Vor vier Jahren fand in Usbekistan mit dem Antritt des neuen Staatspräsidenten Shavkat Mirziyoyev ein Wechsel an der Führungsspitze statt. Aber führen die Veränderungen in Usbekistan sowie Anfang 2019 in Kasachstan zu einer Erneuerung der Region? Kann man von einem „Neuen Zentralasien“ sprechen und wie werden sich die Beziehungen der zentralasiatischen Staaten entwickeln? Über diese und weitere Fragen diskutierten Politologen und Ökonomen bei dem Treffen „Expert Update `Neues Zentralasien´“. Folgender Artikel erschien im russischen Original bei dem kasachstanischem Onlinemagazin Vlast.kz. Wir übersetzen ihn mit freundlicher Genehmigung der Redaktion.
Von einem „Neuen Zentralasien“ kann nur im Hinblick auf die jüngsten Machtwechsel und angesichts der Herausbildung einer Zivilgesellschaft gesprochen werden, so der Politikwissenschaftler Askar Nursha. Obwohl die regionale Integration Zentralasiens ins Stocken geraten ist, tauchten Tendenzen auf, die auf eine mögliche Erweiterung der eurasischen Regionalintegration hindeuten. Ob diese zustande kommt, hänge nur von den weiteren wirtschaftspolitischen Entscheidungen der usbekischen Machthabenden ab.
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Nach dem Tod Islom Karimovs habe man in Usbekistan aufgehört, von Zentralasien im traditionellen Sinne zu sprechen, weil die Machthabenden häufiger die Zusammenarbeit mit den angrenzenden Ländern auf den Prüfstand stellten, so Politikwissenschaftler Rustam Burnashev. „Verändert sich Zentralasien aus der Sicht Kasachstans? Ja, selbstverständlich. Aber es gibt auch zeitlich vorgelagerte Entwicklungen: die Schaffung der Eurasischen Wirtschaftsunion [Anm.: EAWU; Mitgliedsstaaten sind Armenien, Kasachstan, Kirgistan, Russland und Belarus], einer Zollunion. Kasachstan befindet sich im Raum der EAWU und nicht in Zentralasien. Es ist möglich von einem ‚Neuen Zentralasien‘ zu sprechen, aber für jedes der Länder, die wir traditionell zu dieser Region zählen, wird es ein anderes ‚Neues Zentralasien‘ sein. Darin besteht auch die Neuheit. Die Länder Zentralasiens schaffen sich ihr eigenes ‚Neues Zentralasien‘“, konstatiert Burnashev.
Großes Investitionspotential vor allem für Kasachstan
2018 stellte die Boston Consulting Group ihren Report „Investing in Central Asia: One region, many opportunities“ vor, in dem das Potenzial an Ausländischen Direktinvestitionen (FDI) für die Region auf 170 Mrd. US-Dollar geschätzt wird, wovon 100 Mrd. auf Kasachstan entfallen. Der Ökonom Almas Chukin meint, dass es Kasachstan gelingt, seine vorhandene Attraktivität für Investoren zu bewahren und das obwohl sich die Wirtschaft Usbekistans aktiv entwickelt. Als Hauptfaktoren benennt er die schwierige Lage in der Verkehrsinfrastruktur Usbekistans und der Mangel an personellen Kapazitäten. „Im Hinblick auf die Verkehrsanbindung gibt es kein Land, das schlechter aufgestellt ist. Um [nach Usbekistan] zu gelangen, muss man über andere Länder reisen. An dieser Stelle ist es für Usbekistan sinnvoll, mit Kasachstan an der Verbindung China-Europa zusammenzuarbeiten, das sollte nicht unterschätzt werden. Außerdem habe ich nicht das Gefühl, dass während der 25-jährigen Amtszeit Karimovs in Usbekistan gute Schulen und Kindergärten mit einer hochwertigen Ausbildung entstanden sind. Im Ergebnis ist eine Generation herangewachsen, die nicht besonders gut auf das Leben vorbereitet ist. Das ist eine Herausforderung, die angegangen werden muss.“
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Die Experten diskutierten außerdem einen möglichen Beitritt Usbekistans zur Eurasischen Wirtschaftsunion, über den bald eine endgültige Entscheidung erwartet wird [Anmerkung: im Mai 2020 stimmte das usbekische Parlament für die Aufnahme eines Beobachterstatus in der EAWU]. In diesem Zusammenhang geht der Politologe Dosym Satpayev davon aus, dass der Beitritt Usbekistans zur EAWU nicht nur ein Anliegen der usbekischen Machthabenden, sondern auch ein russisches ist. Dieser Einschätzung stimmt Burnashev zu und ergänzt, dass der usbekische Staatspräsident Mirziyoyev die Meinungen Kasachstans und Kirgistans ebenfalls nicht außer Acht lassen wird.
