Die Coronavirus-Pandemie bringt den Tourismussektor in Bedrängnis und zeigt die wachsende Abhängigkeit der ViehzüchterInnen von dieser neuen Einkommensquelle. Am stärksten betroffen sind die prekär lebenden Bevölkerungsgruppen.
„Ich bin bereit, das Geschäft wieder aufzunehmen, aber leider bleibt diese Quarantäne allen im Hals stecken.“ Für Tursun Mambetalijewa war vor zwanzig Jahren das Geschäft auf traditionelle Weidewirtschaft beschränkt. Aber seit etwa fünfzehn Jahren ist der Tourismus in ihr Leben eingetreten. Sie hat ihr „eigenes Business“ gegründet und beherbergt nun von Mai bis September 60 TouristInnen in ihrem Jurten-Lager in Eki-Naryn im Süden Kirgistans.
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In diesem Jahr wird dies für Tursun wahrscheinlich keinen Gewinn bringen. Die Coronavirus-Epidemie mit mittlerweile mehr als 2.000 Infektionen in Kirgistan hat die Regierung veranlasst die Grenzen bereits am 17. März, einen Tag vor der offiziellen Bekanntgabe der ersten Fälle, zu schließen. Am 11. Mai wurde zwar der 50-tägige Ausnahmezustand beendet, aber einige Städte wurden direkt unter Quarantäne gestellt. Massenkundgebungen bleiben verboten, der Verkehr innerhalb des Landes, insbesondere die Inlandsflüge, wurde wieder aufgenommen.
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Der Tourismussektor ist völlig gelähmt und dürfte sich erst allmählich erholen. Turkish Airlines hatte zwar ab dem 16. Juni wieder Flüge zwischen Istanbul und Bischkek geplant, allerdings sind die Grenzen bisher nicht geöffnet. Die ersten internationalen Flüge können also erst später als geplant stattfinden.
Tourismus als ergänzende Einnahmequelle
Diese Situation trifft insbesondere die kirgisischen ViehzüchterInnen, da viele parallel touristische Angebote aufgebaut haben. Oft läuft es darauf hinaus, Fremde zu beherbergen, die unabhängig oder aber professioneller unterwegs sind. Dazu sind sie Partnerschaften mit lokalen oder internationalen Agenturen eingegangen. Schekerbek Suranschijew hat sich vor zwei Jahren zu diesem Schritt entschieden. Nachdem er eine Zeit lang TouristInnen über die sozialen Netzwerke auf sein Angebot aufmerksam machte, begann der ehemalige Beamte und jetzige Hierte mit der Französisch-Kirgisischen Agentur für Öko-Tourismus (AFKE) zusammenzuarbeiten. Mit 250 Gästen pro Sommer „nimmt der Tourismus einen wichtigen Platz ein, aber wir haben Zeit, Zucht zu betreiben“, fasst er zusammen.
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Die HirtInnen sehen sich mit den gleichen Problemen konfrontiert. Nasira Sultanalijewa, Kundenbetreuerin der Tourismusagentur „Kirghiz-What?“, sorgt sich vor allem um die Zukunft ihrer PartnerInnen, obwohl sie sich sicher ist, dass trotz der erzwungenen Inaktivität „die Unternehmen überleben werden“. Sie weist insbesondere auf das Problem der Verschuldung hin, dem man gegenüberstehe. „Die Vorbereitung der Jurten ist teuer, die Investition reicht von 3.000 bis 10.000 Dollar, die Züchter greifen auf Kredite bei der Bank zurück“, erklärt sie gegenüber Novastan.
Ungleiche Abhängigkeit
Schekerbek Suranschijew gibt zu, dass er keine Sorgen hat, mit der Situation finanziell fertig zu werden: „Wir haben keine Bankkredite, und das Einkommen der Farm reicht aus, um zu leben.“ Das ist bei Tursun Mambetalijewa nicht der Fall. Ihre Familie ist gezwungen, sich immer mehr auf touristische Aktivitäten zu spezialisieren. „Wenn der Kredit fällig wird, verkaufen wir Vieh und zahlen ihn zurück“, erklärt sie gegenüber Novastan. Heute besitzt sie nur noch etwa 50 Schafe, etwa 20 Yaks und einige Pferde, die sie an UrlauberInnen vermietet.
