Skriptonit, einer der erfolgreichsten russischsprachigen Rapper, kommt ursprünglich aus einer Kleinstadt im Nordosten Kasachstans. Im Frühling war er auf Tournee in seinem Heimatland. In ihrer Rezension seines Konzerts in Almaty zeigt die Journalistin Sarina Achmetowa, wie Skriptonits Kunst tief in der kasachstanischen Realität seiner Jungend verankert ist. Wir übersetzen den Artikel von „The Steppe“ mit freundlicher Genehmigung der Redaktion.
Ende Mai trat der Rapper Skriptonit in Almaty auf. Adilj Dschalelow, wie der Musiker mit bürgerlichem Namen heißt, steht bei der russischen Label Gazgolder unter Vertrag, seine Karriere begann jedoch in seinem Heimatort Leninskij, in der Nähe von Pawlodar, Nordkasachstan.
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Die Eisarena der größten kasachstanischen Stadt war zu drei Vierteln voll. Und trotz seiner oft unartikulierten Aussprache fiel es mehreren Tausenden Zuschauern nicht schwer, seine endlosen komplexen Kompositionen aus dem Gedächnis mitzusingen. Skriptonits letztes Album „Uroboros“, benannt nach einer mythischen Schlange, die für das Leben, den Tod, die Selbstzerstörung und die ewige Wiederkehrt steht, erschien Ende vergangenen Jahres in zwei Teilen („Ulitsa 36‘ – „Straße 36“ und „Zerkala“ – „Spiegel“). Im Anschluss kündigte Skriptonit an, dass der eine Zeit lang keinen Rap mehr machen würde.
Volles Haus
Für die, die Skriptonit noch nicht kennen, hier ein kleiner Spoiler: Seine Kunst ist zeitlos. Skriptonit ist ein Sänger ohne Zeit. Er ist aus der Zeit, in der wir alle auf uns alleine gestellt waren, und manchmal auch für einander einstanden.
Auf der Bühne erschien er mit fast einer Stunde Verspätung.
„Lass uns noch 15 Minuten warten und dann gehen“, sag ich meiner Freundin. Ich ertrage es schlecht, wenn Du pünktlich kommst, dein Gegenüber aber nicht. Oder noch schlimmer: wenn sie einen im Wartezimmer mit den Füßen scharren lassen. So habe ich angefangen, selbst zu spät zu kommen, um mich weniger aufzuregen. Vielleicht will Skriptonit sich auch einfach nicht mehr aufregen.
Neben uns stehen 18-jährige Jungen, sie schauen mich verwirrt an. Die Jungs sind in guter Stimmung. Sie hätten auch drei Stunden gewartet. Die Fan-Zone ist brechend voll. Wir stehen ebendort, irgendwo beim fünftletzten Rang. Die Konzertbeleuchtung ergreift die Menschen, die gekommen sind, um Skriptonit zu hören.
Die Polizeiwagen versinken im dunkelroten Rauch. Es sind viele Polizisten da, sehr viele. Wahrscheinlich entsprechend der Besuchermasse: Die Arena mit 12.000 Plätzen ist zu 60 bis 70 Prozent voll. Ich kann mir keinen weiteren kasachstanischen Künstler vorstellen, der solch ein Publikum versammeln würde. Wobei – ich besuche selten Konzerte, besonders die von kasachstanischen Künstlern.
Wahrscheinlich sollte ich im Vorfeld eine Warnung aussprechen: Skriptonits Kunst strotzt vor obszönen, unzensierten Begriffen. Anders gesagt, sie weist auf eine unzensierte Realität.
In der Nähe klingelt bei einem Mädchen das Handy, während sie ein Selfie vor dem Hintergrund der leeren Bühne macht. Der Bildschirm scheint auf: „Pa“ mit Herzchen. „Ich bin auf dem Konzert, Pa“, das freie Ohr hält sie sich mit einem Finger zu. „Was? ‚Almaty. Arena’. Mach dir keine Sorgen. Ich weiß nicht, wann.“
Ich führe den Dialog in Gedanken fort (manchmal ist das eine lustige Übung): „Was für ein Konzert?“ – „Skriptonit, Pa“.
„Skriptonit, Pa“, sagt sie auch schon selbst.
