Nach mehr als 25 Jahren Stillstand erwacht die usbekische Zivilgesellschaft. Doch die Hindernisse für eine wirkliche Veränderung von unten bleiben schwer überwindbar.
Usbekistan hat seit der Machtübernahme von Schawkat Mirsijojew zahlreiche Reformen verabschiedet. Das Stichwort dieser Reformen, die nun nach 25 Jahren Herrschaft unter Islam Karimow im Schnellverfahren durchgeführt werden, ist zum einen die wirtschaftliche Öffnung, doch zum anderen auch die offenere Haltung gegenüber alternativer Meinungen und Kritik.
So entstehen im Land neue Formen der gesellschaftlichen Mobilisierung. Ihre Ergebnisse lassen jedoch zu wünschen übrig. Die Regierung setzt in ester Linie auf die wirtschaftliche Aktivität, die sich wie im Russland der 1990er mit dem Auftreten kleiner, mächtiger Oligarchen entwickelt.
Freiere Medien
Erste Zeichnen dieser Öffnung gingen von Mirsijojew aus. Der neue Präsident, der Ende des Jahres 2016 an die Macht kam, hat eine neue Ära für die usbekischen Medien eingeläutet, denen er regelmäßig seine Unterstützung zusichert. Noch am 25. Juli erklärte er, dass Journalisten „die Wahrheit sagen“ und „dass es heute nicht mehr wie früher ist, wo es hieß: Das darf man (schreiben / sagen), das darf man nicht (schreiben / sagen)“.
Usbekistan hat ebenfalls der internationalen Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch eine Arbeitserlaubnis auf seinem Staatsgebiet erteilt. So möchte es seine Offenheit gegenüber der Weltgemeinschaft unter Beweis stellen und das Image des Landes verbessern.
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Ein omnipräsentes „Präsidentenportal“
Die wichtigste Neuerung von Mirsijojew war wohl die Eröffnung eines „Präsidentenportals“ im Internet, wo jede*r seine Beschwerden über die staatliche Politik schreiben kann. Alle usbekischen Bürger*innen haben so die Möglichkeit, sich über die Missstände der staatlichen Politik auf allen Ebenen zu äußern.
Der frühere Premierminister unter Islam Karimow startete das Portal im Herbst 2016 für seine Präsidentschaftskampagne. Abgesehen von der ausgezeichneten Möglichkeit für die Bevölkerung, sich zu äußern, ist es vor allem ein Mittel für den Präsidenten, um sein Image zu verbessern. Nach 13 unauffälligen Jahren setzte sich Schawkat Mirsijojew schon wenige Tage nach dem Tod des ersten usbekischen Präsidenten als sein Nachfolger durch.
Das Portal: Der Ausgangspunkt der Mobilisierungen
Täglich tauchen auf dem Onlineportal Themen der gesellschaftlichen Mobilisierung auf, wie zum Beispiel das illegale Fällen von Bäumen in Taschkent oder die Zerstörung von historischen Gebäuden in der Hauptstadt und in Samarkand. Im Jahr 2017, das der Präsident zum „Jahr des Dialogs mit der Bevölkerung“ erklärte, wurden diese Themen erstmals mit lokalen und zentralen Behörden besprochen zu werden.
Trotz der massiven Nutzung des Portals durch die Bevölkerung – mehr als zwei Millionen Anfragen allein in den ersten sechs Monaten des Jahres 2018 – verändert es nichts an den größten gesellschaftlichen Problemen, da es überflutet wird von anonymen Beiträgen über mehr oder weniger ernste individuelle Probleme.
Die sozialen Netzwerke: Das Herz des Kampfes für die Verbesserung des Stadtlebens
In dieser festgefahrenen Situation bieten soziale Medien einen weiteren Raum, um Probleme zu artikulieren und die Gesellschaft zu mobilisieren. Viele Aktivist*innen mobilisieren sich auf Facebook, vor allem um gegen die Arbeit der lokalen Behörden anzugehen, repräsentiert durch den Hokimijat, das usbekische Pendant zu Rathäusern oder Präfekturen. Die Themen dieser Mobilisierungsbewegung scheinen zunächst relativ unwichtig, doch letztendlich treffen sie ins Herz des Organisationssystems des usbekischen Staates.
