Am 18. Mai hat der Anwalt des ehemaligen kirgisischen Präsidenten Almasbek Atambajew wichtige Zeugenaussagen veröffentlicht, die die Version des Generalstaatsanwalts in Frage stellen. Dieser hatte Atambajew beschuldigt, bei seiner Festnahme im August 2019 ein Mitglied der Spezialeinheiten getötet zu haben. Der Prozess gegen den Ex-Präsidenten und 13 weitere Angeklagte, der im März dieses Jahres begann, wurde bereits mehrfach verschoben.
Was ist wirklich am Abend des 7. August 2019 in Koi-Tasch, in der Nähe von Kirgistans Hauptstadt Bischkek, geschehen? An diesem Tag wurde eine Operation der kirgisischen Spezialeinheiten gestartet, um den ehemaligen Präsidenten Almasbek Atambajew (2011-2017) in seiner Residenz zu verhaften. Dabei wurde Usenbek Nijasbekow, Oberst der Alpha-Brigade des Staatlichen Komitees für nationale Sicherheit (GKNB), tödlich verletzt. Kirgistans Generalstaatsanwalt klagte den ehemaligen Staatschef an und beschuldigte ihn, die Schüsse abgegeben zu haben. Diese Version wird jedoch vom Anwalt des Angeklagten, Samir Dschooschew, bestritten. Am 18. Mai hat dieser dem kirgisischen Nachrichtenportal Kaktus.media 53 Zeugenaussagen von an der Operation beteiligten GKNB-Mitgliedern übermittelt, von denen mehrere der Version der Justizbehörden widersprechen.
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Der Zugriff des GKNB stieß in der Residenz von Almasbek Atambajew auf starken Widerstand von Anhängern des Ex-Präsidenten, die die Spezialkräfte gewaltsam zurückdrängen. Atambajew wurde schließlich am nächsten Tag im Zuge eines Folgeeinsatzes verhaftet. Im Inneren des Gebäudes wurden mindestens 14 Gewehre gefunden, wie ein am Tatort gedrehtes Video zeigt, das von Radio Azattyk, dem kirgisischen Dienst des amerikanischen Medienhauses Radio Free Europe, online gestellt wurde.
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Kaktus.media berichtet nun, dass die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft ergeben hätten, dass Usenbek Nijasbekow durch einen Schuss aus einem Dragunow-Schaftschützengewehr gestorben sei, von dem ein geladenes Exemplar in der Residenz beschlagnahmt wurde. Der Oberst soll gegen 21 Uhr tödlich an der Brust getroffen worden sein, als er sich auf der Treppe zwischen dem zweiten und dritten Stock des Hauses befand. Almasbek Atambajew hatte am 8. August 2019 öffentlich erklärt, er sei „der einzige [in der Residenz], der eine Waffe hat“. Er gab auch zu, „fünf oder sechs Schüsse abgefeuert zu haben, als die Alpha-Spezialkräfte begannen, in den dritten Stock zu steigen“, obwohl er „versuchte, keinen der Soldaten zu treffen“.
Widersprüchliche Zeugenaussagen
Trotz der ersten Aussagen seines Mandanten und der von den Ermittlern gesammelten Beweise hat Anwalt Dschooschew stets die Unschuld des ehemaligen Präsidenten betont. Am 18. Mai kamen neue Fakten hinzu, die seine These untermauerten. Zunächst behaupten 14 Mitglieder der Spezialeinheiten, deren Zeugenaussagen in die Akte eingegangen sind, dass sie Usenbek Nijasbekow um 23 Uhr lebend gesehen hätten, also mehr als zwei Stunden nach dem vermeintlichen Schuss, der ihn in die Brust getroffen haben soll. Nach den Ergebnissen medizinischer Gutachten, die Dschooschew auf Facebook geteilt hat, soll Nijasbekow schließlich um 00.50 Uhr in einem Bischkeker Krankenhaus gestorben sein.
