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Die sowjetische Geschichte Zentralasiens (1/2)

Es wird viel über das Jubiläum der Oktoberrevolution geschrieben, die zentralasiatischen Staaten bleiben dabei aber meistens außen vor. Im Interview mit Rafael Sattarow spricht der russische Wissenschaftler Sergej Abaschin über die sowjetische Geschichte Zentralasiens und aktuelle Probleme der Region in der Beziehung zu Russland. Das Gespräch erschien zuerst beim Central-Asian Analytical Network, wir übernehmen es in zwei Teilen mit freundlicher Genehmigung der Redaktion.

Rote Armee Buchara Usbekistan
Soldaten der Roten Armee in Buchara in den 1920ern

Es wird viel über das Jubiläum der Oktoberrevolution geschrieben, die zentralasiatischen Staaten bleiben dabei aber meistens außen vor. Im Interview mit Rafael Sattarow spricht der russische Wissenschaftler Sergej Abaschin über die sowjetische Geschichte Zentralasiens und aktuelle Probleme der Region in der Beziehung zu Russland. Das Gespräch erschien zuerst beim Central-Asian Analytical Network, wir übernehmen es in zwei Teilen mit freundlicher Genehmigung der Redaktion.

Seit 1936 existieren die zentralasiatischen Staaten in ihren heutigen Grenzen. Nach mehreren Grenzziehungen wurden die fünf sozialistischen Sowjetrepubliken ins Leben gerufen, die heute als unabhängige Staaten existieren. Seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts war die Region in das russische Reich eingebunden. So folgte auf die russische Herrschaft die sowjetische, die neben den Grenzen auch Sprachen und Nationen in der Region prägte.

Rafael Sattarow: Die Grenzziehungen sind derzeit Diskussionsthema in Zentralasien. Dabei geht es vor allem um die Frage, ob die sowjetische Grenzziehung in der Region erfolgreich war oder ein misslungenes Projekt, das interethnische Konflikte und Grenzspannungen förderte?  

Sergej Abaschin: Die administrativ-territoriale Grenzziehung in den 20er und 30er Jahren war ein komplexer Vorgang, an dem viele verschiedene politische Kräfte teilnahmen. Natürlich hatte Moskau dass letzte Wort, schließlich gehörten die Grenzziehungen schon früh zu Stalins unmittelbarem Kompetenzbereich (als Komissar für nationale Angelehgenheiten, Anm. d Red.). Aber Moskau traf längst nicht alle Entscheidungen . Aus der Entfernung konnte die sowjetische Führung nich alles verstehen bzw. über die Geschehnisse vor Ort vollständig informiert sein.

1936

Aus aktuellen Studien geht hervor, dass die lokalen Eliten eine aktive Rolle bei der Grenzziehung spielten. Sie betrieben Lobbyarbeit für ihre – teils konkurrierenden – Interessen, und waren oft erfolgreich darin, dem Kreml ihre Sicht der Dinge nahezulegen. Auch in Moskau selbst gab es keinen einheitlichen Plan. Das Volkskommissariat für Auswärtiges sah und bewertete zum Beispiel vieles anders, als das Volkskommissariat für Nationalitätenfragen. Verschiedene Zentralbehörden und lokale Kräfte versuchten, ihre Grenzentwürfe hervorzuheben. Viele Entscheidungen waren letztendlich Kompromisse.

Entgegen einer verbreiteten Vorstellung ging es nicht darum, die Region in Nationalstaaten zu teilen, um sie über lokale Spannungen zu manipulieren. Moskau war daran interessiert, dass keine offenen Konflikte entstehen. Man stellte sich eine Art optimaler Kooperation vor, die alle zufriedenstellen könnte.

Neben dem politischen Faktor spielte auch der wirtschaftliche eine wichtige Rolle. Zentralasien war für den Kreml eine Quelle wirtschaftlicher und menschlicher Ressourcen. Die Sowjetunion sah sich schon damals als ein großer Mehrvölkerstaat und plante, ihren Einfluss im Osten zu erweitern. Die neuen, sich modernisierenden Republiken waren ein Instrument für diese Erweiterung. Dementsprechend gab es auch ein Interesse an der Entwicklung der Infrastruktur, der Transporthubs, der Industrie, usw. So wirkten sich auch wirtschaftliche Faktoren auf die tatsächlichen Grenzen aus.