Diese Organisation ist ein heikles Thema in Usbekistan, wo Macht extrem zentralisiert und vertikal verteilt ist. Dies schafft eine deutliche Kluft zwischen dem Zentrum, der Hauptstadt Taschkent, und den Regionen – einen Bruch, den die sozialen Mobilisierungsbewegungen aufgreifen.
Taschkent: Eine lebendige und misstrauische Zivilgesellschaft
Der Kampf gegen das rigorose Abholzen von Bäumen in der Hauptstadt war eines der ersten aufrüttelnden Themen für die Taschkenter Zivilgesellschaft. Symbolisiert wurde dieses Problem durch das Abholzen der jahrhundertealten Platanen auf dem „Square“, dem zentralen Platz der usbekischen Hauptstadt.
Das Hokimjat der Stadt reagierte 2017, indem er das Fällen von Bäumen in der Hauptstadt verbot und gleichzeitig ein Portal einrichtete, auf dem jede*r legale oder illegale Baumfällarbeiten dokumentieren kann. Dennoch waren die Maßnahmen des Taschkenter Hokimjats nicht wirksam und das großflächige Fällen von Bäumen hielt weiter an. Dieser gescheiterte Versuch, etwas zu verändern, stärke das gesellschaftliche Misstrauen gegenüber dem Hokimijat. Auch die Korruption der Firmen, die diese Bäume für den Möbelbau verkaufen, wurde angeprangert.
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Mehr als 12.000 Bürger*innen Taschkents haben außerdem eine Onlinepetition zur Änderung der Gesetzgebung zum Fällen von Bäumen im Land unterschrieben – eine Neuheit in Usbekistan, ebenfalls von der Regierung initiiert. Die Initiative für ein neues Gesetz zu diesem Thema wurde jedoch vom usbekischen Parlament abgelehnt. Die fehlende Reaktion der Behörden markiert vorerst das Ende der gesellschaftlichen Mobilisierung zu diesem Thema, da die massiven Baumfällarbeiten in der Stadt wieder begonnen haben, um Platz für den Bauboom zu schaffen, den die Hauptstadt und das gesamte Land derzeit erleben.
Die Taschkenter*innen befragen den Bürgermeister direkt
An Protestthemen mangelt es in Taschkent nicht. Ein weiterer beispielhafter Fall betrifft die Installation von Plastikskulpturen in der Stadt durch den neuen Bürgermeister – Hokim –Dschahongir Artychodschaew. Eine Recherche von Troll.uz, einer im Land sehr beliebten Facebook-Seite, konnte zeigen, dass es sich bei den Skulpturen um Kopien von Skulpturen aus chinesischen Onlineshops handelte, vor allem von „Alibaba“. Schlimmer noch: Bei einer der Skulpturen, einer Uhr mit dem englischen Schriftzug „Time to remember“ auf einem der meistbenutzten Kreisel der Stadt, handelt es sich um die Kopie eines Denkmals für die Opfer des 11. September 2001 in Summerville (Vereinigte Staaten). Die Uhr wurde daraufhin sehr schnell wieder abgebaut, doch die anderen kopierten Skulpturen schmücken weiterhin die Stadt.
Das Thema löste Kontroversen aus, vor allem da der Bürgermeister die Firma Akfa leitet, die größte Firma für Plastikfenster im Land. Das Hokimijat betont, die Skulpturen seien nicht vom Hokimijat bezahlt worden, sondern von Akfa. Ein weiteres Beispiel für die Vermischung von Wirtschaft und Politik in der Lokalpolitik.
