Startseite      „Um einen Teller Erdbeeren“: Das Pogrom in Farg‘ona 1989

„Um einen Teller Erdbeeren“: Das Pogrom in Farg‘ona 1989

Einer der ersten gewalttätigen interethnischen Konflikte Usbekistans war das Pogrom gegen die turk-meschetische Minderheit in der Provinz Farg'ona. Bis heute sind die Ursachen nicht genau geklärt. Der Anthropologe Dr. Sergei Abashin geht von einem spontanen, emotional aufgeladenen Gewaltausbruch aus. Folgender Artikel erschien im russischen Original bei Fergana News. Wir übersetzen ihn mit freundlicher Genehmigung der Redaktion.

Das Pogrom der Turk-Mescheten in der Provinz Ferg'ona in Usbekistan begann laut urpsrünglicher Geschichte mit einem Teller Erdbeeren. Die realen Ursachen bleiben nachwievor ungeklärt

Einer der ersten gewalttätigen interethnischen Konflikte Usbekistans war das Pogrom gegen die turk-meschetische Minderheit in der Provinz Farg’ona. Bis heute sind die Ursachen nicht genau geklärt. Der Anthropologe Dr. Sergei Abashin geht von einem spontanen, emotional aufgeladenen Gewaltausbruch aus. Folgender Artikel erschien im russischen Original bei Fergana News. Wir übersetzen ihn mit freundlicher Genehmigung der Redaktion.

In der Usbekischen Sozialistischen Sowjetrepublik kam es im Mai und Juni des Jahres 1989 zu einem der ersten interethnischen Konflikte auf dem Gebiet der Sowjetunion, durch den zehntausende unschuldige Menschen litten, die schon viele Jahre in Usbekistan gelebt hatten: die Turk-Mescheten. Die Turk-Mescheten waren 1944 aus ihrer Heimat Meschetien im Süden Georgiens in den zentralasiatischen Teil der Sowjetunion deportiert worden, die meisten nach Usbekistan. Zunächst lebten sie dort in Spezialansiedlungen. Ab 1956 standen die Turk-Mescheten nicht mehr unter administrativer Überwachung. Nichtsdestotrotz hatten sie keine echte Möglichkeit, in die Regionen zurückzukehren, aus denen sie deportiert worden waren. Laut einer Volkszählung aus dem Jahr 1989 lebten 107.000 Turk-Mescheten in Usbekistan, 5 bis 6 Tausend davon in der Provinz Farg‘ona, die meisten in Quvasoy.

Der Auslöser der Pogrome, über den bis heute keine vollständige Klarheit besteht, wurde zunächst ungeschickt zu vertuschen versucht: auf dem Volksdeputiertenkongress gab Rafik Nishanow, damals Generalsekretär der Kommunistischen Partei der Usbekischen Sozialistischen Sowjetrepublik, bekannt, dass sich die Geschehnisse auf einem Basar „aufgrund eines Tellers Erdbeeren“ zugetragen hätten. Angeblich habe sich ein Turk-Meschete grob gegenüber einer usbekischen Verkäuferin verhalten und die Erdbeeren umgestoßen. Man habe sich für die Frau eingesetzt und eine Schlägerei begonnen. Kurz darauf änderte sich die offizielle Version, doch Nischanows „Erdbeeren“ wurden noch viele Jahre später erwähnt.

Erste Gewaltausbrüche in Quvasoy

Mitte Mai 1989 kam es in Quvasoy zu Prügeleien zwischen turk-meschetischen Jugendlichen auf der einen, und usbekischen und tadschikischen Jugendlichen auf der anderen Seite. Nach einer kurzen Kampfpause entwickelten sich daraus deutlich größere Auseinandersetzungen. Von jeder Seite waren einige hundert Personen beteiligt.

Es begannen Versuche, in Viertel vorzudringen, in denen Turk-Mescheten und andere Minderheiten lebten, um dort Pogrome zu verüben. Von staatlicher Seite wurde versucht, die Menge zur Auflösung zu überreden, jedoch war es erst möglich die Unruhen zu unterbrechen als in der Stadt zusätzliche Sicherheitskräfte eintrafen. Bei diesen Ereignissen wurden 58 Menschen verletzt, 32 wurden in Krankenhäuser eingeliefert, wo einer von ihnen starb.

In Quvasoy trafen die Angreifer auf Widerstand von Seiten der Turk-Mescheten. Die Zusammenstöße arteten in Pogrome aus, die in der ganzen Oblast um sich griffen. In anderen Städten und Dörfern gelang es den Turk-Mescheten nicht, sich zu verteidigen. Sie waren zahlenmäßig weniger, lebten verstreut und in einigen Fällen gestattete die Miliz nicht die Bildung von Wehren zur Selbstverteidigung.

