Nachdem Naturkatastrophen die Provinz Lebap im Osten Turkmenistans verwüstet hatten, sind im Land angesichts der Untätigkeit der Regierung Protestbewegungen entstanden. Die Demonstrierenden prangerten die unhaltbaren gesundheitlichen und sozialen Bedingungen an und forderten staatliche Entscheidungen, teilweise sogar Rücktritte.
Am 13. Mai haben BewohnerInnen eines Stadtbezirks von Türkmenabat, der Hauptstadt der Provinz Lebap im Osten Turkmenistans, auf der Straße demonstriert – ein seltenes Ereignis im Land. Mit Verweis auf zwei unterschiedliche Quellen berichtet das turkmenische unabhängige Nachrichtenportal Turkmen News, dass die Demonstrierenden die Untätigkeit der Regierung in Bezug auf die Schäden verurteilt, die durch die jüngsten Naturkatastrophen verursacht wurden. Die Protestbewegung soll ausgebrochen sein, weil die BewohnerInnen das Gefühl hatten, von den Behörden vergessen worden zu sein. Die städtischen Dienste hätten die beschädigte Infrastruktur wiederhergerichtet und die Trümmer an den großen zentralen Straßen aufgeräumt, aber die Randgebiete vergessen.
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Die genaue Anzahl der Teilnehmenden ist nicht bekannt, aber laut Turkmen News sollen es etwa tausend gewesen sein. Dies wäre die größte Protestaktion seit der Unabhängigkeit des Landes im Jahr 1991. Die BewohnerInnen hätten einen Teil einer Straße blockiert, indem sie sich auf den Boden gesetzt hätten, um ihren Forderungen Gehör zu verschaffen. Unter ihnen seien Frauen und Kinder die Mehrheit. „Männer haben Angst“, sagte eine der Quellen von Turkmen News. „Männer werden sofort weggebracht, aber Frauen, besonders solche mit Kindern, werden in der Regel nicht angefasst.“
Eine verwüstete und vernachlässigte Region
Grund für die landesweite Empörung ist die mangelnde Rücksichtnahme der lokalen und nationalen Behörden auf die Not der Bevölkerung. Die Provinz Lebap wurde am 27. April von einem heftigen Sturm heimgesucht, der zu Wasser-, Gas- und Stromausfällen führte und zahlreiche Gebäude beschädigte. Einige Tage später, am 4. Mai, wurde die Region, die kaum Hilfe von der Regierung erhalten hatte, von starken Regenfällen heimgesucht, was wiederum die Strom- und Gasversorgung in Farab, Türkmenabat und Kerki lahmlegte. Laut meteojournal.ru fielen in Türkmenabat in den ersten zwei Mai-Wochen fast die Hälfte der ansonsten für ein ganzes Jahr üblichen Niederschläge.
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Im Rahmen der Demonstration klagten die AnwohnerInnen unter anderem über den Mangel an Strom, eine nicht funktionierende Kanalisation und die Überflutung zahlreicher Keller in mehrstöckigen Gebäuden. Laut mehreren AnwohnerInnen sind Trinkwasserpumpen außer Betrieb, während die Feuchtigkeit in überfluteten Kellern zur Invasion von Moskitos und anderen Insekten geführt habe, berichtet Turkmen News.
Gemäß mehreren Zeugenaussagen ist die Internetverbindung in Türkmenabat seit dem Sturm Ende April sehr instabil. Die AnwohnerInnen glauben, dass dies eine geplante Aktion seitens der Behörden war, damit sie keine Informationen ins Ausland senden und Aktionen innerhalb des Landes koordinieren können. Am Flughafen von Türkmenabat sollen darüber hinaus Kontrollen durchgeführt worden sein, um die Gründe für die Ein- und Ausreise aus der Provinz zu überwachen.
Reaktionen der Behörden
Nach dem Protest gingen lokale Beamte auf die Forderungen der Demonstrierenden ein und informierten sie über Unterstützungsmaßnahmen. Laut Berichten des unabhängigen turkmenischen Onlinemediums Chronicles of Turkmenistan werden nicht privatisierte Häuser auf Kosten der Regierung restauriert. EigentümerInnen von Privathäusern und Wohnungen erhalten Baumaterialien zum Festpreis sowie Darlehen für die Renovierung und Restaurierung.
Einige BewohnerInnen scheinen jedoch angesichts der angekündigten Maßnahmen skeptisch zu sein. „Die Ressourcen der Stadtwerke sind ebenfalls begrenzt, es sind nur wenige Saugwagen in Betrieb“, sagte eine Quelle von Turkmen News. Außerdem stellt sie „einen gravierenden Mangel an Schiefer in der Region“ fest, was insbesondere den Fortschritt bei der Instandsetzung von Dächern behindern könnte.
Unzufriedenheit in der turkmenischen Diaspora
Empörung zeigte sich auch im Ausland. Wie Chronicles of Turkmenistan berichtete, protestierten am 11. Mai turkmenische Staatsangehörige mit Wohnsitz in Zypern gegen die turkmenischen Behörden. “Wir sind bereit, nach Turkmenistan zu kommen, um unseren Familienmitgliedern zu helfen, die ohne Zuhause, ohne Strom, ohne Kommunikation und ohne Geld sind. Hören Sie uns!“, sagte eine der Protestierenden. Während der Demonstration wurden mehrere Appelle an Landsleute mit Wohnsitz in anderen Ländern gerichtet, bürgerschaftliches Engagement zu zeigen. Präsident Gurbanguly Berdimuhamedow wurde aufgefordert, zurückzutreten.
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Einige Tage später, am 15. Mai, versammelten sich rund 20 turkmenische Staatsangehörige vor dem Konsulat ihres Landes in der Türkei. Sie prangerten die mangelnde Rücksichtnahme der Behörden, die weit verbreitete Arbeitslosigkeit, niedrige Löhne, Korruption und den Mangel an Primärnahrungsmitteln an.
Ein Desaster vor dem Hintergrund der Inflation
Aufgrund der beiden Naturkatastrophen und des Mangels an staatlicher Hilfe befinden sich viele EinwohnerInnen Turkmenistans in einer unsicheren Situation. Die Inflation und die Nahrungsmittelknappheit, die das Land seit mehreren Monaten durchlebt, verstärken diese Unsicherheit zusätzlich.
Für die Ärmsten gibt es in Turkmenistan staatliche Läden, in denen sie Grundnahrungsmittel zu einem Festpreis kaufen können. Allerdings hat die Verwaltung der Provinz Lebap Maßnahmen zur Versorgung der staatlichen Läden verhängt, um den Wiederverkauf dieser Waren auf dem Schwarzmarkt zu stoppen.
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Laut Angaben von Chronicles of Turkmenistan können zum Beispiel in Türkmenabat pro Monat nur zwei statt normalerweise fünf Kilogramm Mehl pro Person erstanden werden, im Falle von Pflanzenöl sind es nur zwei Liter pro Monat. Diese Maßnahmen gewährleisten zwar einerseits den Zugang zu Grundnahrungsmitteln für Bedürftige, schränken jedoch andererseits deren Einkäufe ein, da private Geschäfte für sie nahezu unbezahlbar sind. Eine solche Rationierung könnte ihre Situation also noch verschlimmern.
Tanguy Martignolles, Redakteurin für Novastan
Aus dem Französischen von Robin Roth
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