(Dieser Artikel erschien ursprünglich auf Open Asia. Wir übersetzen ihn mit der freundlichen Genehmigung der Redaktion.)
Einst wurde in dieser Stadt nahezu alles unter Verschluss gehalten – fast alles war geheim. Die einen Bewohner dieser Stadt fertigten Galoschen an, die anderen ballistische Raketen. Dabei hatten Erstere nicht die leiseste Ahnung, womit sich Zweitere beschäftigten.
Sie besuchten einander und saßen an einem Tisch, doch jene, die in die Produktion der militärischen Raketen eingebunden waren, lüfteten das Geheimnis um ihre streng geheime Erwerbstätigkeit nicht. Zu groß war die Furcht vor der angedrohten Haftstrafe, um sich zu widersetzen und ihr Geheimnis zu offenbaren.
Die Architektur dieser Stadt wurde einst von gefangenen Soldaten Nazi-Deutschlands geschaffen. Führende sowjetische Spezialisten aber entdeckten Uran auf diesem Gebiet und gründeten ein Unternehmen, um Raketen zu produzieren. Die Existenz der tadschikischen Stadt Istiklol (bis 2012: Tabošar) wurde damals geheim gehalten und war auf keiner Weltkarte verzeichnet. Seitdem hat sie sich nahezu vollständig verändert.
Zwar ist die Produktion der lebensgefährlichen atomaren Waffen bereits eingestellt worden und mittlerweile so gut wie vollends in Vergessenheit geraten. Doch rühmt sich Istiklol bis heute für seine Galoschen aus Gummi.
„Offenes Asien Online“ hat sich in Zusammenarbeit mit seinem Partner, dem TV-Sender CM 1, in die Geisterstadt Istiklol begeben, um sich mit ihrer merkwürdigen und schauerhaften Geschichte bekannt zu machen.
Die Geschichte der Stadt Tabošar beginnt im Jahre 1936. Es war die Zeit, in der die Welt von dem Gedanken getrieben wurde, Atomwaffen zu bauen. Die Reaktionen der Sowjetunion auf diese weltweite Euphorie waren nur mäßig, obwohl bereits zehn Jahre vor der Gründung der Stadt auf besagtem Boden Uranlagerstätten ausfindig gemacht worden sind.
Als Josef Stalin in der Zeit des Großen Vaterländischen Krieges – wie der Zweite Weltkrieg in den Ländern der ehemaligen UdSSR genannt wird – darüber informiert worden ist, dass das Vereinigte Königreich mögliche aufkommende Kosten für die Produktion einer Atombombe bereits kalkuliert hatte, reagierte er sofort und sprang auf den weltweit boomenden Atomzug auf.
Das war die Geburtsstunde der Atompolitik in der ehemaligen UdSSR. Alsbald schloss die sowjetische Regierung das Dekret des Staatlichen Komitees für Verteidigung für „Uranbergbau“ ab. Ab dem 27. November des Jahres 1942 bis zum 1. Mai 1943 sollte laut Vereinbarung Uranerz gewonnen sowie verarbeitet werden. Die erste Charge des Erzes sollte vier Tonnen betragen – zu erfüllen war dieser Auftrag durch die Fabriken Tabošars.
Der Krieg war in vollem Gange und so fehlte es in Tabošar an helfenden Händen. Denn so gut wie alle männlichen Bewohner der Stadt kämpften an der Front. Die sowjetische Armee hielt zu dieser Zeit bereits Soldaten der feindlichen Armee gefangen. Die sowjetische Führung hatte indes zu extremen Maßnahmen gegriffen:
Die gefangenen Soldaten sollten für den Bau der geheimen Stadt Tabošar eingesetzt werden: Eine kostenlose Arbeitskraft.
Chamidullo Karimov ist Veteran der Atomindustrie und einer der wenigen Bewohner Istiklols, der sich an jene Zeit erinnert, in der kriegsgefangene Deutsche diese Stadt aus dem Boden stampften. Schon im Jahr 1948 verschlug es ihn nach Tabošar – der Arbeit wegen. Nach seiner abgeschlossenen Ausbildung in der Hauptstadt des heutigen Usbekistans, sollten ihm die tadschikischen Uranminen einen neuen Arbeitsplatz bieten.
