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Die Entwicklung der usbekischen Gebärdensprache

Mehr als 20.000 gehörlose und schwerhörige Bürger*innen zählte der Gehörlosenverband Usbekistans im Jahr 2022. Leider war die Gebärdensprache lange Zeit in der Öffentlichkeit wenig bekannt, und die Möglichkeiten für Gehörlose waren begrenzt. HOOK erzählt die Entstehungsgeschichte der usbekischen Gebärdensprache, ihren aktuellen Stand, ihre Unterschiede zu anderen Gebärdensprachen sowie die Probleme und Erfolge in der Barrierefreiheit.

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Mehr als 20.000 gehörlose und schwerhörige Bürger*innen zählte der Gehörlosenverband Usbekistans im Jahr 2022. Leider war die Gebärdensprache lange Zeit in der Öffentlichkeit wenig bekannt, und die Möglichkeiten für Gehörlose waren begrenzt. HOOK erzählt die Entstehungsgeschichte der usbekischen Gebärdensprache, ihren aktuellen Stand, ihre Unterschiede zu anderen Gebärdensprachen sowie die Probleme und Erfolge in der Barrierefreiheit.

Die usbekische Gebärdensprache (UGS) entstand auf der Grundlage der russischen Gebärdensprache, die während der Sowjetzeit in usbekischen Internaten unterrichtet wurde. Lange Zeit war sie darum ein Dialekt der russischen Sprache, ergänzt durch Gebärden, in denen sich die usbekische Kultur widerspiegelte.

Im 20. Jahrhundert erfolgte der Unterricht in speziellen Schulen, in denen häufig Lehrer aus anderen Republiken tätig waren. Mit der Zeit entstanden in der Gehörlosengemeinschaft eigene Gebärden, um lokale Gegebenheiten zu bezeichnen. So begann die UGS, eigenständige Merkmale anzunehmen, obwohl sie bis zum Ende des 20. Jahrhunderts keinen offiziellen Status hatte.

Nach der Unabhängigkeit 1991 begann Usbekistan, das kyrillische Fingeralphabet durch ein lateinisches zu ersetzen. Als die Schulen 1997 mit dem Unterricht des neuen Alphabets begonnen, hatte die ältere Generation Schwierigkeiten, sich der neuen Praxis anzupassen. Dies führte zu einer Kluft zwischen den Generationen der Gehörlosen.

Die Lage verbessert sich

Heute erhalten Menschen mit Behinderungen, darunter auch Gehörlose, in Usbekistan mehr Aufmerksamkeit. Nach der Ratifizierung der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen im Jahr 2021 hat der Staat die Gebärdensprache als offizielles Kommunikationsmittel anerkannt.

Im Jahr 2022 verabschiedete der Präsident einen Beschluss zur Entwicklung der usbekischen Gebärdensprache und der Brailleschrift. Das für Juni 2024 gesetzte Ziel lautete: die Aufwertung des Status der usbekischen Gebärdensprache sowie die Entwicklung eines Wörterbuchs, von Lehrbüchern und Didaktik.

Seit 2023 bieten Schulen und Weiterbildungszentren Kurse in UGS und Braille-Schrift für Gehörlose, aber auch ihre Angehörige, Lehrer und Sozialarbeiter an.

Allerdings bestehen weiterhin ernsthafte Probleme, allen voran ein akuter Mangel an qualifizierten Gebärdensprachdolmetschern. In Taschkent und Umgebung kommen auf 5000 Gehörlose lediglich zehn Dolmetscher, in anderen Regionen ist die Situation ähnlich. Zudem treffen Gehörlose bei der Arbeitssuche auf Vorurteile:

„Ihre Gemeinschaft ist ziemlich isoliert. Viele glauben, Menschen mit Hörbeeinträchtigungen seien lern- oder arbeitsunfähig. Das ist ein Klischee. In unserem Hub dagegen sind sie willkommen– sie tragen Implantate und unterscheiden sich in keiner Weise von den anderen. Es ist eine Frage der Aufklärung“, erklärt Tatjana An, Projektmanagerin für Inklusion und Sozialschutz beim usbekischen Präsidenten. 