 

Mehr als 16.000 Turk-Mescheten wurden während der zweiwöchigen Gewaltausbrüche in der Provinz Ferg’ona in Usbekistan nach Russland ausgeflogen

Die zentralen Ereignisse der Krise in der Provinz Farg‘ona begannen am 3. Juni in der Siedlung Toshloq. Dort fand sich eine Gruppe Jugendlicher zusammen, die begann, die Häuser von Turk-Mescheten anzuzünden und auf ihre Bewohner einzuprügeln. Danach setzten sie ihre Gewalttaten in der Siedlung Komsomolski fort. Eine Gruppe Soldaten der Inneren Truppen versuchte erfolglos sich ihnen entgegenzustellen. Überfälle auf die Turk-Mescheten ereigneten sich auch in Marg’ilon und Farg’ona.

Am Folgetag forderte eine gewaltbereite Menschenmenge in Toshloq die Auslieferung der Turk-Mescheten, die sich unter dem Schutz der Miliz in das Gebäude des Regionalkomitees geflüchtet hatten. Zudem forderte die Menge die Freilassung der am Vorabend verhafteten Gewalttäter. Das Gebäude des Regionalkomitees und der Milizführung wurde angegriffen, wobei ein Milizionär starb und 15 weitere verletzt wurden.

In den Zentren von Farg’ona und Marg’ilon versammelten sich aggressive Menschenmengen, die versuchten in die Gebäude des Stadt- sowie des Oblastkomitees vorzudringen. In Marg’ilon gelang den Angreifenden dies, die Turk-Mescheten hatte man jedoch bereits erfolgreich von dort evakuiert. In Farg’ona stoppten die Gewalttäter Autos und Busse und durchsuchten diese nach Turk-Mescheten. Erste Informationen über die Unruhen erschienen in den Medien jedoch erst zwei Tage später, am 6. Juni.

Aggressive Menschenmengen machen einen militärischen Einsatz nötig

In Qo’qon gingen die Angreifer besonders entschlossen vor. Mehr als 5000 Menschen aus den umliegenden Dörfern kamen am 7.Juni in der Stadt zusammen. Die Menge besetzte eine Ziegelei sowie das Gebäude der städtischen Verwaltung. 68 Personen wurden aus dem Untersuchungsgefängnis befreit. Während die Angreifer die Stadtverwaltung belagerten, gelang es den Behörden, die in der Stadt verbliebenen Turk-Mescheten auf dem Autohof und im Sanatorium zu versammeln. Später konnten Spezialkräfte die Angreifenden aus dem städtischen Verwaltungsgebäude vertreiben. Die Gewalttäter verstreuten sich daraufhin in der Stadt und begannen unter anderem auch die Häuser von Milizionären zu zerstören und anzuzünden.

Am darauffolgenden Tag strömten weitere Menschen aus umliegenden Bezirken nach Qo‘qon. Den Unruhestiftern gelang es, einige Unternehmen und den Bahnhof zu besetzen, wo sich auf den Gleisen ein Zug mit Brennstoff befand. Aus einem der Tanks wurde Brennstoff gelassen. Sie forderten von den Behörden die Auslieferung der Turk-Mescheten sowie der Milizionäre, die auf sie geschossen hatten und drohten damit, den Brennstoff in Brand zu setzen und den Zug in die Luft zu sprengen.

Lest auch bei Novastan: Das Ferganatal in hundert Tönen

Alle besetzten Orte wurden nach einiger Zeit von Spezialkräften zurückerobert. Aus Qo`qon brachten die Behörden die Turk-Mescheten ins benachbarte Tadschikistan. Dort wurden sie in einem Ferienheim in den Bergen der Oblast Leninabad [Anmerkung: heute Provinz Sughd] versteckt. Doch schon kurz darauf, am 10.Juni, rollte eine Lastwagenkolonne in Richtung des Ferienheims. In diesen befanden sich junge Erwachsene, die mit Stichwaffen bewaffnet waren. Um die Kolonne aufzuhalten setzten die Inneren Truppe aus Helikoptern heraus Waffen ein. Bis zum 11.Juni gelang es den Militärs die Massenunruhen zu beenden und die Situation unter Kontrolle zu bringen.

In der Stadt Qo’qon gingen die Angreifer besonders entschlossen vor, Spezialeinsatzkräfte mussten sie aus dem Verwaltungsgebäude vertreiben

Der Historiker und Ethnologe Alexander Osipow, der zu den Turk-Mescheten forscht, schreibt, dass die Zusammenstöße in der Oblast Farg’ona vielen bis heute ein Rätsel bleiben: zahlreiche Details blieben unbekannt und der Sinn des Geschehenen unverständlich. Es ist unklar, warum die Aufstände begannen, warum sie so umfangreich und erbittert waren und wer die Angreifenden anführte, falls es denn überhaupt einen Anführer gab.

