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Kirgisische Feste – So sinnlos wie erbarmungslos

Der Herbst ist in Kirgistan auch Hauptsaison für Hochzeiten und weitere Feste, auf kirgisisch „Toj“, zu denen oft mehrere Hundert Gäste eingeladen werden. Während sie die Organisatoren in wirtschaftliche Bedrängnis bringen, wissen viele Kirgisen nicht mehr wohin vor lauter Einladungen. Dieser Meinungsartikel wurde zuerst auf Azattyk.org, der kirgisischen Version von RFE/RL, veröffentlicht. 

olgaz 

Hochzeit Kirgistan
Limousinen gehören zu vielen Hochzeiten in Kirgistan dazu.

Der Herbst ist in Kirgistan auch Hauptsaison für Hochzeiten und weitere Feste, auf kirgisisch „Toj“, zu denen oft mehrere Hundert Gäste eingeladen werden. Während sie die Organisatoren in wirtschaftliche Bedrängnis bringen, wissen viele Kirgisen nicht mehr wohin vor lauter Einladungen. Dieser Meinungsartikel wurde zuerst auf Azattyk.org, der kirgisischen Version von RFE/RL, veröffentlicht. 

Bereits seit mehreren Wochen gibt es keinen mehr Grund zu kochen, denn die Kühlschränke sind randgefüllt mit den verschiedensten Gerichten – übrig geblieben von zahlreichen Festen und Gedenkfeiern. Wo man auch hingeht, mit wem man sich auch trifft, man bekommt fortwährend nichts anderes als zu hören als ein Klagen und ein Zetern.

Die nicht enden wollenden Feste und Gedenkfeiern mit ihren mehr als reich gedeckten Tischen zerren an den Nerven und Energiereserven der Kirgisen. Der Terminkalender Vieler ist im November brechend voll. Aber trotz des vielen Jammerns nehmen sie allabendlich ihre Einladungen wahr und feiern unaufhörlich ein Fest nach dem anderen.

Ein „Marathon der Völlerei“

Wir beklagen uns bei der Regierung, denn weder die Gehälter noch die Renten werden erhöht. Und zu alldem will und muss ein jeder Kirgise mit den anderen mithalten, wenn es um den Marathon der Völlerei geht und um das Profilieren und Umherprotzen mit dem wohlverdienten eigenen Wohlstand. Die Stadt, das Dorf, Jung und Alt – alle feiern und feiern sie. Der Ausspruch „Gott wird uns schon nicht ohne Feste zurücklassen!“ hat sich in den vergangenen Jahren als das wichtigste Lebensmotto der Kirgisen erwiesen.

Sie sagen, Kirgisistan wachse und entwickele sich nicht? Aber schauen Sie nur auf die wachsende Anzahl der Restaurants, die wie Pilze in die Höhe schießen – alleinig auf das Veranstalten von Festen spezialisiert, im Kirgisischen als „Tojchana“ („Festraum“, Anm. D. Red.) bekannt.

Manch einem fallen keine weiteren Orte ein, die man einem ausländischen Besucher zeigen möchte, als diese. In ihren geräumigen Sälen lassen sich nicht nur internationale Foren halten, selbst für die Einweihung des Präsidenten sind sie geeignet, denn ihre Innenausstattung entspricht den höchsten Luxus-Standards.

„Almatinskaja“ ist eine der größten Straßen Bischkeks. Man könnte sie ebensogut in „Tojchana-Prospekt“ umbenennen. Auf beiden Seiten erstrecken sich dort Restaurants, so weit das Auge reicht. Sie fordern immer mehr Platz ein und wetteifern mit einander – das eine will sich größer und großartiger sehen als das andere.

Im letzten Jahr konnten bis zu 600 Gäste in den üblichen Restaurants Kirgisistans „Tojchana“ feiern, doch es entstehen immer größere Räumlichkeiten. In diesem Jahr zählte so manch eine elitäre „Völlerei“ nicht minder als 800 bis 1000 Gäste.

„Kirgistan soll ein armes Land sein?“

So wie einst in den Weiten der wilden Prärien der USA aus dem Nichts Städte entstanden, einem Wunder gleich, so wächst und gedeiht vor unseren Augen die Welt der Restaurants. Die kirgisische Regierung sollte dem dankbar sein. Denn die Bewohner des Landes ziehen es nun vor, ihre Zeit nicht mit Demonstrationen zu verplanen – Ganz im Gegenteil: Sie nutzen sie, um zu feiern!