Die internationale Gebärdensprache

Die UGS ist der russischen Gebärdensprache (RGS) weiterhin sehr ähnlich: Viele Gebärden sind identisch, und die Unterschiede betreffen hauptsächlich kulturelle Begriffe, zum Beispiel die Namen nationaler Gerichte oder Personennamen.

Im Alltag verwendet die UGS ein zweihändiges Fingeralphabet auf der Grundlage des kyrillischen Alphabets, das mit dem in der RGS verwendeten identisch ist. In den 1950er bis 1970er Jahren sorgte das Projekt Gestuno des Weltverbands der Gehörlosen für Aufsehen: Sie versuchten, eine universelle Gebärdensprache zu entwickeln. Der Versuch scheiterte, doch überblieb ein vereinfachtes Kommunikationssystem für Gehörlose – International Sign (IS) – ein heute viel genutztes Instrument bei internationalen Veranstaltungen. Tatjana An berichtet darüber:

„Die internationale Gebärdensprache unterscheidet sich stark von der lokalen. Obwohl sie nicht streng auf der englischen Gebärdensprache basiert, sind viele Gebärden aus dieser entlehnt. Die Hauptvoraussetzung für unseren Kurs ist die Kenntnis einer beliebigen Gebärdensprache und Grundkenntnisse in Englisch, aber das ist nicht zwingend erforderlich. Die Schüler sind mit ihren Fortschritten zufrieden: Sie lernen, wie eine Geste in der lokalen und in der internationalen Sprache aussieht. Kürzlich gab es ein Treffen mit einer Delegation aus Südkorea. Dort haben wir gesehen, wie gehörlose Menschen über einen Dolmetscher für internationale Gebärdensprache miteinander kommuniziert haben.“

Die heutige IS ist eine lebendige Mischung aus Pantomime, ikonischen Gebärden und Entlehnungen mit einem begrenzten Wortschatz und einer einfachen Grammatik. Im Gegensatz zur usbekischen Gebärdensprache findet die IS im Alltag keine Anwendung, hat keine Muttersprachler und ist frei nationaler Kulturspezifika. Es ist ein Hilfsmittel – eine Art Esperanto der Gebärdenwelt.

Nationale Besonderheiten

Weltweit existieren etwa 300 Gebärdensprachen, von denen jede auf natürliche Weise in einer bestimmten Gemeinschaft von Gehörlosen entstanden ist, oft unabhängig von anderen.

Gebärdensprachen sind keine visuellen Versionen von gesprochenen Sprachen. Viel mehr stellen sie eigenständige linguistische Systeme dar, die durch generationsübergreifende Weitergabe, kulturelle Einflüsse und kommunikative Bedürfnisse entstehen. In einem Land kann es mehrere Gebärdensprachen geben, und in verschiedenen Ländern können völlig unterschiedliche Systeme existieren, selbst wenn sie eine gemeinsame gesprochene Sprache haben. In Deutschland und Österreich spricht man beispielsweise Deutsch, die Gebärdensprachen sind jedoch unterschiedlich. Südafrika hingegen zählt 11 gesprochene Sprachen, jedoch nur eine einzige Gebärdensprache.

Kontakte zwischen Gebärdensprachen sind oft geschichtlich bedingt. In postsowjetischen Ländern wie Usbekistan, Kasachstan und Kirgistan ähneln sich die Gebärdensprachen allesamt aufgrund des gemeinsamen russischen Erbes.

„Zentralasiaten verstehen sich untereinander sehr gut. Der einzige Unterschied besteht in der Satzstruktur. Das Usbekische stellt das Subjekt wie in der gesprochenen Sprache an den Anfang, während das Russische dies freier handhabt“, so Tatjana An.