Zentralasien zwischen China und Russland
In den vergangenen Monaten ist in Kasachstan die anti-chinesische Stimmung gewachsen. Die Bürger*innen lehnen die chinesische Expansion ab und rufen zu Boykotten chinesischer Produkte auf. Diesem Verhalten gegenüber äußert Almas Chukin Unverständnis und merkt an, dass es in der kasachischen Geschichte keinerlei Auseinandersetzungen mit chinesischen Bürger*innen gegeben habe. Er ist zuversichtlich, dass die Zusammenarbeit mit China für Kasachstan sehr lohnenswert ist, allein schon aufgrund dessen, dass die Grenzstadt Korgas einen direkten Zugang zu den Weltmeeren bietet. „Wir stellen Güter mit geringer Wertschöpfung her, die nach China, auf den größten Absatzmarkt der Welt, geliefert werden können. Er befindet sich lediglich 300 Kilometer von uns entfernt. Die Ökonomien Chinas und Kasachstans ergänzen sich gegenseitig. Bei allem Respekt, aber China hat Russland beim Umfang der Investitionen bereits überholt und dieser Trend wird sich fortsetzen. Russische Investitionen gibt es bei uns praktisch gar nicht. Gerade findet ein großes Wettrennen um Zentralasien statt. Die Interessen Chinas sind sehr einfach: Alle chinesischen Seewege führen entweder durch Singapur oder die USA. Beide Verbindungen werden von den USA kontrolliert. Die Chinesen haben verstanden, dass man sie bei alleinigem Fokus auf die Seewege in die Enge treiben kann. Deshalb haben die Chinesen beschlossen, den direkten Weg durch Zentralasien zu nehmen. Sie wollen das Zentrum der Zivilisation nach Asien verlegen. Unsere Ressourcen interessieren sie nicht“, positioniert sich der Ökonom. Laut Chukin mische sich China nicht in die Innenpolitik von Ländern ein, weshalb man sich nicht vor einer Zusammenarbeit mit Peking fürchten müsse.
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Kasachstans zweitwichtigster Partner nach China ist Russland. Askar Nursha zufolge ist Russland heute nicht nur an der Aufrechterhaltung eines gemeinsamen Wirtschaftsraums in Zentralasien, sondern auch an der Beibehaltung eines gemeinsamen militärpolitischen Raumes interessiert: „Wenn Kasachstan verkündet, nur eine wirtschaftliche Integration anzustreben, so wird das in Moskau mit Unglauben und Ablehnung aufgenommen, weil das für Russland zu wenig ist. Wir haben hier in der Region eine ‚schizophrene‘ Beziehung zu Russland: Wir brauchen Russland, weil wir im militärpolitischen Bereich schwach aufgestellt sind, aber gleichzeitig benötigen wir das Russland, das einem seine Meinung aufzwingen könnte, nicht all zu sehr. China wird sich stärker, Russland dagegen schwächer entwickeln. Russland wird bald im Rahmen einer Partnerschaft attraktiv werden.“
Für das wichtigste Thema in den Beziehungen zwischen Russland und den zentralasiatischen Staaten hält der Politologe das ‚Große Russland‘. Heutzutage halten sich in Russland Arbeitsmigrant*innen aus allen zentralasiatischen Ländern auf, von denen ein Teil bereits die russische Staatsbürgerschaft erhalten hat und nicht beabsichtigt, in ihre Heimat zurückzukehren. Laut Nursha ist auf dem Territorium Russlands ein ‚Neues Zentralasien‘ am Entstehen. Diese Diaspora werde in einigen Jahren von Russland entweder als Kanal zur Zusammenarbeit oder als Instrument zur Beeinflussung der Politik in der Region genutzt werden.
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Werden es die zentralasiatischen Länder schaffen, ihre Beziehungen untereinander zu verbessern? Rustam Burnashev sieht dafür eine Reihe ernstzunehmender Einschränkungen wie beispielsweise, dass mit Kasachstan und Kirgistan nur zwei von fünf Staaten Teil der Eurasischen Wirtschaftsunion sind. „Es stellt sich die Frage: Brauchen wir Zentralasien überhaupt? Wir leben und arbeiten in einem Mythos, den wir selbst in den 1980er Jahren rund um Zentralasien geschaffen haben. Aber über mehr als Worte kommen wir nicht hinaus und werden es höchstwahrscheinlich auch nicht. Wenn wir ein regionales Format für Zusammenarbeit schaffen wollen, dann müssen wir ein ‚Neues Zentralasien‘ ins Leben rufen und dafür die alte Konzeption, die sich zufällig während des Zerfalls der Sowjetunion herausbildete, dekonstruieren“, legt der Politologe seine Ansicht dar. Askar Nursha stimmt dieser Ansicht zu: „Es geht nicht darum, ob es Zentralasien gibt oder nicht. Um eine gute Figur zu haben, muss man Sport machen. Wir wollen in Zentralasien eine gute Figur abgeben, aber machen keinen Sport.“
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Die Europäische Union als Vorbild
Dosym Satpayev sieht drei Gründe dafür, dass es den zentralasiatischen Staaten aktuell schwer fällt, einen konstruktiven Dialog aufzubauen: an der Staatsspitze befindet sich nach wie vor eine alte Führungsriege, die Länder sind von alten geopolitischen Mächten mit klaren Interessen umgeben und es mangelt an einer einheitlichen regionalen Selbstidentifikation. „Die Organisatoren dieses Treffens sollten es lieber ‚Existiert Zentralasien?‘ nennen [Anm.: anstelle von „Welche Zukunft erwartet Zentralasien?“]. Unserer Diskussion nach zu urteilen, haben wir uns noch nicht der Frage angenähert, wie das ‚Neue Zentralasien‘ aussehen sollte. Aber enge wirtschaftliche Beziehungen reißen früher oder später viele Mauern ein. Die Europäische Union ist auch aus Ländern entstanden, die über Jahrhunderte Krieg gegeneinander geführt haben. Man kann doch alle Kriege überwinden. Warum? Weil sie die Wirtschaft an erster Stelle positioniert haben und erst danach politische Interessen angingen. Und wir befassen uns häufiger in erster Linie mit der Politik“, bilanziert Satpayev.
Yuna Korosteleva für Vlast.kz
Aus dem Russischen von Marie Schliesser
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