Nach den Zeugenaussagen, die Kaktus.media veröffentlicht hat, zog sich Die Alpha-Brigade gegen 23 Uhr von Atambajews Residenz zurück, als die Unterstützer des Ex-Präsidenten das Gebäude umzingelten und zunehmend bedrohlich wurden. Die an der Operation beteiligten Soldaten behaupten, sie hätten dann versucht, den Eingang zu verbarrikadieren, bevor die Menge sich Zugang verschaffte. In diesem Moment, gegen 23.20 Uhr, soll Oberst Nijasbekow per Funk mehrere Befehle erteilt und Verhandlungen vorgeschlagen haben. „Wie kann eine Person, die um 21 Uhr eine Schusswunde erlitten hat, um 23 Uhr Befehle erteilen und einer wütenden Menge Verhandlungen anbieten? „, fragt Samir Dschooschew auf Facebook.
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Darüber hinaus berichten mehrere Mitglieder der GKNB, dass Usenbek Nijasbekow verletzt wurde, nachdem die Demonstranten, von denen einige mit AK-74-Sturmgewehren bewaffnet gewesen sein sollen, schließlich in das Erdgeschoss eingedrungen waren. „Ich sah, wie sie Nijasbekow erschossen. Es war im Erdgeschoss neben dem Sofa. Nijasbekow lag auf dem Boden und lehnte sich an meine Beine. Zu dieser Zeit haben (die Anhänger von Almasbek Atambajew) uns geschlagen, uns unsere Waffen und unsere Tarnuniformen abgenommen“, sagte einer von ihnen, dessen Name nicht öffentlich gemacht wurde. „An einem Punkt betrat einer von Atambajews Anhängern, den wir identifizieren konnten, den Raum mit einer unserer AK-74 in der Hand und gab auf dem Weg zum Sofa aus einer Entfernung von zwei Metern zwei Schüsse in Richtung Usenbek Nijasbekow ab“, fügte er hinzu.
Für Atambajews Anwalt zeigen diese Aussagen, dass der Oberst der Alpha-Brigade nicht vom ehemaligen Staatsoberhaupt selbst getötet wurde, sondern wahrscheinlich von einem seiner Anhänger: „Ich denke, dass Nijasbekow – wie Alpha-Mitglieder bei der Untersuchung sagten – im Erdgeschoss, in einem Raum am Eingang auf der Südseite des Hauses verletzt wurde.“ Auch wenn die ballistischen Gutachten darauf schließen ließen, dass Nijasbekow von einer 7,62-Millimeter-Kugel getroffen wurde, was dem Durchmesser der Kugeln entspricht, die von einem Dragunow-Schaftschützengewehr abgefeuert wurden, glaubt Dschooschew nicht daran. Die Verletzung Nijasbekows sei vielmehr durch eine 5,45-Millimeter-Kugel von einem AK-74-Sturmgewehr verursacht worden.
Generalstaatsanwaltschaft hält an Version fest
Am 19. Mai, einen Tag nach der Veröffentlichung der Zeugenaussagen, reagierte die Generalstaatsanwaltschaft der Kirgisischen Republik mit einer Mitteilung. Sie hält an ihrer Version der Ereignisse fest und behauptet, dass die Zeugenaussagen aus dem Kontext gerissen wurden. „Die Aussagen der Mitglieder der Alpha-Brigade des Staatlichen Komitees für nationale Sicherheit der Kirgisischen Republik wurden vom Anwalt Samir Dschooschew nicht vollständig wiedergegeben“, heißt es in der Mitteilung. „Die von Samir Dschooschew erwähnten Zeugenaussagen über die Ereignisse in Koi-Tasch vom 7. und 8. August 2019 wurden während der Untersuchung durch andere Augenzeugen geklärt und ergänzt, wodurch eine echte Darstellung der Tatsachen geschaffen wurde“, so die Justizbehörden.