Es scheint, als sei es nicht allzu lange her, als es noch die Aufgabe der Frauen oder der Kinder war, die Reste des Festmahls von den Tischen zu räumen. Sie kümmerten sich um die Feste gemeinsam mit ihren Eltern oder Großeltern. Mittlerweile aber scheinen sich die Aufgabenbereiche völlig gewandelt zu haben: Elegant gekleidete Männer fegen mit einer vollkommen neuen Selbstverständlichkeit die übrig gebliebenen Köstlichkeiten von den Tischen ohne ihren über die Butter und Marmelade gleitenden Krawatten auch nur eine Sekunde ihrer Aufmerksamkeit zu schenken. Sich deswegen zu schämen, gedenkt niemand mehr – so viel zur Geschlechtergleichstellung.

Kirgisistan soll ein armes Land sein? Sollte dies der Fall sein, weshalb gilt dann seit einiger Zeit zwischen Verwandten, Nachbarn, ehemaligen Mitschüler_innen und Kommiliton_innen das Motto „Ein Grund findet sich immer.“ Und als wüsste man nicht wohin mit dem Geld, etabliert und entwickelt sich die neue Tradition der ausgiebigen Mittag- und Abendessen. Und als wäre das nicht genug, ist es mittlerweile unmöglich, sich zu entsinnen, wann, wo und aus welchem Grund man das letzte Mal Fleisch gegessen hat – so alltäglich ist es bereits. Zeichnet das ein armes Land aus?

Sogar bis in die abgelegensten Dörfer Kirgisistans haben es die Feste und Jubiläen des Landes geschafft. An diesen Orten sehen es die dorfeigenen Oligarchen als ihre Pflicht an, ihre höchstpersönlichen „Tojchanas“ zu veranstalten. Und das nicht etwa, weil es notwendig ist, sondern schlicht und einfach, um mit den urbanen Trends Schritt zu halten.

So stehen sie dann da in ihrer ganzen Pracht, im direkten Kontrast zu den maroden und auseinanderfallenden Schul- und Vereinshäusern des Dorfes. Und so denkt sich so manch einer unweigerlich: Ist das womöglich eine Parodie?

Ein Zentrum des politischen un sozialen Lebens

„Tojchanas“ sind zum Ein und Alles der Kirgisen geworden: Sie sind Zentrum der Politik, der Kultur, der Wissenschaft und des Sportes. Und welch großartigen Menschen man dort begegnet, und welch fabelhaften Trinksprüche man dort lauschen kann, und welch weise Gedanken und Wünsche man dort vernimmt, und welch wundersame Tänze dort getanzt werden.

Die besonders gewitzten Helden der Begebenheit machten es sich sogar zur Aufgabe, den Präsidenten sowie seinen Sprecher, den Premierminister und seine Stellvertreter höchstpersönlich zu ihren „Tojchanas“ einzuladen. Und als wäre dies nicht genug des Guten versuchten Selbige, selbst diesen hohen Gästen die randgefüllten Pakete mit nichtangerührten Köstlichkeiten mit auf den Rückweg zu geben (zum Ende eines Festes ist es üblich, dass die Gäste alle Essensreste mit nach Hause nehmen, Anm. D. Red.).

Wenn etwa morgen oder übermorgen direkt um die Ecke des „Weißen Hauses“ (das kirgisische Parlament, Anm. D. Red.), oder aber irgendwo an einem nahezu unzugänglichen Jailoo, also mitten in der Steppe, oder gar in einer geschlossenen Grenzzone plötzlich damit begonnen wird, „Tojchanas“ zu veranstalten, werde ich mich absolut nicht wundern – und es scheint mir, als wären wir auf dem besten Weg dorthin.

Diesen Blogeintrag habe ich nicht verfasst, um meine persönliche Haltung zu den kirgisischen Festen kundzutun – ist das nun gut oder schlecht? Wie soll ich das beurteilen? Positiv womöglich? Denn das Etablieren eines kirgisischen Festes ist bei Weitem einfacher, als beispielsweise die Produktion von High-Tech-Ware. Kurz und gut: „Gott wird und schon nicht ohne Feste zurücklassen!“ Aber wie sollen wir es nur vermeiden, nicht als die Toj-Kirgisen in aller Munde bekannt zu werden…

Sultan Dschumagulow
Azattyk.org

Aus dem Russischen übersetzt von Olga Zoll

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