Dieser Artikel erschien zuerst in der Deutschen Allgemeinen Zeitung. Wir veröffentlichen ihn mit der freundlichen Erlaubnis der Redaktion.
Tobias Gerhard hat mit zwei Freunden ein deutsch-kirgisisches Joint Venture gegründet. Tobias lebt in Bischkek und leitet von dort das Start-up, in dem Design-Hüllen für Smartphones, Tablets und Laptops hergestellt werden. Im Interview erzählt er, was sein Unternehmen besonders macht, warum er nach Bischkek gezogen ist, wie er in Kirgisistan lebt und arbeitet.
Tobias, Du bist der Mitbegründer des Unternehmens „Kancha“. Wie ist die Idee entstanden, dieses Unternehmen zu gründen, was macht es so besonders?
Die Idee kam mir bei meinem ersten Besuch in Kirigisistan im Jahr 2011. Ich war sofort fasziniert von der traditionellen Handwerkskunst und dem Material Wollfilz, welches man überall in Zentralasien findet. Andererseits fiel mir auf, dass immer wieder die gleichen Dinge daraus hergestellt werden: Hausschuhe, Hüte, Teppiche, und natürlich Jurten. Viele Hersteller produzieren in erster Linie für Touristen, haben jedoch kaum Zugang zum Exportmarkt. Kirgisistan ist aufgrund seiner geografischen Lage und politischen Situation weitgehend vom Weltmarkt abgeschnitten. So kam mir die Idee, die traditionelle Handwerkskunst mit europäischem Design zu verknüpfen und mit KANCHA ein Projekt zu starten, welches Entwicklungsarbeit und Unternehmertum miteinander verbindet.
Warum der Name „Kancha“?
„Kancha“ (Kantscha) bedeutet auf Kirgisisch „wie viel?“ oder „wie teuer?“. Wir wollen mit dieser Frage die Kunden einladen, hinter die Kulissen zu schauen, um besser zu verstehen, wie Menschen am anderen Ende der Welt leben und arbeiten. Auf unserer Webseite werden alle Hersteller porträtiert. Wir bieten größtmögliche Transparenz über die Produktionsbedingungen.
Du arbeitest nun seit über einem Jahr in einem deutsch-kirgisischen Unternehmen in Kirgisistan. Welche interkulturellen Herausforderungen oder Probleme sind bisher aufgetreten, wie habt ihr diese gelöst?
Dadurch dass ich schlecht Russisch und kein Kirgisisch spreche, kommt es immer wieder zu Verständigungsschwierigkeiten, insbesondere in der Kommunikation mit den Workshops. Aber im Team sprechen wir aber alle gut Englisch, daher haben wir bisher alle Missverständnisse schnell ausräumen können. Ein anderes wichtiges Thema für mich ist der Umgang mit Informationen und Sicherheiten. Da hier viel Unvorhersehbares passiert, scheinen sich die Leute auch in der Geschäftswelt daran gewöhnt zu haben, dass nichts feststeht und Probleme ad hoc anstatt im Voraus gelöst werden. Ich versuche hingegen immer vorab Informationen zu sammeln und zu planen, was sich schwer mit dem hier vorherrschenden Management-Stil vereinbaren lässt.
Letztlich gibt es natürlich noch das alte Thema der Auffassungen von Zeiten und Fristen.
Aber ich denke, ich habe mich auch daran langsam gewöhnt. Dadurch dass wir im Team Kirgisen und Deutsche haben und uns viel austauschen, haben wir mittlerweile einen Weg gefunden, dass sich die deutschen und kirgisischen Arbeitsweisen sinnvoll ergänzen.
Du hast ja bereits in Deutschland Arbeitserfahrungen gesammelt. Was hast Du so gemacht und was sind die größten Unterschiede zu deinem Arbeitsalltag in Kirgisistan?
Bevor ich nach Bischkek gezogen bin, habe ich in Berlin beim Magazin „The European“ im Verlag gearbeitet. Auch dort habe ich eigenständig Projekte durchgeführt, wobei ich viel für meine jetzige Tätigkeit lernen konnte. Den Hauptunterschied zwischen der Arbeitswelt in Deutschland und in Kirgisistan sehe ich darin, dass hier vieles informeller und über Verbindungen anstatt über offizielle Kanäle läuft. Wer in Deutschland beispielsweise Zulieferer sucht, wird eher die Gelben Seiten aufschlagen oder im Internet suchen. Hier in Bischkek fragt man als erstes Verwandte oder Freunde, ob sie jemanden kennen.