„Denn Papa weiß besser. Papa kennt den Sinn“, ergänze ich unseren gemeinsamen Gedankendialog mit einem Vers von Skriptonit.
Alma-Ta!
„Guten Abend, Almata“, sagt Skriptonit, setzt sich auf einen hohen Stuhl, schmeißt sich ein weißes Handtuch über die Schulter (später wird gut ein halbes Dutzend dieser Handtücher durch den Saal fliegen), und sein darauf folgendes Schweigen trifft auf volle Dezibell Anhimmelung.
„Almata, mach Krach für Skrip“, schreit der Catch-Boy ins Mikrofon. Aber „Almata“ braucht keinen weiteren Ansporn. Die Smartphones, diese Banner unserer Generation, sind auf die Bühne gerichtet: „Sum-sum!“. Auch das ist aus einem seiner Lieder.
„Skriptonit, Skriptonit, Skriptonit!!!“
„Macht mal Licht im Sal. Ich sehe die Leute nicht.“ Das Publikum brüllt noch lauter. „Danke“, sagt Skriptonit leise. „Lauter, Bruder“, brüllen die Jungs in unserer Nähe. „Spar dir nichts!“
„Alma-Ta“, antwortet Skriptonit in zwei Wörtern.
Solch eine sprachliche Feinheit– „Almata“, wie ein Kennzeichen für alle, die sich wie Skriptonit nicht am harten Kampf zwischen „Alma-Ata“ und „Almaty“ beteiligen, also dem sowjetischen Name der Stadt gegen den kasachstanischen.
„Nordostkasachstan in meiner Haut“.
„Almata“, das ist kasachstanisches Russisch. Eben daran teilt sich die russländische Kritik, wenn sie versucht, durch seine Texte ihre eigenen Wunden zu diagnostizieren. Mir persönlich macht das nichts aus, bei uns gäbe es eine ähnliche Diagnose. Man möchte einfach lächeln, wenn man diese schlauen, herablassenden Verse liest. Skriptonits Texte kann man nicht in ihre Einzelteile auseinandernehmen, er übertreibt nichts, sondern beschreibt einfach unsere turbulente kasachstanische Kindheit. Ja, das ist Metasprache. Aber sie ist umso mehr durch Erinnerungen inspiriert.
„Ich lüge einfach, wenn ich sage, dass es hier eine Wahl gab“.
Was verbindet uns hier im Publikum?
In mir eröffnet sich die reine Neugier des Entdeckers. Wer sind wir alle hier? Wer sind diese Leute, die um den besten Blick auf die Bühne kämpfen, um den geglücktesten Selfie-Point auf diesem Konzert? Wer sind wir, die beim Joggen, oder im Bus, oder im Auto (wobei Skriptonit doch am ehesten Kopfhörermusik ist) diese Beats und Melodien hören und uns dabei fragen, was sich da genau in uns geregt hat.
Was verbindet uns? Die, die sich bemühen, den sogenannten „Jeltsin-Flow“ – ein Begriff aus den Bestrebungen der russländischen Kritik, das Phänomen des „russischsprachigen Rappers“ zu erklären – mitzusingen. „Jeltsin-Flow“, das ist dieser zerhakte, undeutliche, dabei aber sehr musikalische Bariton-Flow, durch den das Blut seinen Verlauf ändert, die Venen anschwellen, wie ein Flussbett, das vom Schmelzwasser im Frühling überwältigt wird.
Sie sind für etwas gekommen, das mit Wörtern oder Beats sauerstoffundurchlässiges Polyethylen aufreißt. Wobei, ich kann mich auch irren, und sie bemerken diesen Polyethylen nicht mehr, diesen starken, drosselnden Film, der Linien und Farben verzerrt. Sie dachten, eben so soll es sein. Aber das wilde innere Streben nach Freiheit, nach dem organischen menschlichen Wesen, aktiviert auch ohne Erlaubnis diese automatische Suche, und sie sind dennoch für eine Dose Freiheit gekommen. Aber auch das ist nicht ganz sicher. Denn all diese Jungen und Mädchen mit scharfsinnigen Sprüchen auf den T-Shirts stehen wahrscheinlich auch Schlange für Döner von ihren Youtube-Stars.
