Russland, Kasachstan und Weißrussland schreiten in großen Schritten einer gemeinsamen Zukunft entgegen. Am 29. Mai unterschrieben Putin, Nasarbajew und Lukaschenko ein Abkommen zur Gründung der Eurasischen Wirtschaftsunion (EAWU), welches am 1. Januar 2015 in Kraft treten wird. Während damit für Kasachstans Präsident Nasarbajew eine lang gehegte Vision in Erfüllung geht, bangen einige Bürger in Kasachstan um die Souveränität ihres Landes.
Deklariertes Ziel der Eurasischen Wirtschaftsunion ist die Entwicklung und Erleichterung der Handels- und Geschäftsbedingungen zwischen den drei Ländern. Das Integrationsprojekt soll ihren Mitgliedern den freien Verkehr von Gütern, Dienstleistungen, Kapital und Arbeitskräften ermöglichen. Außerdem wollen die Bündnispartner in den Bereichen Landwirtschaft, Industrie, Transport und Energie in Zukunft enger zusammenarbeiten. Die EAWU soll somit zu einem neuen Wirtschaftsentwicklungszentrum werden. In Kürze sollen außerdem Armenien und Kirgistan zur Eurasischen Wirtschaftsunion beitreten. Die Präsidenten beider Länder waren bei der Zeremonie anlässlich der Unterschreibung des Paktes als Beobachter anwesend.
Nasarbajews Vision und der Weg zur Eurasischen Wirtschaftsunion
Das Presseecho auf die Unterzeichnung des Abkommens zur Gründung der EAWU suggeriert größtenteils, dass Putin Initiator der Eurasischen Union sei. „Putin schmiedet Eurasische Wirtschaftsunion“ verkündete der Tagesspiegel, „Zum Unterschreiben verdammt“ titelte die FAZ.
Dabei wird außer Acht gelassen, dass Kasachstans Präsident Nursultan Nasarbajew eigentlicher Impulsgeber des Integrationsprojektes ist. Bei einer Rede in der Staatlichen Lomonossow-Universität Moskau formulierte er bereits 1994 erstmals die Idee einer Eurasischen Union. Ihm schwebte ein Bündnis aus gleichberechtigten, unabhängigen Staaten vor, das auf Prinzipien der Freiwilligkeit, der ökonomischen Zweckmäßigkeit und des gegenseitigen Vorteils basieren solle. So kurz nach Zusammenbruch der Sowjetunion stieß Nasarbajews Vorschlag bei den ehemaligen Sowjetstaaten jedoch auf kein Interesse, auch nicht bei der russischen Führung. Erst als 2000 mit Wladimir Putin ein neuer Akteur die politische Bühne betrat, änderten sich mit dem Machtwechsel auch die außenpolitischen Ambitionen Russlands. So ist es vermutlich auch diesem Umstand geschuldet, dass Putin als Gründungsvater der Eurasischen (Wirtschafts-)Union stilisiert wird. Der russische Präsident setzte sich, geleitet von geopolitischen und geoökonomischen Interessen, von Anfang an für die Stärkung regionaler Integration ein.
Schon im Oktober 2010 entstand auf Nasarbajews Initiative hin die Eurasische Wirtschaftsgemeinschaft (EAWG) mit Kasachstan, Kirgistan, Russland, Tadschikistan und Weißrussland als Mitgliedern. Sie wurde gebildet um Handelshemmnisse und Zölle abzubauen und dadurch wirtschaftliche Zusammenarbeit zu fördern. Hier zeigt sich, dass Nasarbajews Fokus in dem Integrationsprojekt von Anfang an auf der Erreichung wirtschaftlicher Ziele lag. Zwar kann man die Gründung der EAWG als erste frühe Etappe auf dem Weg zur Eurasischen Union begreifen, jedoch ist sie nur ein Forum für Kooperation, nicht für Integration. Der eigentliche Grundstein für die Eurasische Integration wurde im Oktober 2007 gelegt, als Kasachstan, Russland und Weißrussland ein Abkommen zur Gründung einer gemeinsamen Zollunion unterschrieben. Dieser Schritt zog die Einführung eines einheitlichen Zollkodexes nach sich, der im Juli 2010 in Kraft trat und schließlich die Etablierung eines Gemeinsamen Wirtschaftsraums (GWR) im Januar 2012.
Ein gemeinsamer Weg, drei Wunschrichtungen: Quo Vadis EAWU?
Hinter den drei Gründungsstaaten der EAWU liegt somit bereits ein langer Weg, in dessen Verlauf sich auch immer wieder Unstimmigkeiten zwischen den Akteuren offenbarten. Dass Russland seinen beiden Bündnispartnern allein flächenmäßig eindeutig überlegen ist und 88 Prozent des Gesamtbudgets der EAWU trägt, birgt zwangsläufig Spannungspotential. Während Russland mit der Gründung der EAWU vor allem geopolitische Interessen verfolgt und seine Position im postsowjetischen Raum stärken will, haben Kasachstan und Weißrussland andere Ziele.
