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Die traditionelle Religion der Kasach:innen

Wenn in Kasachstan über tabuisierte oder erlaubte Kleidung, Verhaltensweisen und ähnliche Phänomene diskutiert wird, berufen sich die Diskussionsteilnehmer oft auf die traditionelle, nicht-islamische Religion. Es wird argumentiert, dass die traditionellen, religiösen Überzeugungen der Vorfahren dies und jenes nicht erlauben würden und die Nachkommen demselben Weg folgen sollten. Was aber bedeutet die traditionelle Religion für die Kasachen, die staatsbildende Ethnie Kasachstans? CABAR.asia hat den Historiker Jaksylyk Sabitov gebeten, darüber zu sprechen.

Darstellung der tengristischen Drei-Welten-Kosmologie auf einer Schamanentrommel. Quelle: Erdal/Wikipedia

Wenn in Kasachstan über tabuisierte oder erlaubte Kleidung, Verhaltensweisen und ähnliche Phänomene diskutiert wird, berufen sich die Diskussionsteilnehmer oft auf die traditionelle, nicht-islamische Religion. Es wird argumentiert, dass die traditionellen, religiösen Überzeugungen der Vorfahren dies und jenes nicht erlauben würden und die Nachkommen demselben Weg folgen sollten. Was aber bedeutet die traditionelle Religion für die Kasachen, die staatsbildende Ethnie Kasachstans? CABAR.asia hat den Historiker Jaksylyk Sabitov gebeten, darüber zu sprechen.

Welche Religion existierte vor dem Eindringen des Islam auf dem Gebiet des heutigen Kasachstan?

Eine gemeinsame, dominierende Religion gab es nicht. Stattdessen existierten sehr unterschiedliche religiöse Bewegungen.

Wann und wie breitete sich der Islam in dem Gebiet Kasachstans aus?

Die Ausbreitung des Islams ist mit der arabischen Expansion verbunden. Als die Araber Zentralasien eroberten, gab es einen ersten Zusammenstoß mit den Türgesch (ein im Siebenstromland lebendes Turkvolk – Anm. d. Red.), die sich zunächst gegen die Araber behaupten konnten. Dann veränderte sich die geopolitische Lage: Im 8. Jahrhundert, das sich in Zentralasien ohnehin durch zahlreiche kriegerische Auseinandersetzungen auszeichnete, kam es zur Konfrontation zwischen den Arabern und der Tang-Dynastie. Dieser jahrzehntelange Kampf um Einfluss in Zentralasien erreichte in der Mitte des achten Jahrhunderts in der Schlacht am Talas seinen Höhepunkt. Damals kämpften die Karluken (ein im Siebenstromland lebendes Turkvolk – Anm. d. Red.) zunächst auf der Seite der Chinesen -. Als diese jedoch, in einem Anflug von Selbstherrlichkeit, den Fürsten von Taschkent enthaupteten, zogen sie damit die Feindschaft der Karluken auf sich (Anm. des Übersetzers), welche daraufhin zu den Muslimen überliefen. So gingen schließlich die Araber als Sieger aus der Konfrontation hervor.

Die Karluken zogen am meisten Profit aus dieser Auseinandersetzung. Erst schlossen sie ein Bündnis mit den Arabern, und dann, etwa hundert Jahre später, im Jahre 840, erklärte sich der Herrscher der Karluken zum Großkhan (Staatsoberhaupt der alten Turkvölker – Anm. d. Verf.). Schon damals kam der Islam also auf das Gebiet Kasachstans. Dann verbreitete er sich allmählich unter den Stämmen, die das Gebiet des heutigen Kasachstan bewohnten. Diejenigen, die den Karluken nahestanden, begannen den Islam ebenfalls anzunehmen. Das galt beispielsweise für die Oghusen, die bis etwa 1050 in einer Region des heutigen südlichen Kasachstans lebten. Die Karluken selbst nahmen den Islam im Jahr 960 als Staatsreligion an.

Warum konnte der Islam in diesen Regionen Fuß fassen?

Der Islam war zu dieser Zeit als Leitkultur ausschlaggebend für die Wissensvermittlung. Wenn man mit der Weltkultur in Berührung kommen wollte, war dies über den Islam möglich. So lernte man zum Beispiel die griechischen Autoren kennen. Und dann nahm alles wie von selbst seinen Lauf.
Ende des 13. Jahrhunderts gab es beispielsweise einen Krieg innerhalb der Goldenen Horde zwischen muslimischen und buddhistischen Gruppen. Die ersten Siege verbuchten die Buddhisten, aber 10-15 Jahre später rächten sich die Muslime und vertrieben ihre Gegner. Allerdings dürfen wir nicht vergessen, dass auf dem Territorium Kasachstans nur Buddhisten, Anhänger der nestorianischen Kirche und des Manichäismus lebten.

Warum hat der Islam in der Form, in der wir ihn heute kennen, unter allen anderen religiösen Strömungen überlebt?

Es ist wichtig zu sagen, dass die hanafitische Rechtsschule im Islam, im Vergleich zu anderen, die liberalste ist (der Islam der Hanafi-Richtung ist in Kasachstan offiziell anerkannt; diese Madhhab wird im Gesetz „Über die religiöse Tätigkeit“ erwähnt – Anm. der Redaktion). Was in anderen Schulen als harām (sündhafte Handlung) gilt, ist in der Hanafi Madhhab nicht zwingend harām.