„Die Einnahmen aus dem Tourismus sind extrem wichtig“, erklärt Tursun Mambetalijewa. Allerdings plant sie nicht, etwas zu verkaufen und behauptet, dass die Rente ihres Mannes, 3.500 Som (41,90 Euro), die Familie in jenen Monaten ernähren kann, in denen sie keine TouristInnen aufnehmen wird.
Jurten-Camps für TouristInnen
Andere haben nicht auf Kredite zurückgegriffen, sondern beschlossen, ihren gesamten Viehbestand zu verkaufen und sich auf andere Geschäftsmodelle zu fokussieren. In den letzten Jahren konnte der AFKE-Vorsitzender Philippe Boizeau, der in Bischkek lebt, „Jurtenlager entdecken, die ausschließlich für TouristInnen aufgestellt wurden, wo es überhaupt keine Tiere mehr gibt“. Diese ehemaligen ViehzüchterInnen gehen manchmal sogar so weit, sich direkt über Internetplattformen wie Booking.com an ihre KundInnen zu wenden.
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Obwohl es schwierig ist, das Ausmaß der jüngsten Krise genau zu beziffern, haben sich einige Fachleute der Tourismusbranche mit diesem Thema beschäftigt. Fabien Selosse, der für die Tourismusagentur „Nomad’s Land“ arbeitet, gehört dazu. Für den französischen Expat ist es „ein Phänomen, das nach wie vor marginal ist, es betrifft die touristischsten Almen des Landes“. Diese HalbnomadInnen, die ihr altes Leben aufgeben haben, konzentrieren sich hauptsächlich auf die Almen am See Songköl und am Fuße des Pik Lenin. Gemäß Selosses Beobachtungen hätten in ganz Kirgistan weniger als hundert Familien diese Wahl getroffen. Das kirgisische Landwirtschaftsministerium ließ eine Anfrage von Novastan zu diesem Thema unbeantwortet.
Die Krise trifft die Schwächsten
Zusätzlich zu dieser Minderheit völlig abhängiger ViehzüchterInnen besteht die Gefahr, dass die Coronavirus-Krise einen ganzen Teil der Bevölkerung auf der Strecke lässt, die Berufe ausüben, auf denen sich die ViehzüchterInnen und Agenturen verlassen, um ihre touristischen Aktivitäten zu vermarkten.
Nasira Sultanalijewa verweist auf das Schicksal der PferdepflegerInnen, Guides und PferdevermieterInnen – Stellen, die „in normalen Zeiten mit armen Menschen besetzt“ sind. Mit ein oder zwei Pferden ist es unmöglich Zucht zu betreiben. Die touristische Saison wird dann die einzige Möglichkeit, den Lebensunterhalt durch Gelegenheitsjobs zu verdienen.
Eine Gelegenheit, die Situation zu überdenken
Seit der 2012 umgesetzten Visabefreiung für rund 40 Länder, darunter Frankreich und Deutschland, hat sich der Tourismus in Kirgistan extrem schnell entwickelt. Im Jahr 2019 kamen nach Angaben des nationalen Statistikkomitees knapp 1,8 Millionen UrlauberInnen ins Land gegenüber 1,2 Millionen im Jahr 2012. Laut Philippe Boizeau ist es diese Entwicklu, die viele KirgisInnen dazu veranlasst hat, ihr Glück im Tourismus zu versuchen – manchmal ohne Absicherung.
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Auch wenn Boizeau die Vorteile der neuen Einnahmequelle insbesondere für die „sozioökonomische Entwicklung der Region“ anerkennt, so sieht er doch in dem erzwungenen Bruch die Möglichkeit, eine andere Richtung einzuschlagen. Seiner Meinung nach kann die Übernahme des Sektors durch Regierungs- und Nichtregierungsorganisationen es ermöglichen, „dass der Tourismus die Kultur nicht beeinflusst, nicht zur Folklorisierung wird“. So wie es bisher war, bestehe jedoch das Risiko „eine völlig marktorientierte Beziehung zu haben und nicht einen echten kulturellen Austausch“.
Enzo Dubesset, Redakteur für Novastan
Aus dem Französischen von Robin Roth
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