So legte Nasarbajew neben der wirtschaftlichen Orientierung des Projekts von Anfang an Wert darauf, dass die neue Union keine Auswirkungen auf die Unabhängigkeit und politische Souveränität der Mitgliedsstaaten haben dürfe und bekräftigte diesen Umstand bei der Unterzeichnung des Abkommens abermals. Gleichzeitig zeigte er sich zufrieden über den beschlossenen Vertrag: „Damit heben wir die Integrationsprozesse im eurasischen Raum auf eine qualitativ neue Ebene an. Das Dokument ist abgewogen, sachgerecht und berücksichtigt Interessen aller Parteien.“ Laut Aussagen des kasachischen Außenministeriums war Nasarbajew mit den ersten Versionen weniger zufrieden. Sie hätten Vorschläge politischen Charakters enthalten, die auf Drängen der kasachischen Seite entfernt wurden. So sei es Nasarbajew zu verdanken, dass in den Verhandlungen Themen wie eine gemeinsame Außenpolitik, eine interparlamentarische Kooperation, Pass- und Visumsfragen und gemeinsame Grenz- und Exportkontrollen ausgeschlossen worden sind. Auch Weißrusslands Präsident Lukaschenko lehnt eine Politisierung der EAWU ab, wenn auch nicht so hartnäckig wie Nasarbajew. Er erhofft sich von der EAWU vor allem finanzielle Unterstützung und die schnelle Schaffung eines gemeinsamen Binnenmarktes für Öl und Gas. Bislang ist geplant, einen einheitlichen Öl- und Gasmarkt bis 2025 zu etablieren – für Lukaschenko zu langsam.
Viele der im Vertrag geregelten Bestimmungen über die Eurasische Wirtschaftsunion gelten bereits seit der Bildung des Einheitlichen Wirtschaftsraums, die EAWU wird aber als eine engere Form der Integration zwischen den Ländern angesehen. Neu ist zum einen die Anlehnung an internationale Standards, die sich aus Russlands Beitritt zur Welthandelsorganisation 2012 ergeben. Die wichtigste Neuerung zu früheren postsowjetischen Bündnissen, wie etwa der GUS, besteht darin, dass die EAWU auch über supranationale Institutionen nach EU-Vorbild verfügen wird. Der Hauptsitz der Eurasischen Kommission wird sich in Moskau (Russland) befinden, das Hauptgericht der EAWU in Minsk (Weißrussland) und die Einheitliche Finanzaufsicht in Almaty (Kasachstan). Im Vertrag ist zudem geregelt, dass allen Mitgliedsstaaten auf höchster Ebene der Union bei Entscheidungen das gleiche Stimmrecht, also eine Stimme zusteht – ein weiteres Novum.
EAWU als Wiederbelebung der Sowjetunion?
Trotz der Selbstbeschränkung Russlands durch die Festsetzung des Konsensprinzips bei Entscheidungen auf höchster Ebene, interpretieren manche Kommentatoren die EAWU als Versuch Putins, alte Machtstrukturen aus Sowjetzeiten wiederherstellen zu wollen. Der russische Präsident versichert allerdings, dass niemand eine gemeinsame Staatsangehörigkeit oder Währung einführen möchte und die Bedingungen der EAWU keine Auswirkungen auf die Souveränität der Mitgliedsstaaten haben werden. Die Bündnispartner eint vor allem das Ziel, durch die Abschaffung von Barrieren und die Einführung gemeinsamer Regeln und Standards zur wirtschaftlichen Entwicklung der EAWU-Länder beizutragen. Nasarbajew spricht zudem von einer Brücke zwischen den Ökonomien Europas und Asiens. Doch manche sehen die Eurasische Wirtschaftsunion als kein ernstzunehmendes Integrationsprojekt an, da die Gründungsstaaten eine gemeinsame Bevölkerung von nur 170 Millionen Menschen haben, grob etwa halb so viel wie die EU oder USA. Zudem beträgt die gemeinsame Wirtschaftsleistung der drei Länder rund 2,7 Billionen Dollar, während die USA und die EU jeweils um die 16 Billionen Dollar vorweisen. Dabei darf aber nicht vergessen werden, dass sich die EAWU in Zukunft noch erweitern wird und bereits jetzt eine Fläche von rund 20 Millionen Quadratkilometern umfasst. Sie ist damit annähernd so groß wie Nordamerika. Da die EAWU ihre Bevölkerung mit eigenen Ressourcen versorgen kann, sei die Unabhängigkeit der Mitgliedsstaaten garantiert. Derzeit ist der EAWU-Raum zudem der größte Exporteur von Energieressourcen und in letzter Zeit auch zum größten Exporteur von Weizen geworden.