Das Konzept der Nation und der Nationalität (im Sinne von Ethnizität, Anm. d .Ü.) hatte in Zentralasien vor der Sowjetunion kaum eine Tradition. Wie passend war demnach die sowjetische Einteilung der Region in Nationen und die Förderung des nationalen Prinzips? Warum wurde ein nationalstaatlicher Ansatz für die Region gewählt?

Solche Ansätze gab es nicht nur in der Sowjetunion, sondern auch im Westen. Man braucht nur zu Betrachten, wie nach dem Ersten Weltkrieg die Grenzen in Osteuropa und im Nahen Osten gezogen wurden. Man muss sich in den Kontext der damaligen Zeit zurückdenken. Die Regierungen waren der Ansicht, dass alle Staaten Nationalstaaten sein müssen, dass sie also einer gegebenen Nation oder Ethnie entsprechen sollen.

Sowjetische Karte Zentralasien 1922
Die erste sowjetische Einteilung Zentralasiens in 1922

Das war nicht nur eine bolschewistische, linke Idee. Angehörige vieler politischer Strömungen waren überzeugt, dass wirtschafliche und soziale Entwicklung nur im Rahmen eines Nationalstaats möglich ist. Der nationale Aufbau war auch im Interesse der Bolschewiki: Ihnen war es wichtig, die „muslimische Oppositionsfront“, die sie als feindlichen und archaischen Gegner sahen, zu beseitigen. Die nationale Teilung Zentralasiens erfüllte diesen Zweck.

Die Überzeugung, dass die Nation die einzige fortschrittliche politische Form ist, wurde wurde auch von einem Teil der lokalen Elite übernommen, die zum Beispiel die damaligen türkischen Reformen im Namen des nationalen Aufbaus beäugte. So stimmten diese verschiedenen Projekte und Bestrebungen zu einem gewissen Zeitpunkt überein, sie entsprachen einer ähnlichen Ideologie. Diese Ideologie bot eine Grundlage für die Zusammenarbeit zwischen dem Kreml und manchen lokalen Politikern und Intellektuellen.

Sie sprachen an, dass die Bolschewiki in der Religion einen Feind sahen. Im europäischen Teil Russlands zerstörten sie Kirchen und beschlagnahmten Wertsachen aus Gold, Ikonen und religiöse Utensilien. Gegenüber den Muslimen gab es einen sanfteren Ansatz. Alle Erklärungen der Bolschewiki an die Völker Zentralasiens beginnen mit: „Den Muslimischen Genossen von Turkestan“ und es war die Rede von der „Befreiung der Muslime Turkestans von der feudalen Unterdrückung“. Sie begannen sogar, im Zarenreich konfiszierte kulturelle oder religiöse Güter zurückzugeben. Kann man sagen, dass die Repression gegen des Islam sanfter war als die gegen die Orthodoxie?  

Anfangs gab es tatsächlich eine gewisse Mäßigung in der Beziehung zum Islam. Mehr als das: Im Laufe der 20er Jahre führten die Sharia-Gerichte, die muslimischen Schulen, Medresen, selbst die Waqf ihre Arbeit offiziell fort. Viele muslimische Institute wurden erst zum Ende der 1920er und in den 1930er Jahren geschlossen. Das war aber  reiner Pragmatismus, kein Vorzug des Islam gegenüber anderer Religionen.

Für die Bolschewiki war Zentralasien eine komplizierte Region. Sie konnten ihre Gegner militärisch zwar schlagen, mussten aber danach erst die Loyalität der Bevölkerung gewinnen. Um in der Lokalbevölkerung und der lokalen Elite Verbündete zu finden, gingen sie einige Kompromisse ein, auch in religiösen Angelegenheiten.

