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Neue Ombudsfrau für Kinderrechte in Usbekistan: „Das Waisenhaus ist kein Ort für Kinder“

Aliya Yunusova ist seit März Usbekistans Ombudsfrau für Kinderrechte. Das Online-Portal Gazeta.uz veröffentlichte am 21. August ihre Berichte von Beobachtungen und Erlebnissen während ihrer Besuchsreise durch Kindereinrichtungen im ganzen Land. Wir übersetzen den Text mit freundlicher Genehmigung der Redaktion.

Peggy Lohse 

Straßenszene in Taschkent: Ein Junge blinzelt in die Sonne.
Straßenszene in Taschkent: Ein Junge blinzelt in die Sonne.

Aliya Yunusova ist seit März Usbekistans Ombudsfrau für Kinderrechte. Das Online-Portal Gazeta.uz veröffentlichte am 21. August ihre Berichte von Beobachtungen und Erlebnissen während ihrer Besuchsreise durch Kindereinrichtungen im ganzen Land. Wir übersetzen den Text mit freundlicher Genehmigung der Redaktion.

Aliya Yunusova hat im März dieses Jahres das Amt der Kommissarin für Kinderrechte Usbekistans angetreten. In den ersten Monaten besuchte sie zahlreiche Kindereinrichtungen und Jugendhaftanstalten in der Hauptstadt Taschkent sowie den Provinzen Qashqadaryo, Andijon, Fergana und Namangan. Dort traf sie sich mit Kindern, Leitenden und Mitarbeitenden der Einrichtungen und sprach mit ihnen. Dabei beobachtete sie auch, wie Verantwortliche Gewalt gegenüber Minderjährigen anwendeten. 

Archivbild: Aliya Yunusova (Foto: http://parliament.gov.uz)

Aliya Yunusova arbeitet bereits mehr als 20 Jahre im Bereich der Kinderrechte.  Ab 1999 leitete sie die Bildungsabteilung des Nationalen Zentrums für Menschenrechte, wo sie sich besonders mit Fragen der Optimierung der gesetzlichen Grundlagen von Kinderrechten beschäftigte und einen Gesetzesentwurf dazu ausarbeitete. Seit 2004 ist sie bereits drei Mal zur Abgeordneten des Gesetzgebendenhauses („Unterhaus“) des Usbekischen Parlaments Oliy Majlis gewählt worden.

Gegenwärtig arbeitet die Ombudsfrau Yunusova gemeinsam mit UNICEF an einem Beratungstelefon für Hinweise und Beschwerden Jugendlicher aus solchen Einrichtungen. Im Gespräch mit Nelli Karimova von Gazeta.uz berichtet sie von ihren Erlebnissen, Eindrücken und Beobachtungen.

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Was Junusowa in Kinderheimen erlebte

Jedes Mal, wenn ich in einer solchen institutionalisierten Einrichtung ankomme, sehe ich in den Augen der Kinder Schreie aus der Tiefe ihrer Seele, vor Schmerz und Enttäuschung. Ja, der Staat schafft alle Bedingungen für einen angenehmen Aufenthalt in Kinderheimen. Aber kein pädagogisches Personal wird jemals die Liebe und Zärtlichkeit liebevoller Eltern ersetzen können.

Die Kinder haben keine Privatsphäre, keinen Raum für persönlichen Austausch. Manchmal brauchen sie auch Unterstützung und Mitgefühl. Vielleicht wollen sie nur mal mit jemandem sprechen oder einen Rat erfragen. Das ermüdet und nimmt ihnen die Möglichkeit, ihren eigenen Charakter zu entfalten. In der Regel trifft diese Kinder ein bestimmtes Stigma.

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Darum ist es so wichtig, dass BürgerInnen, Medien und Nichtregierungsorganisationen das nicht gleichgültig hinnehmen, sondern sich am Prozess der Deinstitutionalisierung und der Vorbeugung von Verwaisung beteiligen. Sie können den staatlichen Behörden dabei helfen, Familien in schwierigen Situationen ausfindig zu machen, bevor die Gefahr besteht, dass das Kind in ein Kinderheim kommt. Die Gründe dafür können vielfältig sein und Fachleute  müssen einschätzen, was im Interesse des Kindes ist, ob der Familie geholfen werden kann – und, falls nötig, mithelfen daran zu arbeiten. Beispielsweise könnte die Situation verbessert werden, indem man Eltern aus der Arbeitslosigkeit heraushilft.

Wie kann Heimaufenthalten vorgebeugt werden?

Der im Jahr 2019 per Präsidentendekret Nr. PP-4185 und Anordnung Nr. 824 des Ministerkabinetts von der Regierung Usbekistans gebilligte Handlungsplan zur Deinstitutionalisierung gilt als Grundlage für die Einrichtung sozialer Dienste zur Unterstützung von Familien und der Verhinderung einer Trennung der Kinder von den Familien.

Der UN-Ausschuss für die Rechte des Kindes empfiehlt, vor der Verlegung der Kinder nach bestimmten sozialen Faktoren in Kindereinrichtungen sowie dem negativen Einfluss eines Heimaufenthalts auf die psychologische Entwicklung des Kindes zu warnen und dies zu verhindern. Leider gibt es auch Kinder mit Beeinträchtigungen, die bei ihren Eltern oder engen Verwandten leben, aber keinerlei Bildung erfahren. Aber sie befinden sich im Kreise ihrer Familie, was für das Kind ebenfalls nicht unwichtig ist. Vielleicht könnte genau diese Situation eine Orientierung bei der Suche einer Antwort auf die Frage der Deinstitutionalisierung sein. 