Gespaltene Reaktionen in Kasachstans Bevölkerung
Trotz der so vehement behaupteten Ausklammerung politischer Elemente aus der neuen Union, misstrauen einige kasachische Bürger dem Abkommen und bangen um die Souveränität Kasachstans. Im Zuge der Krise in der Ukraine, die ursprünglich auch Mitglied in der EAWU werden sollte, stieg bei vielen die Angst vor einer politischen Einflussnahme des Kremls auf Kasachstan. So formierte sich in der kasachischen Bevölkerung eine Protestbewegung, die sich aktiv gegen eine Mitgliedschaft Kasachstans in dem Bündnis einsetzt. Die Gegner der Eurasischen Wirtschaftsunion sprechen von einer „ungleichen Hochzeit“ und glauben weder an ökonomische noch an politische Vorteile für das Land. Trotz aller Beteuerungen Nasarbajews, dass es sich bei der EAWU um ein rein wirtschaftliches Bündnis handele, fürchten sie politische Auswirkungen auf Kasachstan. „Ich denke, dass dunkle Tage auf uns zukommen. Wir verlieren unsere Unabhängigkeit“, so Ryspek Sarsenbay, Chefredakteur der kasachischen Zeitung „Zhas Alasch“. In einem von Radio Free Europe/Radio Liberty veröffentlichten Youtube-Video ist zu sehen, wie er und andere Bürger die kasachische Flagge, versehen mit einem schwarzen Band, vor dem Denkmal der Unabhängigkeit in Almaty niederlegen – als Symbol für den Verlust von Kasachstans Souveränität:
[youtube https://www.youtube.com/watch?v=Q7lXTlQrpk4]
Andere Protestierende tragen Atemschutzmasken und folgen damit einem Aufruf, der in Sozialen Netzwerken verbreitet wurde. Mittels der Masken wollen sie symbolisch vor dem „Virus“ des Imperialismus warnen und sich demonstrativ gegen die EAWU aussprechen. Initiator des Aufrufs und aktiver Gegner der EAWU ist Serikzhan Mambetalin. Er spricht vom Bündnis als „Achse von Diktatoren“ und von „Eurasianismus“, eine neue Form der Kolonialisierung Russlands. Kasachstan ist das einzige Land im Rahmen der EAWU, in dem überhaupt eine Diskussion zwischen Gegnern und Befürwortern stattfindet. Doch regierungskritische Aktionen werden in Kasachstan meist nicht geduldet, aufkommende Demonstrationen unmittelbar von der Polizei unterbunden. So kam es im Vorfeld der Unterzeichnung des Abkommens zu vorübergehenden Verhaftungen in Astana, wie Radio Free Europe und EurasiaNet berichten.
Letztendlich überwiegt aber der Anteil der Befürworter des Bündnisses. Laut Umfragen sprechen sich ca. 55 Prozent für eine Integration im Rahmen der Eurasischen Wirtschaftsunion aus, ca. 35 Prozent stimmen dagegen und ca. zehn Prozent sind unentschieden. Vor allem die noch große russische Minderheit in Kasachstan, die derzeit 22 Prozent der Bevölkerung darstellt, positioniert sich eindeutig für die Integration und verspricht sich dadurch eine Erleichterung des Arbeitskräfte-, Geld- und Dienstleistungstransfers. Außerdem sind sie der Ansicht, dass Integrationsprozesse mit Russland notwendig seien, um im harten Wettbewerb mit anderen Ländern und transnationalen Firmen zu bestehen.
Perspektiven
Ob Kasachstan und seine Bündnispartner von dem neuen Bündnis tatsächlich profitieren werden, bleibt abzuwarten. Im Rahmen der Zollunion blieb Kasachstan hinter seinen Erwartungen zurück und konnte im Gegensatz zu Russland und Weißrussland keine Steigerung des Exports kasachischer Waren in die Partnerländer verzeichnen. Stattdessen sanken die Exportzahlen um 3,7 Prozent. Trotzdem setzt Nasarbajew auf Wirtschaftspragmatismus und erhofft sich durch die Aktivierung des grenzüberschreitenden Handels und die Öffnung von Märkten im Rahmen der EAWU wirtschaftliche Chancen. Doch eine nachhaltige wirtschaftliche Entwicklung und Modernisierung lässt sich nur erzielen, wenn Kasachstan seine Abhängigkeit von Erdöl- und Erdölprodukt-Exporten mindert und den Handel mit Maschinen und innovativen Technologien steigert. Vor den Gründungsländern liegt also noch viel Arbeit. Zudem gibt es einige Unsicherheitsfaktoren – insbesondere ein Machtwechsel in einem der Mitgliedsländer könnte das Integrationsprojekt ins Wanken bringen.
Ob die weitere Zusammenarbeit harmonisch und erfolgreich verlaufen wird, hängt insbesondere auch von Russlands Verhalten ab. Nur wenn die russische Regierung nicht zu stark auf eine Vormachtstellung pochen und seine Bereitschaft zur Selbstbeschränkung einhalten wird, kann der Integrationswillen der Bündnispartner erhalten bleiben. Und nur so besteht die Chance, dass sich die größtenteils skeptische EU nicht auf Dauer völlig vor der EAWU verschließen wird. Bislang zeigen sich die Bündnispartner trotz aller Widrigkeiten enthusiastisch und betonen die Vorteile der EAWU. Bleibt zu hoffen, dass Nasarbajews Traum sich nicht als Albtraum für Kasachstan entpuppt und die dunklen Prognosen der EAWU-Gegner nicht eintreffen.
Alina Kozhakhmetowa
Autorin für Novastan.org, Kasachstan
Redaktion: Sofia Tscholakidi