Das Hokimijat von Taschkent, das über einen zivilgesellschaftlichen Rat und einen gegenüber Medien und Aktivisten sehr aktiven Pressedienst verfügt, scheint dieser zunehmend kritischen Zivilgesellschaft zuzuhören. Die Ergebnisse sind allerdings dünn, gigantische Immobilienprogramme, oft nur in wenigen Wochen geplant, florieren weiterhin.
Samarkand: Zerstörung, Mediatisierung und Status Quo
Die wenigen Fortschritte, die Taschkent erlebt, bleiben ein Beispiel für andere usbekische Städte, insbesondere Samarkand, die zweitgrößte Stadt des Landes. Samarkand gilt als die bekannteste Marke des Landes im Ausland, zieht Touristen an und bringt so die dringend benötigten Devisen in die usbekische Wirtschaft, die sich mitten im Reformprozess befindet. Seit den 1960er Jahren wurde jedoch die mittelalterliche Stadt zerstört, um die großen Denkmäler wie etwa den Registon hervorzuheben.
Seit der Unabhängigkeit gehen die Zerstörungen der historischen Stadtteile weiter, obwohl sie unter dem Schutz der UNESCO stehen. Heutzutage beherbergt die Stadt, die symbolisch für den magischen, mysteriösen Orient steht, nur noch diese großen Baudenkmäler inmitten moderner Gebäude ohne Flair und großer Alleen, die ständig erweitert werden.
Bis 2017 waren die Proteste gegen die Zerstörung der historischen Stadtteile nicht von Bedeutung: Sie beschränkten sich auf Expertenkreise, manchmal aus Usbekistan, häufiger aber aus dem Ausland.
Im vergangenen Juni begann die Situation, sich zu verändern. Murat Sarsenow, ein Bewohner Samarkands, der im Tourismus tätig war und gelegentlich zum Aktivist wurde, brachte den Stein ins Rollen. Mit einigen anderen warnte er über Facebook-Posts, Fotos und Videos vor der Zerstörung von Gebäuden des Stadtteils im russischen kolonialen Stil aus dem neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhundert, die ebenfalls unter dem Schutz der UNESCO stehen.
Diese Informationen wurden von den usbekischen Medien aufgegriffen, was den Bürgermeister der Stadt Samarkand dazu veranlasste, alle Bauprojekte in der Altstadt zu stoppen, bis ein allgemeiner Bebauungsplan der Stadt vorliegt. Seit der Sowjetzeit hat es keinen solchen Plan gegeben.
Verhaftungen in Serie
Nach dem Beginn dieses mediatisierten Skandals erklärte das usbekische Online-Medium Citizen.uz am 11. Juli, dass die Hokims der Stadt, der Region und mehrere regionale Vize-Hokims verhaftet und zu den illegalen Bauten in Samarkand befragt wurden.
Der Artikel wurde später von einem der Mitbegründer der Seite ohne Zustimmung von Chefredakteurin Darin Solod entfernt. Der Mitbegründer war der Ansicht, dass die Information, die von offiziellen Quellen nicht bestätigt wurde, ein Gerücht sei – eine Ansicht, die noch immer im usbekischen Journalismus vorherrscht. Dagegen erklärte Darin Solod, die Informationen seien durch Abgleich mit mehreren lokalen Quellen verifiziert worden. Ein Konflikt, der ihren Rücktritt nach sich zog, gefolgt von einigen anderen Mitarbeiter*innen des jungen Online-Mediums.
Das Online-Medium scheint jedoch Recht gehabt zu haben. Am 13. Juli veröffentlichten die usbekischen Behörden ein Video der Festnahme des Hokims der Region, Turobdschon Dschurajew und eines seiner Stellvertreter. Dieses wurde von allen usbekischen Medien aufgegriffen. Der Bürgermeister der Stadt, Furkat Rachimow, wird im Video nicht erwähnt und ist weiterhin im Amt.