In der Präambel zur UN-Kinderrechtskonvention ist die Rede davon, dass der „Familie als Grundeinheit der Gesellschaft und natürlicher Umgebung für das Wachsen und Gedeihen aller ihrer Mitglieder, insbesondere der Kinder, der erforderliche Schutz und Beistand gewährt werden sollte, damit sie ihre Aufgaben innerhalb der Gemeinschaft voll erfüllen kann“. Viele Eltern lassen ihre Kinder von Verwandten oder Bekannten pflegen, während sie selbst im Ausland arbeiten. Kinder, die in Heimen untergebracht werden müssen, leben in ständiger Erwartung, wann ihre Eltern sie denn endlich abholen kommen. Wenn behinderte Kinder ins Heim gebracht werden, kommt das oft einer Verweigerung der Eltern gleich, sich um das Kind zu kümmern. Denn in vielen Fällen werden diese Kinder nur selten besucht.

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Ich denke, dass wir ein modernes Schutzsystem für Kinder und Familien brauchen. Dabei sollte nicht die Trennung von Kind und Familie im Mittelpunkt stehen, sondern ihre Einheit. Das grundlegende Ziel im Bereich der Arbeit mit Familien, die als natürliches Umfeld für die Entwicklung des Kindes angesehen werden, muss sein, mithilfe wirtschaftlicher, sozialer, rechtlicher und administrativer Maßnahmen das Recht des Kindes auf sein familiäres Umfeld zu gewährleisten, wo es leben und Erziehung genießen kann. Familien und Kinder müssen unbedingt dabei unterstützt werden. Im sechsten Absatz jener Präambel der UN-Kinderrechtskonvention heißt es außerdem, dass „das Kind zur vollen und harmonischen Entfaltung seiner Persönlichkeit in einer Familie und umgeben von Glück, Liebe und Verständnis aufwachsen sollte“. 

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Kleinkinder sollten niemals von ihrer Mutter getrennt werden, es sei denn, es liegen außergewöhnliche Umstände vor. Die Gesellschaft und Behörden sind dafür verantwortlich, den besonderen Schutz jener Kinder zu gewährleisten, die keine Familie mehr haben oder denen nicht genügend materielle Ressourcen zur Verfügung stehen. Familien mit vielen Kindern sollten möglichst staatliche oder sonstige Zuwendungen für den Unterhalt der Kinder erhalten.  

Warum Kinder manchmal außerhalb der Familie leben

Warum sagt sich unsere Gesellschaft, die doch zu Kriegszeiten hunderte fremde Kinder aufnehmen konnte, plötzlich von den eigenen los? Die Statistik zeigt, dass die meisten Heimkinder durchaus Eltern, Großeltern oder andere Verwandte haben. Vielleicht ist das ein Frage von Abhängigkeiten, die bei den Erwachsenen auftreten. Ein zweiter Grund könnte auch juristisches Unwissen sein. In der Gesellschaft ist die Ansicht weit verbreitet, dass die Eltern das Recht haben, sich von ihrem Kind loszusagen und es dem Staat zum Unterhalt zu übergeben. Und dass der Staat verpflichtet ist, die Verantwortung für das Kind zu übernehmen.

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Ja, der Staat kümmert sich um das Kind, versorgt es mit allem Nötigen. Aber er kann es niemals mit mütterlicher Fürsorge und Zärtlichkeit umgeben, was das Kind jedoch ab dem ersten Tag seines Lebens so sehr braucht. Die Unterbringung in einem Heim sollte nur in Extremfällen und für möglichst kurze Zeit erwogen werden. Und dem sollten schnell alternative Maßnahmen folgen: Adoption, Pflege, Vormundschaft oder Patronat, also Übergabe des Sorgerechts an andere Verwandte.

Ansätze zur Veränderung

In erster Linie muss der Staat selbst seine Position überdenken, konkret Fragen der finanziellen Unterstützung von Kinderheimen. Wie die Praxis in anderen Ländern der Erde zeigt, sollte es für den Staat nicht lukrativ sein, ein Kind in einem Heim unterzubringen. Stattdessen brauchen die Familien der Kinder Unterstützung, bevor es zu einer Inobhutnahme oder Abgabe kommt. Es sollte einen Unterstützungsdienst für Familien geben, außerdem sollte das Spektrum der möglichen Hilfsleistungen erweitert werden.

Darüber hinaus muss die Bevölkerung besser juristisch informiert und geschult werden. Wie es auch das UN-Komitee empfiehlt, sollten möglichst Pflicht-Module zu Menschenrechten und Kinderrechtskonvention in den Lehrplan der Schulen sowie die Lehrenden-Ausbildung aufgenommen werden. Medien sollten aktiv angesprochen und in die Aufklärungsarbeit der Bevölkerung einbezogen werden. Es braucht Kooperationen mit NGOs und anderen Institutionen der Zivilgesellschaft auf Grundlage einer gemeinnützigen Partnerschaft, Vertrauen und eines konstruktiven Dialogs.

Gazeta.uz

Aus dem Russischen von Peggy Lohse

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