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„Brücken der Erinnerung“: Eine Konferenz zur Dekolonisierung in Bischkek

Eine Konferenz in Bischkek stellt die herrschende Erinnerungspolitik in Kirgistan und im gesamten postsowjetischen Raum in Frage. Vor dem Hintergrund des russischen Angriffskriegs in der Ukraine ist das Thema aktueller und wichtiger denn je.

Die Konferenz "Brücken der Erinnerung" fand im Museum der Schönen Künste in Bischkek statt

Eine Konferenz in Bischkek stellt die herrschende Erinnerungspolitik in Kirgistan und im gesamten postsowjetischen Raum in Frage. Vor dem Hintergrund des russischen Angriffskriegs in der Ukraine ist das Thema aktueller und wichtiger denn je.

Es ist nicht unproblematisch, in Kirgistan über Dekolonisierung zu sprechen. Eine Studentin der American University of Central Asia berichtet davon, dass die Leitung der eigentlich für liberal geltenden Universität Druck auf sie ausgeübt habe, weil sie die Dekolonisierung Kirgistans zum Thema ihrer Doktorarbeit machte. Sie sei dazu aufgefordert worden, ihrer Arbeit einen „neutraleren“ Titel zu geben.

Wie Radio Azattyk, der kirgisische Dienst von Radio Liberty, berichtet, löste ihr Tweet eine Welle der Solidarität in der Studierendenschaft aus, infolge derer der allzu starke Einfluss Russlands auf die universitäre Lehre angeprangert wurde. Einmal mehr hat sich damit gezeigt, dass die Dekolonisierung in Kirgistan noch immer ein Tabu ist. Ein Teil der kirgisischen Zivilgesellschaft nimmt sich dem Thema nichtsdestotrotz an.

Die Risse im kollektiven Gedächtnis schließen

Vom 17. bis zum 19. März veranstaltete die Organisation Esimde (das kirgisische Wort bedeutet auf Deutsch „Ich erinnere mich“) am Museum der Schönen Künste von Bischkek eine Konferenz mit dem Titel „Brücken der Erinnerung“. Im Rahmen der Konferenz diskutierten Künstler:innen, Aktivist:innen und Akademiker:innen über Themen der Erinnerung und der Dekolonisierung nicht nur in Kirgistan, sondern im gesamten postsowjetischen Raum.

Esimde wurde 2018 mit dem Ziel gegründet, die kirgisische und zentralasiatische Geschichte und Erinnerungskultur des 20. und des 21. Jahrhunderts zu erforschen und zu verstehen. Forschung, Diskussionsveranstaltungen und Workshops sollen eine in Vergessenheit geratene Vergangenheit sichtbar machen.

Das Projekt finanziert sich ausschließlich über Crowdfunding sowie den Verkauf von Publikationen. Seit 2018 macht sich Esimde daran, ein Archiv der von der Kolonialmacht ermordeten und juristisch verfolgten Personen zu schaffen. „Viele Menschen konsultieren unsere Archive auf der Suche nach den Namen von Verwandten“, erklärt die Historikerin und Leiterin des Projekts, Elmira Dogojbajewa, Novastan gegenüber.  

Die Besucher:innen sind eingeladen, ihre persönliche Geschichte zu erzählen. Aus der Vielzahl der individuellen Geschichten soll sich das Mosaik der Makrogeschichte ergeben. „Teilen Sie Ihre Geschichte! Falls Sie etwas zu teilen haben: eine persönliche Geschichte, ein Tagebuch, die Geschichte Ihrer Familie, Ihrer Großeltern, Ihres Dorfes oder Ihrer Stadt – wir können sie veröffentlichen“, lädt die Webseite des Projekts ein.

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Doch das ist nicht die einzige zivilgesellschaftliche Initiative, die sich das Ziel gesetzt hat, dem Vergessen entgegenzuwirken. Mehrere Filme sind entstanden, in denen Bruchstücke und Fragmente der kirgisischen Geschichte nachgezeichnet und zusammengesetzt werden. So wurde unlängst im Novotel-Hotel in Bischkek ein Dokumentarfilm über die Deportationen in den 1930er Jahren zur Zeit der Hungersnot in der Sowjetunion gezeigt.

