Dass Kunstausstellungen auch in Usbekistan ein bedeutender Teil des Alltags sind, zeigte Ende 2020 die Schau „Shajara“ in der Bonum Factum Galerie in Taschkent. Folgender Artikel über das mehrteilige Projekt erschien Ende November im russischen Original bei Hook.report. Wir übersetzen ihn mit freundlicher Genehmigung der Redaktion.
Kunst- und Foto-Austellungen sind Gradmesser für die Entwicklung des kulturellen und gesellschaftlichen Lebens der Gegenwart. Doch tatsächlich messen wir ihnen, insbesondere der bildenden Kunst, heute doch keine große Bedeutung mehr bei. Dabei stellt sie doch einen viel größeren Teil unseres Lebens dar, als es uns bewusst ist. Das ist jedenfalls die Botschaft der Ausstellung „Shajara“, welche am 21. November 2020 in der Bonum Factum Gallery in Taschkent ihre Pforten öffnete – als großes Finale einer ethnographischen und kulturellen Expedition, die vom 5. bis 12. Oktober stattgefunden hatte. Ihr Ziel war es, Menschen näher zu bringen, wie sich die kulturelle Identität in Städten und Dörfern Usbekistans bildet.
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Das Wort „Shajara“ stammt ursprünglich aus dem Arabischen und bedeutet übersetzt „Baum“. Es steht für die Gesamtheit des Ursprungs der Menschen, für Vorfahren und Blutsbande. Früher hatte man in jeder Familie eine eigene „Shajara“ – einen Stammbaum, die Verbindungslinien der gesamten Familie. In der modernen Welt hat dieses Dokument jedoch seinen Wert nahezu verloren.
Was usbekische Fassaden vor Touristen verbergen
Die Teilnehmenden der Expedition im Oktober wollten aufzeigen, was sich hinter einer scheinbar idealen Fassade verbergen kann: Orte, die den Augen der Touristen vorenthalten bleiben, das beseelte und häusliche Usbekistan. Die Organisation der Ausstellung übernahm Viktor An, Fotograf und Mitglied des kreativen Verbandes für Künstler, zusammen mit Ildar Sodykow, Steetphotographer und Mitglied der Russischen Union der Fotokünstler.
Die Ausstellung erzählte von der Identitätsgeschichte des usbekischen Volkes – ausgehend von Buchara, einer der ältesten Städte Usbekistans, gelegen auf dem Heiligen Hügel und historisch als Quelle des Wissens bekannt. Vieles hat sich hier im Vergleich zu früher verändert und bei weitem nicht für alle in die richtige Richtung. Hotels überfluten die Stadt, Behörden ließen alte Gebäude restaurieren und somit schwanden Geschichte und Charme der Stadt. Die Expedition begab sich ins Innere der Altstadt und dokumentierte das Buchara, wie es die Einheimischen sehen: eine Stadt, die meist für Touristen und Besuchende aus aller Welt unerkannt bleibt.
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Die zweite Siedlung wurde Langar, ein hügeliges Gebiet in der südlichen Provinz Quashqarayo, zwischen den Städten Karshi und Shahrisabz. Bekannt ist es als „rotes Land“, reich an Onyx und einer Legende nach begann von dort aus die Verbreitung des heiligen Buches der Muslime: des Korans. Die Ausstellung schließt auch Arbeiten von Viktor Ans erster Expedition nach Langar 2005 ein und zeigt, wie sich das Leben in dieser Region innerhalb von 15 Jahren verändert hat.
Die dritte Station war das exotische Dorf Gilan, das hoch in den Bergen an der Grenze zu Tadschikistan liegt. Laut Aussagen von Einheimischen leben dort Nachfahren von Alexander dem Großen. Für die Teilnehmenden der Expedition war die Reise voll von Überraschungen. Sobald sie ankamen, waren sie fasziniert vom Horizont und Schönheit des Ortes und der Freundlichkeit der grünäugigen, schönen Einwohner Gilans. „Einfach ein Wunder“, sagt beispielsweise Ildar. Auch: Traditionell schickt man dort keine Heiratsvermittler unter den Familien; es ist üblich aus Liebe zu heiraten.
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Die letzte Station des Projekts war das arabische Dorf Yeynau, in dem noch heute viele ethnische Araber leben – Nachkommen jener ersten Araber, die ins Land kamen. Das Ziel der Expedition war die Darstellung und das Festhalten eines Teils der usbekischen „Shajara“, aus der unsere Wurzeln, Geschichten, Traditionen, Sprachen und Dialekte stammen. Die Teilnehmenden hielten dies in Form von Fotos und Videos fest.
Trotz der Corona-Pandemie wurde die Ausstellung von vielen Menschen besucht, was Autoren und Organisatoren erstaunte. Viele Menschen interessierten sich für ihre Herkunft und tauchten in die Geschichte ein. Für die Menschen, die das Projekt ins Leben gerufen haben, war dies eine tolle Resonanz. Nächstes Jahr plant Kuratorin Shakhnoza Karimbabayeva zusammen mit den Autoren, die „Shajara“ in Gilan auszustellen – als Dankeschön für die Hilfe der Einwohner.
Wozu nur ausschweifen in die Provinz?
Bleibt nur die Frage: Wofür brauchen wir so etwas? Es ist wichtig, sich daran zu erinnern, dass Usbekistan mehr ist als seine Hauptstadt Taschkent. Das Land besitzt eine reiche Geschichte und dank dieser Wurzeln werden wir, egal wohin das Leben uns verschlägt, nicht in Vergessenheit geraten.
Reisende, die nach Usbekistan kommen, wollen nicht nur moderne Hochhäuser, endlose Städte und übermalte Wahrzeichen sehen. Viel interessanter ist es doch, tiefer zu gehen und die Geschichte noch aufleben zu lassen: zu sehen, wie hier Menschen mit einer guten Seele leben.
Khadicha Rakhmatullaeva für Hook.report
Aus dem Russischen von Vlada Brelenko
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