Der Fall konzentriert sich nun auf Dschurajew, der im August 2017 vom Präsidenten zum Hokim der Region ernannt wurde. Die Behörden haben Beweise in Form einer Million Dollar in bar in seinem Safe gefunden. Vize-Hokim Utkir Abdullajew, der direkt für das Bauwesen in der Stadt und in der Region verantwortlich war, wurde freigelassen. Er arbeitet weiter in seinem Amt, so Sarsenow.
Der Beginn dieses Prozesses hat jedoch nicht zu grundlegenden Veränderungen geführt. Am 27. Juli, als ein neuer Hokim der Region ernannt wurde, ging die Zerstörung im historischen Teil von Samarkand weiter. In einem Video kritisierte der Aktivist Sarsenow die Lügen der Hokimijats und die juristischen Schlupflöcher, die für Abrisse und Neubauten im historischen Teil der Stadt genutzt werden. Als Reaktion darauf wies das Hokimijat in einem Video die angeblich falschen Informationen vehement zurück und rief dazu auf, „nicht zu glauben, was ihr in den sozialen Netzwerken seht“. Sarsenow gab darauf bekannt, dass er von einer Samarkander Baufirma angeklagt wurde: Sie wirft ihm vor, die Preise für das Bauland in die Höhe zu treiben.
Das einzige, was sich dank der Tätigkeit der Aktivisten in Samarkand geändert hat, ist die Kommunikation der lokalen Behörden, die nun viel aktiver und reaktiver ist. Trotz der Äußerungen des Kulturministeriums, die Situation in Samarkand sei inakzeptabel, ändert sich nichts: Das Bautempo wird beibehalten, die Aktivisten werden schlicht bedroht und beschuldigt, falsche Informationen geliefert zu haben.
Das Ergebnis des Aktivismus: Mehr Kommunikation vonseiten der Behörden
Der gemeinsame Nenner der Veränderungen in der gesellschaftlichen Mobilisierung in Usbekistan ist die Bereitschaft der Behörden, sich mit Aktivisten und Journalisten auseinanderzusetzen. Das Wirtschaftssystem, das vor allem auf der Stimulation der Wirtschaft durch einen Bauboom im ganzen Land aufbaut und zu Zeiten weit verbreiteter Korruption implementiert wurde, ist jedoch weit davon entfernt, sich zu ändern. Der Sektor stützt sich weiterhin auf enge Beziehungen zwischen Bauunternehmen und lokalen Behörden, die Baugenehmigungen ausstellen. Greifen Aktivisten dieses Wirtschaftssystem an, stehen sie vor einer unüberwindbaren kommunikativen Mauer.
Mit seiner Öffnung und der Liberalisierung der Zivilgesellschaft folgt Usbekistan dem Beispiel Kasachstans. Im Nachbarland müssen die Behörden die Erwartungen einer Zivilgesellschaft erfüllen, die vorwiegend russischsprachig ist und in den großen, entwickelten Städten des Landes lebt, insbesondere in der Hauptstadt. Das politische und ökonomische System, das vom Autoritarismus der Mächtigen und Reichen dominiert wird und vollkommen undurchsichtig und stark zentralisiert ist, bleibt dabei unverändert.
Mirsijojew versucht gar nicht erst, die Attraktivität des kasachstanischen Modells zu verheimlichen: Vielmehr ist er der Meinung, dass er von seinem erfahreneren Amtskollegen Nursultan Nasarbajew „bei jedem Treffen etwas lernen“ kann. Die Einführung dieses Modells in Usbekistan scheint heute unvermeidlich, zumindest kurzfristig.
Natürlich kann die Kopie nicht perfekt sein. Usbekistan hat im Durchschnitt eine viel größere, konservativere und weniger gebildete Bevölkerung als sein Nachbarland. Wird die Regierung auf lange Sicht in der Lage sein, mithilfe der richtigen Kommunikation die Gesellschaft zu führen, die oftmals die Inflation und die wirtschaftliche „Schocktherapie“ stark zu spüren bekommt?
Die Redaktion von Novastan.org
Aus dem Französischen von Annkatrin Müller
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