Man könnte die Logik dieser Politik so zusammenfassen: „Wir Bolschewiki haben die sowjetische Macht in einer Region etabliert, in der Millione gläubiger Muslime leben. Wir benötigen Zeit, um ausreichend Gerichte und Richter zu etablieren, um dort das sowjetische Recht durchzusetzen. Einen Teil der juristischen Probleme – nicht das Strafrecht, sondern Verwaltungsrecht und ein paar Familienangelegenheiten – überlassen wir wohl oder übel den traditionellen Gerichten, vor allem den Shariah-Gerichten. Wir können nicht alle mit kommunistischen Schulen versehen, dafür fehlen uns Menschen und Ressourcen. Also lassen wir das etablierte Waqf-System weiter bestehen, um muslimische Schulen und Medresen zu finanzieren, in denen neben religiösen Fragen auch Lesen und Arithmetik gelehrt werden. Es ist einfacher und günstiger erst einmal ein paar weltliche Fächer in der dortigen Bildung einzuführen, als ein neues Schulssystem von Null an aufzubauen.“

Rawat Abdullachan Medrese in Osch 1928
In der Rawat Abdullachan Medrese in Osch, 1928

Die Bolschewiki verfolgten zwar utopische Ideen, in der realen Staatsführung waren sie aber gänzlich Pragmatiker, wenn auch widerwillig. Die Kompromisse waren dann natürlich nur vorübergehend. Ab ab dem Ende der 1920er wurden all diese religiösen Institutionen geschlossen und in den 1930ern gab es massive Repressionen gegen religiöse Figuren. Die gestärkte sowjetische Macht befreite sich von den eingegangenen Kompromissen, sobald sie es sich erlauben konnte.

Zu den Dschadiden (eine muslimische intellektuelle Bewegung zu Beginn des 20. Jahrhunderts, Anm. d. Ü.) gibt es widerspüchliche Analysen. Die offizielle Geschichtsschreibung, vor allem in Usbekistan, schildert sie als Unabhängigkeitskämpfer, die sich gegen die Kolonisierung und auch die Bolschewiki eingesetzt haben. Andere sehen die Dschadiden eher als einen Teil der russischen Kolonialmacht in Turkestan. Welche dieser Einschätzungen entspricht eher der Realität ?  

Die Forschung hat in der Studie des intellektuellen Lebens im Zentralasien des frühen 20. Jahrhunderts erhebliche Fortschritte gemacht. Insgesamt wenden sich die Forscher immer weiter von der dichotomischen Darstellung ab, dernach sich die lokalen Eliten in Dschadidi und Kadimisten (konservative muslimische Bewegung im Russland des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts, Anm. d. Red.) einteilten, also in Reformisten und Antireformisten.

Die Dschadiden waren keineswegs eine einheitliche Gruppe, sondern eine Bewegung mit sehr unterschiedlichen Menschen und Ansichten. Darunter sind die sogenannten „rechten Dschadiden“, die gegen die Bolschewiki waren, und die „linken Dschadiden“, die sehr schnell den sowjetischen Machtstrukturen beigetreten sind und oft auch selbst zu Kommunisten wurden. Viele waren ständig auf der Suchen nach Ideen und änderten ihre Vorzüge mit der Zeit.

Die meisten Dschadiden fielen den Repressionen der 1920er und 1930er Jahre zum Opfer. Dasselbe gilt für die sogenannten Traditionalisten, die auch sehr unterschiedlich waren. Manche fügten sich weder den russischen Kolonialstrukturen, noch den Bolschewiki, andere kooperierten mit beiden. Die geistige Verwaltung der Muslime, die in den 1940ern gegründet wurde, wurde übrigens nicht mit Dschadiden, sondern mit Traditionalisten besetzt.

Die Beziehungen zwischen der muslimischen Eliten und den russischen oder sowjetischen Machtstrukturen änderten sich auch mit der Zeit. Die Dschadidi mit ihrem Fortschrittsgedanken wurden durch die Russen erst als Nutzen für die zentralasiatische Gesellschaft gesehen. Später sah man in ihnen gefährliche Gegner, Revolutionäre und Feinde des Reichs, während die Kadimisten den russischen Beamten plötzlich gefielen.

Auch die Bolschewiki pflegten eine solche zweideutige Einstellung zu den Dschadidi. Sie wurden als Hilfe beim Aufbau einer modernen Staatlichkeit gesehen, ehe sie zu Staatsfeinden erklärt wurden.

