Nadine Boller, gebürtige Schweizerin, ist Dokumentarfilmerin mit einer Liebe für Kirgistan. Ihr letzter Film „Erkinai – die Halbnomadin“ wurde auf Kika, dem deutschen Kinderkanal, gesendet. Für ihre neuesten Recherchen verbrachte sie mit ihrer kirgisischen Freundin Mahabat ein paar Tage in deren Heimatdorf Ak-Talaa, im Zentrum Kirgistans gelegen. In ihrer sechs-teiligen Serie gibt Nadine einen sehr persönlichen Einblick in die Kultur und Geschichte des kleinen Dorfes und lässt uns hautnah dabei sein. Diese Woche begleiten wir Mahabat in ihr altes Haus.
Teil 1: Mairamgül Eje, ihre Familie und die liebe Religion
Teil 2: Maraimbek, Gülzat und der Brautraub
Teil3: Was das Eurohaus mit Korruption zu tun hat
Wir nähern uns einem weißen Haus mit einer hellblauen Tür und zugenagelten Fenstern. Die Stromkabel sind gekappt und man erkennt nicht, wo der Garten aufhört und die Wildnis anfängt. „In diesem Haus habe ich meine letzten fünf Jahre in Ak-Talaa verbracht,“ erklärt Mahabat.
„Und davor?“, wollte ich wissen. Mahabat zeigt auf einen Lehmanbau, den ich zuerst für eine Scheune oder einen Stall hielt. „Hier.“
Als sie meinen verwirrten Blick sieht, erklärt sie: „Das ist der älteste kirgisische Baustil, den man findet – alles aus Lehm und Stroh, niedrige Decken und fast keine Fenster, damit die Wärme drinnen bleibt. Als die Nomaden von der Sowjetunion zur Sesshaftigkeit gezwungen worden sind, haben sie solche Häuser gebaut.“
Sparsamkeit unter widrigen Lebensumständen
Niedrige Decken in der Tat. Die Zimmer sind nicht höher als Mahabat selbst. Durch ein offenes Fenster ist sie in das Häuschen gestiegen und ist erstmal erstaunt, wie eng alles ist: „Das kam mir als Kind viel grösser vor! Hier, das war mein Lieblingsspielzeug“. Sie zeigt auf einen Holzpfeiler, der die Decke vom einstürzen bewahrt. Der unterste Teil sieht glatt aus und die Ecken sind etwas abgerundet. „Als Kind habe ich mich Stundenlang um diesen Pfosten im Kreis geschwungen. Was anderes gab’s nicht zum Spielen.“
Mahabat schaut sich um und erinnert sich genau, wer wo gesessen hat, wo geschlafen wurde und wo sie immer hingepinkelt hat. In der einen Ecke des Zimmers wurde eine Grube ausgehoben. „Hier in diesem Loch haben wir die Kartoffeln aufbewahrt. Unser Haus war verformbar, da alles aus Lehm gemacht ist, auch der Boden.“
Ich kenne Mahabats Wohnung in Berlin. Sie lebt in der siebten Etage in einem modernen Studio mit Aussicht über die Nachbarschaft. Jetzt erst wird mir klar, wie groß der Kontrast zu ihrer Kindheit ist. Interessanterweise finden sich gewisse Sachen von Mahabats früherem Leben in Berlin wieder. „Im Winter mache ich den Kühlschrank ganz aus und lagere alles draußen auf dem Balkon. Kühlschränke gab es in Ak-Talaa nicht. Also haben wir damals auch alles immer an den kühlen Orten des Hauses aufbewahrt.“
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„Ich spare in Berlin auch extrem mit dem Wasser. Wenn ich dir sagen würde, wie viel Geschirr ich mit einer Tasse voll sauber kriegen würde, würdest du mir das nicht glauben. In Ak-Talaa gibt es ja immer noch kein fließendes Wasser und als Kind war es meine Aufgabe, mit dem Esel die Kanister am Brunnen zu füllen – eine äußerst mühsame Arbeit, vor allem im Winter. Also habe ich mir selbst beigebracht, mit dem Wasser so sparsam wie möglich umzugehen.“
Vom Lehmzimmer zu einer richtigen Wohnung
In dem neueren Haus, welches zugenagelt neben der Lehmhütte steht, hat vor ein paar Jahren eine arme Familie gewohnt. Aber dann wurde das Haus verkauft und sie mussten kurzerhand ausziehen und notgedrungen ein kleines Zimmer aus Lehm bauen, wo sie alle zusammen drin gelebt haben. Die Käufer des Hauses aber hatten kein Vieh und konnten sich nur schwer eine Existenz auf dem harten Pflaster Ak-Talaas aufbauen. Irgendwann haben sie aufgegeben und sind – wie so viele andere junge Familien – in die Stadt gezogen. Aber jedes Mal, wenn Mahabat nach Ak-Talaa fährt, besucht sie diese arme Familie mit dem Lehmzimmer.