Im aktuellen postsowjetischen Raum gab es Probleme mit der politischen Beteiligung und dem bürgerlichen Engagement -entstanden in den 90ern (schon gut reflektiert, wie es scheint) und den „Nuller Jahren“ (noch nicht wahrgenommen) -, welche die soziale Stimmung beeinflussten. Die Umgebung unterlag keinem Widerstand mehr. Sie nahm einen neuen aggregierten Zustand an, so wie Wasser sich in Dampf verwandelt. Wir, die Folgegeneration und schließlich die aktuellen Schulkinder sind in einer neuen Welt aufgewachsen, die zwar eine Kopie der alten ist, aber die Widerstandsphase einfach überspringt. Alle fingen an, die „Jugend“ zu erforschen, also Schüler und die, die etwas älter sind. Wann können wir von ihnen erwarten? Wer ist ihre Stimme? Wovon leben sie eigentlich? Eines wurde in allen Fällen diagnostiziert: Youtube.
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Mit der Musik war es etwas komplizierter, das Hin und Her zwischen 2Pac, „Kaspijskij Grus“ (ein russischsprachiges Hip-Hop Duo aus Baku, Anm. d. Ü.) und irgendwem, der neu bei iTunes (oder den russischen sozialen Netzwerken Odnoklassniki, VKontakte) aufgetaucht ist, wie Oleg Miami, hat die Epoche nicht verständlicher gemacht.
Die Anzahl an „Labeln“, die junge Künstler mit Hundenamen abstempeln, hilft auch nicht, den Zeitgeist zu erklären.
Skriptonit – ein Produkt des Postsowjetischen
Adilj Dschalelow (das Internet sagt, der Nachname ist von seinem Großvater), aufgewachsen irgendwo in den Hinterhöfen des ehemaligen Reichs, und noch merkbarer, in der Provinz eines dieser Fragmente – sticht angenehm aus der üblichen Erfolgsleiter hervor. „Ich hatte einen Traum […] ich wollte ihn einfach verkörpern“. Um zu verstehen, worüber er redet, muss man nicht unbedingt trinken, rauchen und sich bis dahin zerspalten, bis man sich komplett „abgeschossen“ („vkhlaminu“) hat oder „am Abgrund des Puffs“ ist (wie in seinen Texten). Es reicht, wenn man sich an die Zeit erinnert, wenn Rama-Margarine als Butter galt und der teuerste Teil dieser Preisfindung die Werbefilme waren, die das Produkt an die Massen brachten.
Dann wird auf einmal klar, dass der Satz „Papa sagt, Butter ist toll“ verdammt noch mal keine Metapher ist. Das ist jede beliebige kasachstanische Kleinstadt in der gebrochenen, aber durch Hoffnung und alles Neue inspirierten Zeit zwischen der Mitte der 90er und dem Anfang der Zweitausender. Dann ist man „jung und dumm, in fröhlicher Stimmung“, „ganz ohne Sorgen“, aber auch „ganz ohne Moneten…“, also es gibt einfach kein Geld.
Solch eine Zeit in der gilt: „lass hier nichts unbeaufsichtigt liegen“. Eine wunderbare Dokumentation, fast wie bei dem Regisseur Sergej Losnitsa, der Realität und Skript vermischt, aber nicht vermengt. Skriptonits Sprache ist wie ein Echo von Stimmauszügen aus dem Leben, der Straße, der Jugend. Das sind alltägliche Weisheiten, noch einmal mit einem Zitat vom Papa, der „es nicht wollte, aber dir beibrachte, erwachsen zu sein“. Mit ihm vergehen wohl die Vostellungen davon, wie man das Leben zu leben hat, wie bei allen uns, die die Sowjetunion nicht im bewussten Alter erlebt haben.
„Papa hat sich durchgeschlagen, doch die Türen blieben verschlossen“. Ein sehr dramatischer Wandel im Leben unserer Eltern. Mir scheint, wir Zeitgenossen würden solch ein Beben nicht aushalten. Nicht mit 30 und auch nicht mit 40 Jahren. Aber sie haben es geschafft. Es wurde für sie nur schwerer, den neuen Menschen, ihren Kindern, eine Antwort zu formulieren, wenn sie sich fragen „wo das Geld auf der Balans (dem Guthaben, Anm. d. Ü.)“ ist, statt sich zu fragen, wer schuld ist. „Balans“, fällt mir ein, ist auch „kasachstanisches Russisch“. Nur gab es kein „Geld“ sondern „Guthaben“. Vielleicht hat er es vergessen.