Wann und warum hattest Du das erste Mal Kontakt mit Kirgisen?
Ich hatte in Budapest an der Central European University studiert, welche auch beliebt unter Kirgisen und anderen Zentralasiaten ist. Dort habe ich meine Partnerin kennengelernt, mit der ich jetzt glücklich in Bischkek lebe.
Was macht das Land für Dich besonders, warum hast Du dich entschieden, dorthin zu gehen?
In erster Linie natürlich der Liebe wegen. Aber ich fand es schon immer spannend, neue Länder, Kulturen und Sprachen kennenzulernen. Insofern war der Schritt, tatsächlich für eine Weile nach Kirgisistan zu ziehen, für mich gar nicht so groß.
Man kann also sagen Du bist für eine Beziehung in eine völlig andere Gesellschaft, ein fremdes Land gezogen. Welches Bild hattest Du von Kirgisistan beziehungsweise von Zentralasien? Was hast Du erwartet?
Bevor ich das erste Mal kam, hatte ich ehrlich gesagt überhaupt keine Vorstellung von Kirgisistan. Zentralasien ist in Deutschland ein blinder Fleck auf der Weltkarte.
Wurdest Du positiv von Kirgisistan überrascht?
Absolut. Ich finde es spannend, hier zu leben. Bischkek hat mehr zu bieten als ich vorher dachte. Es gibt eine relativ kleine, aber spannende Kulturszene und zahlreiche Ausgehmöglichkeiten vom japanischen Restaurant bis hin zum Rock-Club. Die Berge bieten zu jeder Jahreszeit genug Raum für Abenteuer.
Insgesamt finde ich aber die Gemeinsamkeiten fast bemerkenswerter als die Unterschiede. Da wir in Deutschland oft gar keine Vorstellung haben, wie es in anderen Ländern aussieht, haben manche die wildesten Fantasien davon. Letztlich finde ich das Leben hier gar nicht so anders als in Europa.
Wie ist es im Alltag? Welche kirgisischen Gepflogenheiten und Traditionen schätzt Du?
Im Gegensatz zu Deutschland ist der Familienzusammenhalt hier viel stärker, was ich sehr schätze. Das hat allerdings auch negative Seiten, da es Einschnitte der persönlichen Freiheiten mit sich bringen kann, wie im Extremfall die kirgisische Brautraubtradition zeigt.
Was vermisst Du aus Deutschland?
Das ein oder andere Lebensmittel wie Vollkornbrot oder Schweizer Käse. Und die Nähe zu Familie und Freunden. Aber ich habe auch in der Vergangenheit viel Zeit im Ausland verbracht und kann für eine Weile darauf verzichten.
Wie oft fährst Du nach Deutschland? Was für ein Gefühl ist es, wenn Du wieder dort bist?
Bisher reise ich mehrmals im Jahr geschäftlich nach Deutschland, da wir gerade erst im Aufbau sind und es noch viel zu koordinieren gibt. Wenn ich deutschen Boden betrete, merke ich schon, dass dies meine Heimat ist, aber nach meiner letzten zweiwöchigen Deutschlandreise hatte ich mich am Ende auch wieder darauf gefreut, zurück „nach Hause“, nach Bischkek zu fahren.
Gibt es für Dich Heimat oder bist Du ein Nomade?
Ich kann mich überall auf der Welt zu Hause fühlen, aber meine Heimat ist und bleibt Deutschland.
Welche Ziele, Projekte stehen in nächster Zeit bevor?
Im Augenblick sind wir mit KANCHA in einer spannenden Phase, da sich das Team stetig vergrößert und wir viele neue Projekte, neue Produkte, ländliche Herstellung, Erhöhung der Sozial– und Umweltstandards in der Produktion angestoßen haben. Unser Ziel ist es, ein Unternehmen aufzubauen, welches finanziell, sozial und umwelttechnisch eine positive Bilanz ziehen kann.
Tobias, vielen Dank für das Gespräch.
Mit Tobias sprach Elmira Schaltuganow
Deutsche Allgemeine Zeitung
Dieser Artikel erscheint im Rahmen der Partnerschaft von Novastan.org mit der Deutschen Allgemeinen Zeitung, Almaty.