NACHHALTIGES ZENTRALASIEN. Ainura Sagyn, Mitbegründerin von Tazar, einer Plattform für Abfallmanagement in Kirgistan, spricht über die Herausforderungen der Mülltrennung in Zentralasien und was dagegen getan werden kann.
Ihre Plattform für Abfallwirtschaft verbindet die Käufer von Wertstoffen und deren Verkäufer miteinander. Wie kam es zu dieser Idee? Warum haben Sie sich vor vier Jahren entschlossen, das Problem der Abfallwirtschaft anzugehen?
Kirgistan und seine Nachbarländer Tadschikistan, Usbekistan und Kasachstan sind wunderschöne Länder mit Bergen, Flüssen und reichhaltigen natürlichen Ressourcen. In den letzten 20 Jahren wurde unsere schöne Natur jedoch durch den zunehmenden Abfall verunreinigt, der sowohl unsere Umwelt als auch die Gesundheit der Bevölkerung bedroht. Alle wiederverwertbaren Materialien werden in den normalen Müll geworfen und auf Mülldeponien entsorgt. Es gibt kleine lokale Unternehmen, die versuchen, dieses Problem durch kleine, gewinnorientierte Recyclingbetriebe zu verringern. Diese Unternehmen sammeln wiederverwertbares Material und recyceln es. Und wir verbinden diese Unternehmen mit Menschen.
Zusätzlich zu den Abfallverarbeitungskapazitäten des Standorts umfasst Tazar eine Bildungskomponente. Unsere App wird genutzt, um Wissen über umweltbewusste Produkte und Recyclingunternehmen in ganz Zentralasien zu verbreiten, die User zu inspirieren und ihnen zu zeigen, dass Recycling in Zentralasien möglich ist, selbst wenn keine effiziente Infrastruktur von den Regierungen bereitgestellt wird.
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Als vereinsgetragene, unabhängige Plattform lebt Novastan vom Enthusiasmus seiner ehrenamtlichen Mitarbeiter:innen – und von eurer Unterstützung!Derzeit zielt unsere Arbeit darauf ab, einen nachhaltigen und direkten Einfluss auf den Recyclingsektor in Kirgistan zu nehmen und umweltfreundliches Verhalten zu fördern. In ein paar Jahren wollen wir das Projekt auf Usbekistan ausweiten.
Die Tazar-Plattform verbindet eine Vielzahl von Akteuren, von der allgemeinen Öffentlichkeit bis hin zu privaten Unternehmen und staatlichen Stellen. Wie gelingt es Ihnen, die relevanten staatlichen und privatwirtschaftlichen Akteure zu überzeugen?
Kirgistan verfügt derzeit nicht über die nötige Infrastruktur, um dieses Problem effizient zu bewältigen. Ich glaube, dass kleine, von engagierten Menschen durchgeführte Projekte zur Lösung dieser Art von Problemen in Entwicklungsländern beitragen können.
Das Problem der katastrophalen Ausbreitung von Abfällen in Kirgistan wächst von Jahr zu Jahr, und zwar aus zwei Gründen. Erstens hat die Bevölkerung keine bequeme Möglichkeit, die Wertstoffe zu den Recyclingzentren zu bringen, um den Abfall zu reduzieren. Zweitens hat sich das „Umweltbewusstsein“ in Zentralasien noch nicht als allgemeine Verhaltenstendenz durchgesetzt. Laut der jüngsten Umfrage zur Abfallwirtschaft könnten in Kirgistan 70 Prozent des Mülls recycelt werden, aber nur 14 Prozent davon werden es derzeit.
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In Kirgistan gibt es 500 Recyclingstellen, an denen die Menschen ihre Wertstoffe abgeben können. Tazar bietet eine detaillierte Karte der Abfallsammelstellen, die über unsere App (für iOS und Android erhältlich) abgerufen werden kann. Unsere Social-Media-Plattformen haben mehr als 9000 Follower, und die App wurde über 8500-mal heruntergeladen.
