In Russland sind Tadschiken, Usbeken und Kirgisen als billige Arbeitskräfte bekannt: auf Baustellen, Märkten oder bei der Stadtreinigung. Selbst wenn sie bei der Moskauer Stadtverwaltung, Vermieter und Türsteher und sonst im Alltag nicht beliebt sind, machen Sie weiter. Sie rackern für die Heimat – und für ihre Träume. Folgender Artikel erschien zuerst bei der MOZ.
Safar Dschurajew – Lederjacke, schwarze Augen und Herrenhandtasche – wartet am Kiewer Bahnhof auf die Marschrutka. Die soll ihn zum Vorort Nemtschinowa kutschieren, zu seinem Bruder. Der 27-Jährige Tadschike ist vor wenigen Stunden in Moskau gelandet. Mit sich trägt er eine kleine Sporttasche, mehr braucht der junge Mann nicht für die neun Monate auf dem Bau. Dort hat ihm sein Bruder Arbeit versprochen, für bis zu 35 000 Rubel monatlich, umgerechnet knapp 450 Euro.
Gutes Geld für einen wie Dschurajew, der in Tadschikistan für die gleiche Tätigkeit nur einen Bruchteil verdient. Dafür muss er nur Luxus-Villen bauen, Fußball-Stadien sanieren oder neue Mikrorajony hochziehen, wie die riesigen Wohnviertel heißen, die wie Pilze aus dem Speckgürtel der Metropolen schießen. Das Ersparte geht zurück an Frau und Kind, die zu Hause geblieben sind. Das ist billiger. Und dann wäre da noch die Hochzeit, auf die seine Frau seit zwei Jahren wartet. Dschurajew ist der typische Gastarbeiter. Obwohl er mittlerweile in der Fremde weilt, bleibt er in Gedanken in seiner Heimat Tadschikistan.
Nach Angaben der Weltbank arbeiten rund 40 Prozent aller U-30-Tadschiken im Ausland, der Großteil in Russland, wie zu Sowjetzeiten. Eine knappe Million war laut Migrationsdienst Anfang des vergangen Jahres in Russland gemeldet, das ist ein Achtel Tadschikistans. Sie arbeiten in Russland und überweisen den Großteil ihres Gehaltes an die Familie in der Heimat. Diese Heimatüberweisungen beliefen sich der russischen Zentralbank zufolge im vergangenen Jahr auf umgerechnet 2,2 Milliarden Euro. Das entspricht etwas mehr als einem Drittel des Bruttoinlandsproduktes Tadschikistans, eines der ärmsten Länder der ehemaligen Sowjetunion. Das dortige monatliche Durchschnittsgehalt liegt nach Angaben der Weltbank bei zirka 165 Euro.
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Mittagspause in einem Moskauer Bürogebäude, Manutschechr Jabukow ist im Kundengespräch. Gefragt wird nach Plow, dem auf Reis basierenden Nationalgericht Zentralasiens. Vor ungefähr drei Jahren kam der 26-Jährige aus Istarafschan, Tadschikistan, nach Moskau. Dort arbeitet Jabukow bei Plov.com, einem Start-up und Lieferservice für Plow und andere Speisen aus Zentralasien. Jabukow ist genau genommen kein typischer Arbeitsmigrant. Seine Eltern haben ihn schließlich zum Studieren nach Moskau geschickt, nicht zum Geldverdienen. Vor seiner Ankunft hatte er bereits einen Master einer Filiale der Moskauer Staatlichen Universität in Duschanbe in der Tasche, sein Russisch war perfekt.
Bei seinen Landsleuten läuft das normalerweise anders. Sie machen nach der Schule keine Ausbildung. Sie gehen direkt nach Russland, um sich als Ungelernte zu verdingen: auf Baustellen, Märkten oder bei der Stadtreinigung. Dabei machen sie im Schnitt 30 000 Rubel im Monat (umgerechnet knapp 400 Euro), das ist doppelt so viel wie in ihrer Heimat. Gastarbeiter schuften, 50, 60 Stunden die Woche. Sie teilen sich eine Wohnung, gehen nicht aus, leisten sich nur das Allernötigste. Der Großteil des Lohnes geht in die Heimat, dafür stehen sie am Wochenende Schlange bei Western Union. Ihr Wochenende hat, wenn sie Glück haben, einen Tag: Sonntag. Und dann wird auch noch gespart: für ein eigenes Haus in Tadschikistan, für Medizin, für die Hochzeit. Reich werden sie in Moskau jedenfalls nicht.
Für die Reinigung des Bürgersteiges vor dem Einkaufszentrum „Jewropejskij“ am Kiewer Bahnhof erhält Alischer Kosimow monatlich gerade mal 25 000 Rubel (etwa 400 Euro). Dafür wohnt der 48-jährige Usbeke kostenlos im Untergeschoss des gigantischen Shoppingcenters, zusammen mit 30 weiteren Männern aus Usbekistan, Kirgistan und Tadschikistan. Vor gerade mal zwei Monaten kam Kosimow aus der usbekischen Grenzstadt Andischan im Ferghana-Tal. Auch er sendet Geld an seine Frau und die drei Kinder in die Heimat.