Es ist die Zeit, wenn „man mit zwei Brüdern sitzen muss und Flip-Flops die einzigen Schuhe in gutem Zustand und der richtigen Größe sind“. Letzteres ist, wie mir scheint, überhaupt ein an Genialität grenzendes Gefühl für den Moment. Eine Intuition à la Mark Twain oder Ernst Hemingway, die das ganze Drama und das Schicksal in vier Worten ausdrücken. Die Hausaufgaben müssen gemacht werden und keiner ist da, um auf die jüngeren aufzupassen, weil alle arbeiten, man muss ja irgendwie überleben in dieser neuen Welt, in der die Fabriken außer Betrieb sind. So sind diese „Flip-Flops“ eine Kurzbeschreibung der verzweifelten Armut und Freiheit einer einst intellektuellen nationalen Provinz, die in den Abgrund rollt, und von all dieser neuen Welt nichts versteht. Es gibt keine Wahl. Die einzige Chance, das irgendwie zu überstehen, ist der Wahrheit ins Auge zu sehen: „Hier ist alles verkauft, und wir allen wussten das schon in unserer Kindheit“.
Später vergeht dann die „Zeit der Schulden“ und es kommt die „Zeit der Kredite“ – „jetzt ist jeder Tag wie ein Geburtstag“: „ein großer Flachbildfernseher“, „den Kindern eine Hochzeit in einem teuren Lokal“ und „noch ein Kredit für die Schwester“. Alle erinnern sich, das ist „unsere Rettung“. Um das Jahr 2007 herum zergeht all dieses gepflegte System in Asche. Mit ihm gehen die astronomischen Grundstückpreise in Almaty, die Verschuldung, die Zinsinhaber und die grassierenden Hypotheken, und der Papa aus Skriptonits Texten versteht, dass die Armut nun stärker ist, als Themis (die griechische Göttin der Gerechtigkeit, Anm. d. Ü.). Adilj sagt nicht „stärker“, sondern bevorzugt einen Kraftausdruck. Und er stellt sich seinem Vater gegenüber: „ich habe nie gekloppft, und alle Türen haben sich mir geöffnet. Du weißt nie, was passieren wird“. Dass er nie gekloppft hat, ist natürlich eine Lüge. Er arbeitet schon viele Jahre angespannt. Aber es ist eine berührende Lüge und auch nicht als Lüge gemeint, sondern als Verteidigung. Wie haben alle gesehen, dass es für Jungs schwer war, in dieser neuen Welt aufzuwachsen. Sie glaubten an eine Art „Härtevermutung“ – erst schlagen, dann diskutieren.
Auf dem Konzert in Almaty tritt Adilj Skriptonit Dschalelow in einem Shirt mit der Aufschrift „All money no bank“ auf. Die Firma Nike, die diese Hemden herstellt, stellt Nicht-Muttersprachler hier absichtlich vor ein Rätsel. Es ist ein Wortspiel aus dem Basketballjargon, wobei „Money“ einen direkten Treffer bezeichnet und „Bank“ einen Treffer über den Korbrand. Anders gesagt ist es so etwas wie ein Seufzer der Erleichterung darüber, nicht von der „Bank“ abzuhängen – viel Cash und keine Kredite.
Keine Politik
Bei seinem Konzert im April in Astana hat Skriptonit die Lokalbehörden der Region Pawlodar „kritisiert“, wie die Medien schrieben. Das Akimat (die Lokalregierung, Anm. d. Ü.) antwortete, wie es konnte. Der Fall bewegte mehrere Wochen lang die kasachstanischen Medien, die bei ihrem engen Rahmen stehts nach Nachrichten dürsten. Nach etwas Aufruhr war die Diskussion auch schon beendet. In Almaty redete Skriptonit nicht nur nicht über Politik, er war überhaupt sehr wortkarg. Sein T-Shirt passte jedoch zur allgemeinen Stimmung: Wir streiten uns nicht mehr mit dem System, sondern leben unabhängig von ihm, mit unseren Bedürfnissen, unseren Angelegenheiten und unserer Anpassungsfähigkeit.