Tazar hat sich bereits zu einer positiven Kraft für den sozialen Wandel in Bischkek entwickelt. Es handelt sich nicht nur um einen funktionalen Dienst zur Verringerung der Müllmenge, sondern sensibilisiert die Öffentlichkeit mit informativen und ansprechenden Artikeln, Nachforschungen und Tipps.
Tazar erlangte weltweite Berühmtheit, als Sie von der BBC in die Liste der 100 inspirierenden und einflussreichen Frauen aus aller Welt für 2022 aufgenommen wurden. Hat Ihnen diese Bekanntheit zusätzliche Unterstützung im In- und Ausland gebracht? Gibt es etwas, das Sie unserer Leserschaft sagen möchten?
Nach der Anerkennung durch die BBC erhielten wir über 1000 Abholaufträge, und mehr als 40 Organisationen äußerten den Wunsch, mit uns zusammenzuarbeiten. Solche Auszeichnungen tragen dazu bei, Tazar bekannt zu machen und allgemein das Bewusstsein dafür zu schärfen, was wir als Einzelpersonen in unseren lokalen Gemeinschaften tun können, um dem Planeten zu helfen.
Jährlich werden in Kirgistan mehr als 400.000 Tonnen Abfall auf Deponien entsorgt, ohne potenziell wiederverwertbare Materialien und gefährliche Abfälle ordnungsgemäß zu verwerten. Dies schadet unserer Umwelt, verschmutzt Wasser und Boden, und gelangt auch über die Nahrung und das Trinkwasser in unseren Körper.
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Dank unserer einzigartigen App kann jeder, der ein Telefon besitzt, eine Recyclingstation finden und seine Wertstoffe dorthin bringen, damit sie nicht auf einer Mülldeponie landen. Wir bieten auch einen Abholservice für diejenigen, die nicht in der Lage sind, zu den Recycling-Stationen zu fahren. Man kann eine Bestellung aufgeben, angeben, wie viel Wertstoffe man hat, und die Zeit der Abholung angeben.
Vor welchen Herausforderungen steht Kirgistan bei der Bewältigung des Klimawandels?
Die Herausforderungen der Klimakrise sind dringend und überwältigend groß. Wir sehen, dass weltweit in allen Sektoren zunehmend Technologien eingesetzt werden, um die sektorübergreifenden Nachhaltigkeitsanforderungen zu erfüllen. Diese Technologien sind das „Wie“ bei der Bewältigung der Klimakrise.
Die Frage nach dem „Wer“ ist für den Aufbau einer nachhaltigen Zukunft von entscheidender Bedeutung, und wir setzen uns zunehmend dafür ein, dass in der nachhaltigen Zukunft, die wir aufbauen, Gerechtigkeit herrscht. Seit Jahrhunderten hat der technologische Fortschritt das Wirtschaftswachstum angekurbelt. Diese historischen Fortschritte waren jedoch kostspielig. Kirgistan sieht sich mit den Folgen der raschen Industrialisierung der Sowjetunion konfrontiert und kämpft mit den aktuellen globalen Umweltherausforderungen, für deren Bewältigung nur begrenzte finanzielle Mittel zur Verfügung stehen.
Wir haben jedoch eine lebendige Zivilgesellschaft und Menschen, die die sich engagieren, um zu Lebzeiten etwas zu bewirken. Dank ihnen haben wir noch Hoffnung, dass wir die Auswirkungen des Klimawandels umkehren oder wenigstens mildern können.
Sie sind eine Verfechterin der Nachhaltigkeit in Zentralasien, die weiterhin mit einheimischen und regionalen zivilgesellschaftlichen Akteuren und Einrichtungen des Privatsektors zusammenarbeitet. Was ist Ihre Botschaft an Ihre Mitstreitenden und deren Partner in aller Welt?