„Rund 40 Prozent aller über 30-jährigen Tadschiken arbeiten im Ausland, der Großteil davon in Russland“
Dschurajew, Jabukow und Kosimow werden in Moskau „Gastarbeiter“ genannt. Das Wort wurde zu Sowjetzeiten oder noch früher aus dem Deutschen entlehnt. Die Gastarbeiter zahlen zusätzlich Steuern, werden öffentlich belehrt, und auch bei Vermietern und Türstehern sind sie unerwünscht. Arbeitsmigranten gab es schon zu Sowjetzeiten, sie wurden akzeptiert. Heute, mehr als 27 Jahre nach dem Fall des Eisernen Vorhanges, ist das anders. Pass, Migrationskarte, Registrierung und Arbeitserlaubnis – es ist immer dasselbe Spiel.
Durch ihr Äußeres auffallende Ausländer werden häufiger von der Polizei angehalten und gebeten, sich auszuweisen. Normalerweise können sie gehen, wenn alles in Ordnung ist. Doch Manutschechr Jabukow musste mit aufs Revier, auch wenn seine Papiere sauber waren. Am Ende stellte sich heraus, dass man ihm nur Geld aus der Tasche ziehen wollte. „Als die Polizisten begriffen, dass bei mir nichts zu holen war, hatte sich die Sache schnell erledigt“, sagt Jabukow.
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Die Gastarbeiter zahlen jeden Monat für ein sogenanntes Patent, also eine Arbeitserlaubnis. Der Preis variiert je nach Region, in Moskau kostet sie 4200 Rubel (54 Euro). Dazu kommen 13 Prozent Einkommenssteuer. Die wurde bisher oft umgangen, ein neues Banken-Gesetz verhindert das.
Auch die Vermieter mögen keine Gastarbeiter. In jeder zweiten Wohnungsanzeige steht „Nur für Slawen“ oder „Nur für russische Staatsbürger“. Selbst der Eintritt zu Moskaus Nachtklubs bleibt Gastarbeitern wie Jakubow oft verwehrt, sogar in Begleitung von russischen oder europäischen Freunden. Nach seiner Herkunft gefragt, habe sich Jakubow deshalb vor den Türstehern sogar schon ein paar Mal als Südkoreaner ausgegeben. „Ein bisschen Ähnlichkeit gibt es schon, oder?“, witzelt er.
Nun hat die Stadt Moskau ein Handbuch für seine 455 000 offiziell registrierten Gäste aus dem „nahen Ausland“ herausgegeben. Auf knapp 100 Seiten des Russland-Knigges finden sich allerlei Hinweise, Adressen und Telefonnummern für die Arbeitssuche.
Neben dem hilfreichen Teil irritieren einige Passagen. Russische Märchenfiguren erklären lokale Gepflogenheiten. Und insgesamt der Ton, in dem die Texte verfasst wurden. Der erweckt den Eindruck, sich nicht an Erwachsene zu richten – sondern an Kinder. „Man isst nicht draußen. Wenn Sie hungrig sind, gehen Sie in ein Restaurant oder einen Imbiss“, heißt es. Es wird auch davor gewarnt, weiblichen Passanten nachzusehen, zu verstrickte Auskünfte zu geben oder zu laut in der Metro zu reden.
„Ein neues Handbuch warnt sie davor, Frauen nachzusehen und laut in der Metro zu reden“
Dass man sich von Moskau nicht unterkriegen lassen darf, das weiß Bachodur Muminow, gebürtig aus Samarkand, Usbekistan: „In Moskau gibt es kein Willkommen mehr – das war in der Sowjetunion anders“. Er muss es wissen, seit 20 Jahren fährt er Taxi in Moskau. Damit macht er ein bisschen mehr Geld, rund 60 000 Rubel monatlich (etwa 780 Euro), wie er sagt.
Auf dem Danilewskij-Basar im Süden der Stadt sitzt Inom Kajumow vor einem Stand, an dem er Obst und Trockenfrüchte verkauft. „Nachts ist es schon mal vorgekommen, dass mir ein paar Besoffene Beleidigungen hinterherriefen. Aber solche Idioten gibt es doch überall“, sagt der 21-Jährige aus Chudschand, Tadschikistan. Die Arbeit auf dem Markt ist für ihn nur eine Übergangslösung. Sein Russisch ist fließend. Er spart auf ein Wirtschaftsstudium, eine Art Geschäftsmann sei er ja jetzt schon. Ihm halfen vor einem Jahr vor allem seine beiden Brüder, nach Moskau zu kommen, bei denen er wohnt und arbeitet.
Auch Manutschechr Jakubow träumt. Er würde irgendwann gern sein eigenes Gewerbe gründen. In Moskau sei das ja schon mit wenig Geld möglich. Zurück nach Tadschikistan will er nicht mehr – Moskau ist sein neues Zuhause. Auch wenn er sich dort an Freitagabenden als Südkoreaner ausgeben muss, um in den Klub zu kommen.
Christopher Braemer
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