Innerhalb eines Landes kann es auch regionale Dialekte geben. Diese sprachliche Autonomie lässt sich durch die historische Isolation der Gehörlosengemeinschaften erklären: Vor dem Internet und globalen Verbindungen hatten sie selten Kontakt miteinander. Jede Gebärdensprache entwickelte sich als Antwort auf die Bedürfnisse einer bestimmten Gemeinschaft und wurde zum Ausdruck ihrer kulturellen Identität. Deshalb sind Gehörlose auf der ganzen Welt stolz auf ihre Sprache(n).

Ausbildung von Gebärdensprachdolmetschern

In Usbekistan gewinnt der Beruf des Gebärdensprachdolmetschers allmählich an Status und Unterstützung. Lange Zeit übernahmen Kinder gehörloser Eltern (CODA) oder Lehrer an Sonderschulen die Rolle des Dolmetschers, teils auch passionierte Gebärdensprachenlerner. Ein Ausbildungssystem für Dolmetscher fehlte jedoch.

„An einigen Hochschulen gibt es Studiengänge mit Inhalten zu Gehörlosenpädagogik und Gebärdensprachdolmetschen, insbesondere am Außenstandort der russischen Herzen-Universität in Taschkent. In unserem Internationalen Inklusionszentrum haben wir einen Jahrgang für internationale Gebärdensprache – den ersten in Usbekistan. Wir erhielten 52 Bewerbungen für den Kurs, obwohl nur 12 Plätze verfügbar waren. Dort werden sowohl Menschen mit Hörbehinderung ausgebildet als auch Dolmetscher, die die lokale Gebärdensprache beherrschen,“ berichtet Tatjana An.

Darüber bieten Weiterbildungszentren sowie der Gehörlosenverband Usbekistans Kurse der lokalen Gespräche für Hörende an, darunter auch zur Ausbildung von Dolmetschern – nicht nur in der Hauptstadt, auch in anderen Regionen.

Zwar sind die Grundlagen des Gebärdensprachdolmetschens in den Lehrplänen der Fachbereiche für Sonderpädagogik an pädagogischen Hochschulen enthalten. Angehende Gehörlosenpädagogen lernen dort Gebärdensprache, Unterrichtsmethoden und psychologische Besonderheiten und einige Absolventen werden auch Dolmetscher. Ein speziell auf die Ausbildung zum Gebärdensprachdolmetscher zugeschnittenes universitäres Programm gibt es allerdings noch nicht – im Gegensatz zu Ländern wie Russland, den USA oder Europa, wo es vollwertige Ausbildungen zum Gebärdensprachdolmetscher bestehen.

Der besagte Beschluss von 2022 verpflichtet Mitarbeiter, die in staatlichen Behörden mit Bürgeranfragen befasst sind, Kurse in Gebärdensprache zu absolvieren. Jedes Ministerium und jede Behörde hat den Auftrag, mindestens einen Mitarbeiter in Gebärdensprache zu schulen, um Besuchern mit Hörbehinderung zur Seite zu stehen. 

Tatjana An sieht den Westen in diesem Feld als Vorbild: „Warum sind Gebärdensprachdolmetscher bei uns nicht so gut ausgebildet wie Ländern, wo sie sogar Konzerte verdolmetschen? Zum einen fehlt es an einem Bewusstsein dafür: Bei uns hält man es oft für Geldverschwendung oder schlicht nicht für nötig, Gebärdensprachdolmetscher einzuladen. Zum anderen geizen wir zu sehr mit Emotionen: Unsere Dolmetscher zeigen Gebärden in der Regel nur formal. Eine junge Frau, die bei einem Konzert von Ariana Grande dolmetschte, tat dies mit Emotionen, was sehr wichtig ist. Internationale Dolmetscher sind meist viel ausdrucksstärker.“

Aus dem Russischen von Arthur Siavash Klischat

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