Wir haben eine schwierige Aufgabe vor uns, aber wir können die Klimakrise bewältigen. Dazu müssen wir unsere Zeit und unsere Bemühungen in den Aufbau einer sektorübergreifenden Zusammenarbeit und in unseren Gemeinschaften investieren, um sicherzustellen, dass alle Menschen auf dieser Welt die gleichen Chancen auf eine nachhaltige Zukunft haben.
Die Lösungen für das Klima werden nicht nur vom Westen kommen. Auch die Entwicklungsländer können diesen Wandel anführen. Eine der Herausforderungen besteht darin, die wachsende Klimakrise zu bewältigen, ohne die wirtschaftlichen Möglichkeiten der Menschen einzuschränken. Wir müssen die Entwicklung unseres Landes mit der Klimareaktion in Einklang bringen, die größer und dringender ist denn je.
Entwicklungsländer wie in Zentralasien können nicht denselben Entwicklungsweg einschlagen, den die westlichen Volkswirtschaften in den letzten anderthalb Jahrhunderten eingeschlagen haben. Wir kennen die katastrophalen Folgen der rasanten Industrialisierung für das globale Klima und die Umwelt und müssen daher einen anderen Weg zur Verbesserung des Lebensstandards finden.
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Daher ist es nur fair, dass die fortgeschrittenen Volkswirtschaften den Entwicklungsländern zusätzliche technologische und finanzielle Unterstützung gewähren. Dies ist der Preis für unsere gemeinsame Verantwortung für den Planeten. Die Antwort liegt in einer intelligenten Planung und der Verringerung verschwenderischer Schäden, sodass Kirgistan sowohl als natürliche Bremse für den Klimawandel als auch als Grundlage für eine nachhaltige Entwicklung dienen kann.
Tazar ist ein Pionier bei der Bereitstellung integrierter umweltfreundlicher Dienstleistungen und Lösungen und setzt sich nachdrücklich für den Schutz der Umwelt ein, indem es die Gemeinschaften verbessert, in denen wir arbeiten und leben. Tazar verfügt über ein Team von Fachleuten, die nachweislich nachhaltige und kostengünstige Lösungen für eine umweltbewusste Kundschaft entwickeln. Unsere Recycling-Initiativen sind auf verschiedene Sektoren zugeschnitten, von Unternehmen, Bildungseinrichtungen und Wohnanlagen bis hin zu den Gemeinden im Allgemeinen.
Es besteht die dringende Notwendigkeit, unser Verhältnis zur Umwelt zu verändern. Regierungen und Unternehmen müssen tiefer darüber nachdenken, wie sie mit den Menschen, Orten und Dingen interagieren, die für die Herstellung ihrer Produkte notwendig sind, wenn sie sich ernsthaft mit ihren Auswirkungen auseinandersetzen wollen.
Wie schätzen Sie das Potenzial von Living Labs in Ihrem Land ein?
Living Labs in Kirgistan wären ein sehr effizienter und nachhaltiger Weg, um lokale Probleme anzugehen. Für den Staat kann dies aufgrund seiner begrenzten finanziellen Möglichkeiten schwierig sein. Den lokalen Akteuren fehlt es möglicherweise auch an Finanzmitteln und Fachwissen. Wenn es uns jedoch gelingt, ein Netzwerk von Partnern zusammenbringen, die ihr Fachwissen, ihren politischen Willen und personelle sowie finanzielle Ressourcen einbringen, könnte dies eine Vielzahl bestehender Probleme lösen.
Dieses Interview ist im Rahmen einer Studienreise zentralasiatischer Expertinnen und Experten nach Deutschland im Juni 2023 entstanden. Die Studienreise zum Thema Reallabore der Nachhaltigkeit und Energiewende wurde von der Organisation SPCE Hub und der Intersectoral School of Governance Baden-Württemberg (ISoG BW) durchgeführt. Das Projekt wurde vom Deutschen Akademischen Austausch Dienst (DAAD) mit Mitteln des Auswärtigen Amtes gefördert.
Das Interview führte Aijan Sharshenova
Aus dem Englischen von Michèle Häfliger
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