Augenzeugenbericht eines Wissenschaftlers

An die Geschehnisse in Farg’ona erinnert sich der Anthropologe Dr. Sergei Abashin, der als Professor an der Europäischen Universität Sankt Petersburg arbeitet:

„Im April 1989 war ich Doktorand am Institut für Ethnographie und fuhr in die Oblast Farg’ona nach Usbekistan, um dort Feldarbeiten durchzuführen. Dort hielt ich mich bis Ende Juni auf. Ich kann mich gut an die Vorgeschichte des Konflikts erinnern. Als ich Anfang Mai nach Farg’ona fuhr und mich dort mit den Leuten unterhielt, konnte man die allgemeine Anspannung schon spüren, die Aufteilung in Einheimische und Fremde, aber die Turk-Mescheten als spezielle Gruppe wurden nicht genannt. Dennoch hatte sich schon Ende Mai die allgemeine Aufmerksamkeit gerade auf die Turk-Mescheten fokussiert. Ich habe Gespräche mit Beamten auf Bezirksebene geführt und sie berichteten, dass am 1. oder 9. Mai Flugblätter mit unterschiedlichen Aufrufen nationalistischer Art verteilt worden waren. In Details haben sie sich nicht vertieft, aber es war offensichtlich, dass die Menschen deshalb beunruhigt waren.“

„Die Geschehnisse in Quvasoy fanden Mitte Mai statt. In dieser Zeit betrieb ich Nachforschungen in der Nähe von Quva, wo ich bei einer Familie im Kischlak wohnte [Anmerkung: Das Wort „Kischlak“ bezeichnet eine ländliche Siedlung von semi-nomadischen Turkvölkern.]. Ich erinnere mich, dass die Leute untereinander redeten, dass wohl etwas passiert sei. Die Sache ist die, dass die Menschen die Turk-Mescheten nicht sehr von anderen unterschieden, sofern sie nicht direkte Nachbarn waren. Und in den Unterhaltungen, die ich mitbekam, wurden sie als „Kaukasier“ bezeichnet.“

„Bereits Anfang Juni reiste ich in die Stadt Farg’ona. Ich sah, wie sich Jugendliche aus dem Ort in Massen auf dem zentralen Platz versammelten, wie sie zu den Behörden gingen und ein Treffen abhielten. Sie erklärten mit später, dass sie ihre Toten herbeigebracht hatten. Obwohl diese Menschenmenge einigermaßen aggressiv war, war diese Aggression nicht willkürlich, sondern gezielt. Auch als sich die Menge auf einem Platz versammelte, gingen andere Menschen weiterhin gelassen an diesen vorbei und gingen in Parks spazieren. Die Menge griff niemanden der Vorbeigehenden an. Dasselbe Bild zeigte sich auch, als sich die Menschenmasse zum Gebäude der örtlichen Verwaltung hinbewegte.“

Groteske Parallelwelt

„[…] Ich habe die Pogrome gesehen. In der Stadt gab es Bezirke, in denen die Turk-Mescheten lebten, und dort brannten die Häuser- Bis heute erinnere ich mich an das Schockgefühl, als ich auf der einen Straße die Pogrome sah, und ein paar Straßen weiter alles ruhig zuging und Mütter mit Kinderwägen spazieren gingen.“

„Ich erinnere mich auch, dass Jugendliche aus den Regionen nach Farg’ona und Marg’ilon reiste, um „die Unseren zu unterstützen“. Das ist durchaus ein bekanntes Muster, dass die Angreifenden oft denken, dass sie sich eigentlich verteidigen. Es ging das Gerede herum, dass „die Türken uns angreifen“, deshalb müssen wir uns verteidigen und diese Verteidigung bestand dann aus Angriffen auf „türkische“ Viertel. […] Ich erinnere mich, dass zu der Familie, bei der ich in Farg’ona lebte, eine befreundete türkischstämmige Familie kam, um sich zu verstecken. Ihr Haus war angezündet worden. Später begaben sich die Turk-Mescheten zu einem geschützten Bereich beim Flughafen, von dort wurden sie später ausgeflogen. Die Behörden reagierten auf die Ereignisse relativ schnell. […] Trotzdem hielt der chaotische Zustand weiter an, weil die lokalen Behörden damit überfordert waren. Straßen wurden geschlossen, der öffentliche Nahverkehr fuhr nur teilweise und wesentlich seltener. Die Bewegungsfreiheit zwischen den einzelnen Teilen der Region lag nicht vollständig still, aber war erschwert.“

Anthropologe Dr. Sergei Abashin war Augenzeuge der Progrome: „Menschen verhielten sich ohne jegliche Organisation plötzlich aggressiv“

„Ich möchte anmerken, dass diese Zeit für das ganze Land sehr aufregend war, da in diesen Tagen die erste Zusammenkunft der Volksdeputierten stattfand, die vollständig im Fernsehen übertragen wurde. Ungewohnt für alle, äußerte sich die Opposition offen. Das ganze Land schaute gebannt auf diese Zusammenkunft und nicht etwa auf die Ereignisse in Farg’ona. Und nur Galina Starowoitowa prangerte an, dass in Farg’ona etwas geschehe, das eine Einmischung von Seiten der Machthabenden erfordere.“

Ursachen für den Konflikt?