„Die Deutschen haben hier wie Ochsen geschuftet“, erzählt Karimov und entschuldigt sich sogleich für den Vergleich. Doch einen besseren gäbe es nicht. Denn „ihnen standen keinerlei technische Hilfsmittel zur Verfügung – diese Stadt errichteten sie mit ihren bloßen Händen.“
Jeden Morgen in der Früh wurden die Kriegsgefangenen von der Eskorte des Lagers zu den Baustellen geführt. Ihre Lager befanden sich außerhalb Tabošars. Das hielt ihre Vorgesetzten aber nicht davon ab, sie von morgens bis abends arbeiten zu lassen. Und nicht nur für den Bau der Stadt, sondern auch für deren Entwurf sollen die Gefangenen verantwortlich gewesen sein: Istiklols enge Straßen und Wege erinnern noch heute an manch eine Gegend Westberlins.
„Die Uranindustrie nannte ich 50 Jahre lang meinen Arbeitsplatz. Die Arbeit kostete mich meine Gesundheit! Und wenn es nur das wäre. Einst betrug meine Rente nur 235 Somoni (ca. $ 30) und Gott sei Dank erhöhte der Präsident sie um weitere 120 Somoni (ca. $14). So leben wir hier“, berichtet der Veteran.
Seine Hände sind der Beweis dafür, wie ihm die Arbeit in den Uranminen seine Gesundheit genommen hat. Sie sind gezeichnet von Narben – mit nicht vollends verheilten Verätzungen oder Verbrennungen zu vergleichen. Aber es seien nicht nur seine Hände, die leiden mussten:
„Mein ganzer Körper sieht so aus“, beteuert Karimov. Und er sei nicht der einzige. Alle seine Kollegen litten an den gleichen Beschwerden. Experten wie Karimov und seine ehemaligen Kollegen, die eine solch gesundheitsschädigende Arbeit in der Nuklearindustrie durchführten, gäbe es im heutigen Istiklol aber nicht mehr.
Das Uran und die Esel
Vor vier Jahren, als die Russische Föderation den 70. Jahrestag des Uranbergbaus feierte, erinnerte sich Jurij Nesterov, Industrie-Veteran des Uranbergbaus und Doktor der Chemie, daran, dass das Atomzeitalter der UdSSR faktisch mit Eseln begonnen hatte. Für alle wesentlichen Arbeiten des Uranabbaus in Tabošar wurden in der Tat Esel eingesetzt. Der Grund dafür:
Es gab weder geeignete Straßen noch eine ausreichende Ausrüstung, um eine solche Arbeit von einem Menschen durchführen zu lassen. Unter den gleichen Bedingungen wurde parallel zur Entstehung des Uranbergbaus Tabošars das Bergbau- und Chemiekombinat Leninabads (Chučand) gegründet.
Das Kombinat war in der Stadt Čkalovske (Buston) und nur wenige Kilometer von den Uranminen gelegen. Es zählt zu dem ersten seiner Art in der sowjetischen Atomindustrie. Denn aus dem Uran, welches hier aufbereitet wurde, entstand nicht nur die erste sowjetische Atombombe, sondern auch der erste Kernreaktor der UdSSR. Abgebaut wurde das Uran jedoch in Tabošar.
„Die Kriegsgefangenen haben nicht nur Häuser gebaut, sie waren auch die wichtigsten Arbeiter der Uranminen Tabošars. Und das aus einem einfachen Grund: Es gab sonst niemanden, der diese Arbeit hätte tun können“, führt Chamidullo Karimov fort.
„Sie lebten ja sogar in Lagern, welche sich in unmittelbarer Nähe zu den Minen befanden. Aber da kann man wohl nichts machen. Gefangenschaft ist Gefangenschaft.“
Solch harte Lebensbedingungen und die Knochenarbeit haben das ihre getan: Von den hunderten Kriegsgefangener der faschistischen deutschen Armee haben nur einige wenige den Moment erlebt, als ihnen ihre Dokumente ausgehändigt wurden und sie Tabošar endlich verlassen durften. Das geschah erst in den späten 1980er Jahren.