Wie Radio Azzatyk berichtet, brachen im August letzten Jahres mehrere Bürger:innen von Bischkek zu einem mehrtägigen Fußmarsch nach Tossor im Gebiet Yssykköl auf, um dem Aufstand Tausender Zentralasiaten gegen das Russische Kaiserreich von 1916 zu gedenken.

Dekonstruktion von Kolonialismus – Rekonstruktion von Identität

Bei der Eröffnung der Konferenz vom 17. März betonte Dogojbajewa die zentrale Rolle der Erinnerung für die (Re-)Konstruktion der kollektiven Identität. Sich in Zentralasien mit der Vergangenheit zu beschäftigen, bedeutet zwangsläufig eine Auseinandersetzung mit der Kolonialherrschaft. In diesem Sinn hinterfragt „Brücken der Erinnerung“ das vorherrschende russischen Narrativ, das auch weiterhin viele Bereiche der kirgisischen Gesellschaft bestimmt.

In einem Interview, das Dogojbajewa dem Central Asian Bureau for Analytical Reporting (CABAR) gegeben hat, erklärt die Historikerin, dass in den Schulbüchern die Geographie und die Geschichte Kirgistans noch immer in Begriffen der Sowjetzeit dargestellt werden, „mit der gleichen kolonialen Sprache“.

Die Sowjetunion ist in Kirgistan mit unzähligen historischen Monumenten im öffentlichen Raum präsent: In jedem Dorf, in jeder Stadt findet sich eine Lenin-Büste. Der Erinnerung an die zaristischen und sowjetischen Repressionen wurde hingegen, die Gedenkstätte Ata-Bejit ausgenommen, kaum Platz eingeräumt.

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An der von Esimde organisierten Konferenz haben prominente Wissenschaftler:innen wie Erica Marat von der National Defense University in Washington, D.C. oder die Anthropologin Asel Dooletkeldieva, teilgenommen. Auch andere Akademiker:innen waren anwesend, um ihre Arbeit über die Entwicklung der Erinnerung an die Kolonialzeit im postsowjetischen Raum vorzustellen: Bahrom Irzayev, Forschungsleiter am Museum der Repressionsopfer in Taschkent, sprach über Usbekistan; Anton Vatcharadze, Forscher am Institute for Development of Freedom of Information in Tblissi, sprach über Georgien.

Die herrschende Erinnerungspolitik in Frage stellen

Besonders kritisiert wurde auf der Konferenz das Fehlen einer kohärenten Erinnerungspolitik seitens der kirgisischen Regierung. Dogojbajewa und viele der anwesenden Historiker:innen beklagten, dass die Staatsarchive immer noch unter Verschluss gehalten werden, weil das die historische Forschung über die koloniale Vergangenheit und das Ausmaß der Repressionen behindert, denen die kirgisische Bevölkerung zur Zeit der Sowjetunion ausgesetzt gewesen ist.

Die Öffnung der Archive ist beinahe im gesamten postsowjetischen Raum ein Problem“, erklärt der Vorsitzende der NGO Memorial Russland, Jan Raczynski, anlässlich eines Vortrags. „Hunderttausende von Menschen wissen nicht, was mit ihren Angehörigen geschehen ist und wo sie begraben liegen“.

Im Dezember letzten Jahres war Esimde Teil der Initiative für einen Gesetzentwurf zur Freigabe der Archive. Der Entwurf wurde von vier Abgeordneten aus verschiedenen Fraktionen getragen. Sie forderten „historische Gerechtigkeit“ und wollten alle Opfer der Justiz der Sowjetunion rehabilitieren. Der Text wurde jedoch abgelehnt, wie Gulsat Alagos, eine der mit Esimde assoziierten Forscherinnen, Radio Azattyk gegenüber erklärt. In Kirgistan müssen die Brücken der Erinnerung erst noch gebaut werden.

Lou Desmoutiers, Journalistin

Aus dem Französischen von Lucas Kühne

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