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In den vergangenen Jahren hat sich das Lehmzimmer in eine Küche verwandelt und daneben ist dann ein richtiges Haus entstanden. Kubanychbek und Gülnara freuen sich unglaublich über Mahabats Besuch. Zum gewöhnlichen Tschai dazu gibt es zur Feier des Tages Suppe und Spiegeleier.
Beide sind so reizende und gastfreundliche Menschen, dass es schwer zu glauben ist, dass Gülnara auf die brutalste Art und Weise von Kubanychbek entführt worden ist vor rund dreißig Jahren. Sie kannte ihren Ehemann gar nicht und wollte in der Hauptstadt studieren. Als die Männer sie packten, hat sie sich so energisch gewehrt, dass einer ihr den Kiefer ausgerenkt hat. Heute hat das Paar vier Kinder, die auch wiederum Kinder haben.
Komplizierte Familienverhältnisse
Die älteste ihrer Töchter ist geschieden und hat ein sechsjähriges Mädchen namens Aijan aus dieser ersten Ehe. Damit es einfacher für sie ist, wieder einen Mann zu finden, haben Gülnara und Kubanychbek ihr Enkelkind als eigene Tochter adoptiert. Die kleine Aijan nennt also ihre Großeltern Mutter und Vater, und ihre leibliche Mutter Schwester. „Wir wollen nicht, dass Aijan bezüglich ihrer Herkunft verwirrt ist. Deshalb ist es besser, sie im Glauben zu lassen, dass wir ihre Eltern sind, auch wenn das biologisch nicht stimmt“, meint Gülnara.
Plötzlich hören wir den Sohn draußen aufgeregt rufen. Seine Frau ist soeben mit dem einmonatigen Baby in ein Auto gestiegen und abgefahren. Die beiden haben sich vor unserer Ankunft gestritten und die Schwiegertochter hat wohl den Moment genutzt, wo alle mit uns beschäftigt waren, ihre Sachen zu packen und abzuhauen. Schnell wird in das Nachbardorf telefoniert und befohlen, das Auto anzuhalten. Es geht nicht lange, da klingelt das Handy und tatsächlich: Die Schwiegertochter wurde samt Kleinkind abgefangen.
Unser Tschai kam abrupt zum Ende, als sich alle in das Nachbarsdorf aufgemacht haben, um die junge Frau schimpfend wieder ins Haus zurückzuholen. Wir aber gehen zu Fuß weiter, um Mahabats alte Mathelehrerin zu besuchen. Soeben wurde uns nämlich erzählt, dass vor ein paar Tagen ihr jüngster Sohn eine alte Frau mit dem Minibus überfahren hat.
Wie geht es weiter mit dem Sohn der Mathelererin? Wie büßt er für seine Tat? Hier geht’s zum nächsten Teil: Verbrechen, Tod und Sühne.
Nadine Boller
Gastautorin und Dokumentarfilmerin, aktuell mit dem Film „Erkinai – Die Halbnomadin“
Haggenmueller, 2017-03-3
Nette Erzaehlung. Seit 12 Jahren lebe ich in Kirgistan (Karakol/Bischkek). Die Familie meiner Frau lebt in einem Dorf im Oblast- Issyk-kul. Das Leben einer Familie hier ist das Gleiche wie ich in meiner Kind- und Jugenzeit im Oberallgaeu vor 60 Jahren erlebte. Waehrend meiner Arbeitszeit kam ich nach Suedamerika, Nordafrika – das gleiche Lebensmuster trotz unterschiedlicher Kultureigenschaft, vor allem Religionszugehoerigkeit.
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