„[…] Es ergeben sich viele Fragen, inwiefern der Konflikt organisiert oder spontan geschah. Was ich sagen kann ist, dass es einige Elemente der Selbstorganisation gab. Mit Bekannten bin ich durch die Stadt spaziert und uns näherten sich Usbeken, die mit meinen Freunden sprachen. Als ich dazutrat, gingen sie weg. Die Bekannten erzählten, dass sie zu einem Treffen eingeladen wurden. Das heißt, es gab Leute, die sich mit der Rekrutierung und der Verbreitung von Informationen beschäftigten. Aber das kann man kaum eine Organisation nennen. Gleichzeitig beobachtete ich auch, dass Menschen sich ohne jegliche Organisation plötzlich aggressiv verhielten.

Es gibt die Ansicht, dass es Organisatoren gab, aber die Meinungen darüber, wer genau die Organisatoren waren, gehen auseinander. Die einen nennen islamistische Nationalisten, die anderen sprechen von Straftätern und korrupten Akteuren. Wiederum einige sind der Meinung, dass die Ereignisse vom KGB herbeigeführt wurden. Ich streite nicht ab, dass es Interessensgruppen gab, die versuchten, die Unruhen für ihre Zwecke zu nutzen. Natürlich gibt es auch soziale Gründe: 1989 war ein Jahr mit wirtschaftlichen Schwierigkeiten, Arbeitslosigkeit und politischen Schocks.“

„Nichtsdestotrotz neige ich nach wie vor zu der Ansicht, dass die Ereignisse in vielerlei Hinsicht einen spontanen Charakter trugen, es gab eine emotionale Mobilisierung. Die Menschen waren in Aufregung und hatten eine erwartungsvolle Haltung, dass „doch etwas passieren müsse“. Mit eigenen Augen habe ich Menschen gesehen, die unabhängig von all diesen Interessen, grundlos und ohne dazu aufgestachelt worden zu sein, aggressiv wurden und sich in den Konflikt einmischten. Wir wissen doch, wie unerwartete Pogrome zustande kommen […]. Sie beginnen schnell, es kommt zu einem schlagartigen Ausbruch von Aggressionen und dann endet alles wieder schnell. Daraus entstehen keine politischen Bewegungen. Die Ereignisse in Farg’ona ähneln diesem Muster.“

Folgen des Pogroms

Bis zum 18. Juni wurden aus der Provinz Farg’ona mehr als 16.000 Turk-Mescheten nach Russland ausgeflogen. Bis Ende 1990 verließen weitere 90.000 Usbekistan. Viele reisten widerwillig aus und betrachteten dies faktisch als Deportation. Örtliche Behörden drängten die Menschen zur Ausreise, da sie es für unmöglich erachteten, ihre Sicherheit zu garantieren.

Die offiziellen Angaben zu den Todesopfern gehen leicht auseinander. So berichteten das Innenministerium der UdSSR von rund 106 Toten und die Staatsanwaltschaft von 112. Ungefähr 50 Todesopfer waren Turk-Mescheten, rund 30 Usbeken.

Die Ermittlungen ergaben ungefähr 2000 Personen, die an den Delikten beteiligt waren. Bis Dezember 1989 wurden 238 Strafverfahren eingeleitet und bis Ende 1990 364 Personen zur Rechenschaft gezogen. Zwei Teilnehmer der Unruhen wurden zum höchsten Strafmaß verurteilt. Am 23.Juni 1989 wurde der Erste Sekretär der Kommunistischen Partei der Usbekischen Sozialistischen Sowjetrepublik, Rafik Nischanow, aus seinem Amt entlassen und durch Islam Karimow ersetzt [Anmerkung: Dieser war in der Folgezeit zwischen 1991 bis zu seinem Tod 2016 Staatspräsident Usbekistans].

Jеkaterina Iwaschtschenko und Jеgor Petrow für Fergana News

Aus dem Russischen von Marie Schliesser

Noch mehr Zentralasien findet Ihr auf unseren Social Media Kanälen, schaut mal vorbei bei TwitterFacebookTelegramLinkedin oder Instagram. Für Zentralasien direkt in Eurer Mailbox könnt ihr Euch auch zu unserem wöchentlichen Newsletter anmelden.

 

Kommentare

Your comment will be revised by the site if needed.