14 Migranten aus Kirgistan bei einem Feuer in einer Druckerei. Sie erstickten im Schlaf. Die Opfer übernachteten an ihrer Arbeitsstelle.
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In einem „elitären Bezirk“ in Moskau, in dem Wohnungen hunderte Millionen kosten, nisten sich Asiaten im Keller ein. Und sie können froh sein, wenn keiner von dort vertreibt. Das sind alles typische Geschichten von Arbeitsmigranten in Moskau. Die verängstigten Menschen, die man hier für sprechende Arbeitsgeräte hält, erschrecken uns. Aber vielmehr sind sie selbst von uns erschrocken.
Nach den Terroranschlägen werden Migranten zunehmend beobachtet. Nicht nur von Polizisten, sondern auch von besorgten Bürgern. Sie haben Angst und fangen an zu hassen. Die Geschichte eines Petersburgers, der kurz nach dem Anschlag auf der Suche nach „Mudschaheddin“ ein ganzes Dorf verbrannt hat, ist vielleicht nur der Anfang einer großen Welle der Migranten-Phobie.
Die Geschichte kennt viele Beispiele, in der wir uns an nationalen Minderheiten ausgelassen haben. Vor genau 100 Jahren gab es in Petrograd (früherer Name von Sankt Petersburg, Anm. d. Red.) eine Massenhysterie wegen eines Komplotts von Kaukasiern.
Alles begann damit, dass die Nachbarn eines Tschetschenen, der kein Russisch konnte, ihn bei der Polizei meldeten. Er schien ihnen verdächtig, weil er morgens früh aufstand und irgendwohin ging. Polizisten kamen zu diesem Mann und die Klatschpresse schrieb gleich, bei der Hausdurchsuchung seien eine Bombe, ein Maschinengewehr und viele Patronen gefunden wurden. Ob es stimmte, wird keiner je erfahren. Bekannt ist nur das traurige Schicksal dieses Tschetschenen und vieler anderen Kaukasier, die damals der wütenden Menschenmenge vor die Flinte kamen.
Genauso traurig wie die Schicksale der Migranten, die heute der Menge vor die Flinte kommen.
Elisaweta Alexandrowa-Sorina
mk.ru
Aus dem Russischen von Liliya Gubaschewa