Bis zu diesem Zeitpunkt waren sie als Teil der internationalen Bevölkerung Tabošars unsichtbar und als Bürger, nicht aber als Deutsche gesehen worden. Die Alteingesessenen der Stadt beteuern, dass man keinem von ihnen je mit Zorn begegnete. Zudem sei die Stadt für viele Sowjetdeutsche der Ort ihrer Verbannung. Und auch diesen seien die Einwohner Tabošars immer wohlgesonnen gewesen.
Larisa Vjačeslavovna Štadler ist Musiklehrerin und unterrichtet an der städtischen Musikschule Fortepiano. Vor vielen Jahren sei ihr Großvater als Verbannter aus dem ehemaligen Leningrad deportiert worden. Wegen seiner Vorfahren war er vor dem sowjetischen Gesetz Deutscher. Er lernte Larisa Štadlers Großmutter – eine Russin – kennen, heiratete alsbald und gründete eine Familie in der tadschikischen Kleinstadt.
„Probleme, die mit seiner Nationalität zusammenhingen, hatte mein Großvater hier nicht“, erklärt Larisa Štadler. Sein ganzes Leben habe er auf dem Autohof Tabošars gearbeitet und „gelebt haben wir gut“, äußert sie mit Nachdruck.
Aber anfangs habe niemand in der Familie seinen Namen annehmen wollen. dazu erklärten sich alle Familienmitglieder erst in den 1970er Jahren bereit und hießen fortan Štadler.
Zeitgleich mit den Kriegsgefangenen und Verbannten kam eine Bandbreite hervorragender sowjetischer Spezialisten der Atomindustrie nach Tabošar.
Die Menge des tatsächlichen Urangewinns übertraf schon wenige Jahre nach Beginn des Abbaus die optimistischsten Schätzungen. Auf insgesamt über 400 Hektar wuchs das Territorium der Stadt an. Nicht unbedeutend dafür waren sicherlich die über tausend Tonnen Uranerz, welche hier jährlich abgebaut wurden. Je näher die 1990er Jahre und damit der Zerfall der Sowjetunion heranrückten, desto unbrauchbarer wurde aber dieser Industriezweig.
Die Fundstätten wurden stillgelegt. Dann verließen Tabošar zuerst die besten Experten, schließlich auch der Großteil der ehemals internationalen Bevölkerung. Das wichtigste Rädchen in der Nuklearindustrie der UdSSR verwandelte sich zusehends in eine Abfalldeponie für radioaktiven Schrott.
Mittlerweile haben sich über 10 Millionen Tonnen dieses Abfalls in der unmittelbaren Umgebung der Stadt angesammelt – Zeichen einer vergangenen Epoche.
Die geheimnisvolle Morgenröte des Ostens
Aber nicht alle Geschichten dieser Stadt sind so traurig. Die Bewohner Tabošars hatten auch einige kleinere Freuden. Die Existenz des Ortes wurde seit seiner Gründung nicht nur geheim gehalten. Er war zudem eine sogenannte geschlossene Stadt. Sie durfte nur mit einer speziellen Erlaubnis betreten werden. Und gerade durch diesen Status genossen die Bewohner Tabošars viele Vorteile.
„Die bedeutendsten Spezialisten statteten uns Besuche ab – sie allesamt wurden immer gelb vor Neid, wenn sie sahen, wie wir hier lebten“, berichtet Natalja Perevertajlo, Musiklehrerin und Bewohnerin Istiklols.