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Diese Schule war in Bezug auf neue Konvertiten die toleranteste. Wir wissen, dass einige andere Madhhabs sich gegen alles Neue sträuben und eine sehr starke, ablehnende Haltung einnehmen. Solche Rechtsschulen hätten wenig Chancen gehabt, sich bei den Kasachen durchzusetzen. Das erklärt, weshalb die Hanafi-Madhhab in unserem Land Wurzeln schlagen konnte und sich so schnell verbreitet hat.

Warum waren und sind Anhänger des so genannten nicht-traditionellen Islam, mit dem in der Regel Anhänger radikalerer Ansichten gemeint sind, immer wieder auf dem Vormarsch?

Der nicht-traditionelle Islam entsteht, wenn es keine nationale Ideologie gibt. In Ländern, in denen die Politik sich für eine Aufarbeitung der Vergangenheit einsetzt und sich eine einheitliche Nation entwickelt, sind Extremisten im religiösen Umfeld rar gesät.  Ein gutes Beispiel hierfür ist Russland. Es existiert eine eigene nationalistische Ideologie, auf dessen Seite sich alle Extremisten schlagen. Daher gibt es dort keine extremistischen orthodoxen Christen.

In einer Gesellschaft ohne starke Ideologie herrscht ein Vakuum. Menschen, die einfache Antworten auf sehr komplexe Fragen geben, können diesen Platz füllen. Es ist ein Kinderspiel, aus religiösen Extremisten, extremistische Nationalisten zu machen, immerhin haben sie den Extremismus bereits im Blut. In welcher Art und Weise genau sich dieser äußert, hängt von den, in der Gesellschaft vorhandenen Institutionen ab. Wenn es einen ausgeprägten Stolz auf die eigene Herkunft gibt, der vom Staat definiert und konstruiert wird, ist es nicht unwahrscheinlich, dass daraus Nationalismus entsteht.

Was können Sie über den Tengrismus sagen? Inwieweit ist er für Kasachen traditionell?

Es kursieren viele Mythen über die frühen Religionen der Kasachen, einschließlich des Islam. Ein Mythos bezieht sich auf den so genannten „Tengrismus„. In Wahrheit gab es keine Religion des Tengrismus nach heutigem Verständnis. Das ist ein neues Phänomen. Die Religionen der Hunnen, Türken und Mongolen unterschieden sich voneinander. Sie waren nicht Teil eines gemeinsamen größeren Ganzen. Nehmen wir Umay (Göttin der Fruchtbarkeit der türkischen Mythologie), Erlik (Gott der Unterwelt in der turko-moglischen Mythologie), Ülgen (ein Hauptgott sibirischer Völker) – wo treffen sie sich bei Mongolen, Hunnen, Türken oder spätmittelalterlichen nomadischen Nicht-Muslimen? Richtig, nirgends.

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Unter Tengrismus versteht man heute alles, was nicht dem Islam zuzuordnen ist. Ich gebe Ihnen ein anderes Beispiel: „Was ist der Westen? Der Westen ist der Westen. Und was ist der Osten? Der Osten ist nicht der Westen. Also ist alles, was nicht der Westen ist, der Osten.“ Und so ist es auch hier. Zum Beispiel ist die Tradition des Alastau (eine rituelle Feuerzeremonie, die zur inneren Reinigung dient) womöglich aus dem Zoroastrismus übernommen worden.

Der Tengrianismus ist ein Ensemble verschiedener Glaubensvorstellungen und Praktiken, die nie ein zusammenhängendes Ganzes waren. Wie der Tengrianismus aussah, bleibt ein Geheimnis. Dazu fehlt es an gut erhaltenen, aussagekräftigen Quellen. Die Tatsache, dass die Religionen der Hunnen, Mongolen, Türken und der spätmittelalterlichen nicht-muslimischen Nomaden unterschiedlich waren, ist jedoch ein Fakt, der beweist, dass es vor dem Islam nie eine einheitliche Religion gab.

Warum wenden sich dann einige Leute jetzt dem Tengrianismus zu?

Die Hinwendung zum Neuheidentum ist eine gängige Praxis. Hierfür finden sich auch Beispiele im Westen, wie die Popularität der keltischen Götter Odin und Thor oder in Russland der Rodismus. Und warum sollte man dasselbe bei uns nicht auch wiederfinden? Immerhin ist es ein weltweites Phänomen.

Unsere Anhänger des Tengrismus sind nicht selten Romantiker mit einem ein ausgeprägtes Faible für türkische Geschichte und Kultur. Sie haben sich in den Kopf gesetzt, dass der Islam in erster Linie mit dem Hidschab und allem Schlechten zu tun hat, und dass wir deshalb nicht der Islam sind.

Was sagen Sie zu der Behauptung, der Tengrismus sei ein Projekt ausländischer Kräfte?

Hier nach dem langen Arm des Westens oder anderer Länder zu suchen, halte ich für töricht . Es ist dasselbe, als würde man sagen, dass alle Menschen in unserem Land, die für Meinungsfreiheit eintreten, vom Westen, China oder Russland finanziert werden. Das ist alles nichts als Meinungsmache und die Suche nach einem, den man in die Schmuddelecke stellen kann. Die Leute entscheiden selbst und es ist ihr Recht: Wenn sie Tengrianer sein wollen, dann bitte schön!

Das Interview führte Ayan Oryntay

Aus dem Russischen von Arthur Siavash Klischat

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