Ich bin Teil eines Telegram-Chats in dem neben mir noch ein paar Hundert weitere unglückliche Kunden der Astana-Bank sind, die im Moment versuchen, ihr Geld zu retten, das per Knopfdruck auf den Karten und Konten blockiert wurde. Es ist nicht der erste Chat dieser Art in diesem Jahr. Diese Chats bringen wenig Nutzen, dafür aber eine gar anthropologische Erkenntnis: niemand glaubt an Institutionen. Institutionen sind ja eigentlich eine nützliche Praxis, sie schützen das System vor dem menschlichen Faktor und allen möglichen Kataklysmen. Aber wir haben davon nur gelesen. Nach 21 Uhr zeigt der Chat nur noch an, dass neue Nachrichten angekommen sind. Ich kann sie aber nicht lesen: abends gibt es in Kasachstan auf Telegram, YouTube, Insta-Stories und teils auch Facebook keinen Zugriff mehr. Kurz gesagt: aus politischen Überlegungen.
Das hatte ich vergessen. Ich versuche, ein Video bei Insta-Stories hochzuladen, ohne Erfolg. Ich schließe Instagram, und zurück in die Realität. Skriptonit singt über Liebe. Er selbst sagt, er kann dieses Lied nicht ausstehen. „Kosmos“ singt er schon seit über einem Jahr nicht mehr. „Eto – lyubov‘“ (Das ist Liebe) hasst er, ebenso wie „Tantsuj sama“ (Tanze selbst). Letztere zwei gehören aber immer noch zu seinem Konzertprogramm. Ich habe versucht zu verstehen, warum sie so erfolgreich sind, warum das Publikum sie so liebt, mehr als all die durchdachten Aussagen zu unserer Beton-Farbe und dem Design der Realität. Sie sind sehr musikalisch, ja. Aber vor allem hört man in ihnen Adiljs Stimme besonders stark. Seine gute Gesangstechnick klingt lauter, man kann die Wörter auseinanderhalten, die schwere, trübe Stimme ist nicht in Beats eingepackt. Und natürlich auch, weil es Liebeslieder sind. Er versucht zu singen, doch der Sal übertönt ihn. Die Fan-Zone schlägt in Ekstase. Auch die hinteren Ränge stehen, schon etwa das halbe Konzert lang.
„Schau, ich bin im Müll,
Schau, ich bin eine Null,
Schau mir in die Augen –
Tanze selbst“
Das Publikum atmet in seinem Rhythmus. Er drängt mit seinem niedrigen Timbre dorthin, wo es dem Raum nicht an Luft reicht. Er schaut vor sich hin, voller Verwunderung, und ich weiß nicht, ob er die Menge überhaupt sieht. Es gibt keinen Bildschirm mit Nahaufnahmen. Ich versuche, ihn zu verstehen, oder vielleicht versteht dieser Typ aus einer Kleinstadt bei Pawlodar, „von Kasachstan (s Kasachstana)“ (diese Formlierung lässt sich auch nicht beseitigen, wohl auch kasachstanisches Russisch) bei jedem Mal selbst nicht, warum irgendwelche Leute in großen Mengen seine agonistischen Strophen aufnehmen und weitertragen. „Alle wollen wissen (znat‘), was mit mir los ist. Nein, man soll mich nicht (er)kennen (uznavat‘)“. Ich lächle erstaunt, zuletzt habe ich solch auch „mich“ zutreffenden Satz bei einem klassischen Autor gelesen.
„Das war ein guter Abend, ‚Alma-Ta‘!“, sagt Skriptonit. Er lügt nicht. Eine wahnsinnige Lichtshow erhellt die letzte Synergie, und umhüllt diesen Abend im Mikrorajon Algabas-1 (ein Stadtviertel im Nordwesten von Almaty, Anm. d. Ü.). In der Minute ist klar, dass es an dem Abend keine Politik gibt. Die Leute sind ihr egal, schon lange. Und wir antworten mit Gegenseitigkeit.
Selbst, irgendwie.
Nur „erwarte vom Schicksal keine Tipps, wenn du dich auf das Gewissen besinnen musst“.
Sarina Akhmatova
The Steppe
Aus dem Russischen von Florian Coppenrath
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