„Erstens lebten wir sehr harmonisch miteinander“, fährt sie fort, „Jeden Feiertag verbrachten wir zusammen. Zweitens: Uns alle hat die Schönheit dieser Stadt und ihrer Natur verzaubert und in ihren Bann gezogen. Und drittens: Mit Lebensmitteln wurden wir direkt von Moskau beliefert. Auch in Zeiten, in denen es überall sonst in der Sowjetunion an allem fehlte, wurden wir regelrecht übersät mit allen Produkten, die für die restliche sowjetische Bevölkerung unzugänglich waren.“
Berühmt war Tabošar auch für seine hohen Gehälter. Zu spüren bekamen die Bewohner der Stadt diese Tatsache vor allem als in der Stadt ein großes Unternehmen namens „Carja Vostoka“ (dt.:„Die Morgenröte des Ostens“) eröffnet wurde. Das war im Jahr 1968. Sie wurde den Bewohnern der Stadt als neue Fabrik für die Produktion von Galoschen und anderen Produkten aus Gummi verkauft.
Ein Fakt über dieses neue Unternehmen, das aber scheinbar niemanden sonderlich in Aufruhr versetzte, war, dass „Carja Vostoka“ direkt dem Politbüro der Kommunistischen Partei der Sowjetunion unterstellt war. Aber man hütete sich stets davor, überflüssige Fragen zu stellen.
„Galoschen und Schläuche wurden produziert. Und auch Nähwerkstätten waren Teil der Produktionsarbeit des neuen Unternehmens. Das alles machte aber nicht den Hauptzweck der Anlage aus“, erklärt Ziëdullo Nosirov, Generaldirektor der heute GUP genannten Firma und fährt fort, „Carja Vostoka“ war das größte Unternehmen der sowjetischen Verteidigungsindustrie.“
Die Anlagen dieses Unternehmens sind nach wie vor in der ganzen Stadt verstreut. Der eine Teil ist, wie anzunehmen, in den Industriegebieten Istiklols angesiedelt. Für den anderen wurden spezielle unterirdische Bunker vorbereitet. Oberhalb der Erdoberfläche produzierte „Carja Vostoka“ Konsumgüter. Tief unter der Erde aber wurde die Ladung für ballistische Raketen hergestellt.
Die Städter sagen, dass diejenigen, die die Galoschen fertigten, oftmals gar nicht wussten, was sonst in dem Betrieb passierte. Weder die häufigen Besuche hochrangiger Beamter aus Moskau ließen sie mutmaßen, noch ihre hohen Löhne.
Auch der noble sowjetische Bau des Verwaltungsgebäudes ließ keinen Verdacht aufkommen. Sechs Millionen Galoschen stellten sie indes jährlich her und versorgten nicht nur die gesamte Sowjetunion, sondern auch den Iran, Afghanistan und Pakistan mit den Überschuhen aus Gummi. Die breite Produktion war bis zum Zerfall der Sowjetunion vollends eingespielt.
Nach dem Zerfall der Sowjetunion
Den Zerfall der Sowjetunion hat Tabošar nur sehr schlecht verkraftet. Nichts anderes als den geschlossenen Staat und die Versorgung durch Moskau kennend, fiel es den Bewohnern der Stadt schwer, sich an das neue Leben der 1990er Jahre anzupassen.
Viele verließen Tabošar, aber längst nicht alle gewöhnten sich auch an die neuen Lebensbedingungen ihrer neuen Wohnorte. Nahezu zeitgleich wurde auch die Produktion der Raketen abgebrochen. Die Galoschen aber überlebten und waren von nun an die Haupteinnahmequelle des Unternehmens. Von so großen Bestellungen wie in den vergangenen Zeiten konnte das Unternehmen jedoch nur noch träumen.
Die wenigsten der alteingesessenen Bewohner sind nach dem Umbruch der 1990er Jahre geblieben. Doch die letzten Jahre haben Istiklol einen Funken Hoffnung auf ein besseres Leben beschert.
Chinesische Investoren rekonstruierten in der Nähe Istiklols ein Zementwerk. Die Bewohner Istiklols sind sich der Besonderheit dieser Stadt noch immer sicher. Sie sind davon überzeugt, dass internationale Investoren in der Lage sind, ihre Wirtschaft gänzlich wiederherzustellen und ihrer geliebten Stadt wieder Leben einzuhauchen.
Sehr wahrscheinlich wird dem so sein, aber das ist eine andere Geschichte.
Aus dem russischen übersetzt von Olga Zoll