Heutzutage gibt es unter den zentralasiatischen Turksprachen einen Trend hin zur lateinischen Schrift. Oft wird das als Teil einer Modernisierung gesehen. Ähnelt das nicht der Situation zu Beginn des 20. Jahrhunderts, als die Bolschewiki sich bewusst oder unbewusst an die Ideen des Panturkismus anlehnten? Wann erreichten diese Ideen die Intellektuellen und Politiker Zentralasiens? 

Die These einer Zusammenarbeit von Bolschewiki und Panturkisten würde ich mit Vorsicht betrachten. Zu Beginn sahen die Bolschewiki in den Panturkisten eine revolutionäre, antiimperiale Kraft, einen Verbündeten bei der Zersplitterung des oppositionell-religiösen Lagers, dem Kampf gegen die Engländer und der Modernisierung der Gesellschaft. Die Bolschewiki wollten die Energie des panturkistischen Nationalismus für sich nutzen, denn sie hatte mit der kommunistischen Bewegung einiges gemein.

Die Allianz war aber bei weitem nicht ohne Brüche. Dafür spricht um Beispiel der Fall des Jungtürken Enver Pascha, mit dem die Bolschewiki anfangs über eine Allianz verhandelten und der später den Kampf gegen sie in Zentralasien leitete. Es kam schnell heraus, dass sich die Energie des Panturkismus auch gegen die sowjetische Macht richten kann.

Diese zweideutigkeit sieht man auch in der Beziehung zur lateinischen Schrift. Anfangs hörte man auf die lokalen Reformer, die Moskau davon überzeugten, dass die lateinische Schrift beim Kampf gegen die Religion hilft. Später war der Kreml der Ansicht, dass das Lateinische eine gewisse Distanz und einen alternativen politischen Orientierungspunkt symbolisieren würde. Daraufhin folgte ein gezwungener Übergang von der lateinischen zur kyrillischen Schrift und weiter eine intensive Russifizieung der Bildung und Kultur.

Lest auch bei Novastan: Pro und Contra – soll Kasachisch in Lateinschrift widergegeben werden?

Zu den aktuellen Latinisierungsprojekten möchte ich keine Wertung aussprechen. Mir scheint, es ist in Vielem ein unausweichlicher Prozess, denn in den 1920er und 1930er Jahren war die Frage der Sprache und des Alphabets einer der wichtigsten Aspekte des sowjetischen Modernisierungsvorhabens. Schon damals waren die Debatten zum Alphabet, zur nationalen Sprache, ihrer Grammatik, Ausssprache und Wortschatz ein zentraler Teil des nationalen Aufbaus. Die Sprache hatte für die Machstrukturen, die Regierung, die Mobilität und den Zugang zu Ressourcen eine außergewöhnlich wichtige Bedeutung.

Zeitung Kyzyl Kirgistan Kirgisisch lateinische Schrift
Erste Seite einer Ausgabe der Zeitung „Kyzyl Kyrgyzstan“ (rotes Kirgistan), in der kirgisisch in lateinischer Schrift geschrieben ist, 1935

Änhlich während der spätzsowjetischen Perestrojka: Nicht die Forderung nach einer vollen und sofortigen Unabhängigkeit war im Vordergrund, sondern die Forderung, den lokalen Sprachen durch einen offiziellen Status mehr Rechte anzuerkennen. Die Frage der Sprachpolitik ist bis heute ein sensibles Thema und wird im postsowjetischen Raum auch oft zum Inhalt emotionaler Diskussionen oder gar Konflikten.

Eben durch das Thema der Sprache wird das Gespräch über die Zukunft des Landes geführt, über die Mehrheiten und Minderheiten, darüber, wer zur Elite gehören kann und über die Beziehung zur russischen Föderation. Das Thema der Sprache gehört unmittelbar zum nationalen Aufbau. Das heißt, dass die Frage so lange ein Politikum bleiben wird, wie die zentralasiatischen Regierungen sich als Nationalstaaten sehen und ihre Nationen weiter aufbauen wollen.

Hier geht’s weiter zum zweiten Teil: Die sowjetische Geschichte Zentralasiens (2/2)

Mit Sergej Abaschin sprach Rafael Sattarow
CAA-Network

Aus dem Russischen von Florian Coppenrath

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