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Für den Generalstaatsanwalt scheint es an Atambajews Schuld keine Zweifel zu geben. In der Mitteilung heißt es, dass „die ballistische Untersuchung bewiesen hat, dass die Kugeln ein Kaliber von 7,62 Millimetern haben“. Die Staatsanwaltschaft führt die Schüsse daher auf das Schaftschützengewehr des ehemaligen Präsidenten zurück. „Die Überreste der Kugel auf der Schutzweste und der Kleidung von Usenbek Nijasbekow deuten darauf hin, dass der Schuss aus einem Jagdgewehr, also dem Dragunow-Gewehr von Almasbek Atambajew, abgefeuert wurde“, betont er. Er kommt zu dem Schluss, dass alle Elemente der Untersuchung „die Beteiligung von Almasbek Atambajew und Kanat Saginbajew (einer seiner Leibwächter, der auch in dem Fall angeklagt ist – Anm. d Red.) an der Ermordung von Usenbek Nijasbekow und dem versuchten Mord an anderen Opfern festgestellt haben“.
Des Weiteren wird in der Mitteilung angeprangert, dass Dschooschew die Aussagen der Mitglieder der Spezialeinheiten, die in die Akte eingegangen sind, offengelegt hat. Nach Ansicht des Generalstaatsanwalts ist die Veröffentlichung von Beweisen, die im Vorverfahren gewonnen wurden, nach der kirgisischen Strafprozessordnung verboten. Laut Radio Azattyk erklärt der Anwalt des ehemaligen Präsidenten im Recht zu sein und bestätigt, Kaktus.media um die Veröffentlichung gebeten zu haben. „Nach dem Gesetz können Anwälte, sobald der Fall vor Gericht verhandelt wird, die Dokumente veröffentlichen, um ihren Mandanten zu schützen“, sagte er.
Prozess immer wieder verschoben
Diese letzten Enthüllungen sind nur die jüngste Wendung einer langen politisch-juristischen Seifenoper, in der die haarsträubende Verhaftung von Almasbek Atambajew die bekannteste Episode ist. Sie verdeutlichen auch den Kampf bis aufs Messer, der sich zwischen Atambajew und seinem Nachfolger im Präsidentenamt, Sooronbaj Dscheenbekow, abspielt. Im August 2019 hatten die Strafverfolgungsbehörden die Residenz des ehemaligen Präsidenten gestürmt, nachdem dieser sich geweigert hatte, drei Vorladungen des Innenministeriums zu befolgen. Dieses untersuchte Atambajews mutmaßlichen Beteiligung an der Freilassung von Asis Batukajew, einer Größe der organisierten Kriminalität. Bei den zweitägigen Zusammenstößen zwischen Anhängern Atambajews und Mitgliedern der GKNB wurden ein Mensch getötet und mehr als 170 verletzt.
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Am 13. Dezember 2019 gab Kirgistans Innenminister Kaschkar Dschunuschalijew bekannt, dass der ehemalige Präsident offiziell wegen „Mordes an einem Sicherheitsbeamten“ angeklagt wird, obwohl er bereits wegen „Korruption“, „Gewaltanwendung gegen Staatsvertreter“, „Organisation von Unruhen“, „Orchestrierung eines versuchten Mordes“ und „Geiselnahme“ angeklagt worden war. Insgesamt wurden 18 weitere Personen, meist Leibwächter, in verschiedenen Punkten angeklagt.
Der Prozess gegen den Ex-Präsidenten und 13 seiner Mitangeklagten wurde am 23. März 2020 vor dem Birinschi-Mai-Bezirksgericht in Bischkek eröffnet. Alle 14 Angeklagten plädierten auf nicht schuldig und bezeichneten das Verfahren als „politisch“. Wie Radio Free Europe berichtete, wurde die Anhörung sofort unterbrochen und um eine Woche verschoben, als der 63-jährige Hauptangeklagte einen Blutdruckabfall erlitt. Seitdem wurde der Prozess wegen des Ausnahmezustands rund um die Coronavirus-Pandemie und der gesundheitlichen Probleme des ehemaligen Staatsoberhauptes mehrmals verschoben. Laut dem russischen Medium Sputnik wurde auch die für den 18. Mai geplante Anhörung auf den 25. Mai verschoben, da weder Almasbek Atambajew noch sein Anwalt Meerbek Miskenbajew vor Gericht erschienen waren.
Quentin Couvreur, Redakteur für Novastan
Aus dem Französischen von Robin Roth
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