Nadine Boller, gebürtige Schweizerin, ist Dokumentarfilmerin mit einer Liebe für Kirgistan. Ihr letzter Film „Erkinai – die Halbnomadin“ wurde auf Kika, dem deutschen Kinderkanal, gesendet. Für ihre neuesten Recherchen verbrachte sie mit ihrer kirgisischen Freundin Mahabat ein paar Tage in deren Heimatdorf Ak-Talaa, im Zentrum Kirgistans gelegen. In einersechs-teiligen Serie gibt Nadine einen sehr persönlichen Einblick in die Kultur und Geschichte des kleinen Dorfes und lässt uns hautnah dabei sein. Letzte Woche stellte Nadine uns das Dorf und seine Einwohner vor. Diese Woche beschäftigt sie sich mit dem Thema Brautraub in Kirgistan.
Teil 1: Mairamgül Eje, ihre Familie und die liebe Religion
An der Haustür empfängt uns Gülzat mit einem großen Lächeln. Ihr frecher Pony und ihr fröhliches Auftreten laden schnell zu einem Gespräch ein. Sie und Mairambek sind schon seit fünfzehn Jahren verheiratet und die Geschichte dazu ist äußerst unterhaltsam, meint sie.
Denn in Kirgistan gibt es nämlich noch Brautraube, was ein großes und ernsthaftes Problem darstellt. Aber überraschenderweise erzählen viele ältere Frauen und Männer mit Leichtigkeit darüber. Auf der weiblichen Seite scheint eine gewisse Akzeptanz ihrer Opferposition gegenüber da zu sein, und die Männer auf dem Lande nehmen das Thema generell etwas weniger dramatisch dahin. „Klar, am Anfang wehren sich alle Frauen, die entführt worden sind. Aber in den meisten Fällen lernen sie ihren Mann irgendwann schon zu lieben“, meint Mairambek.
Brautraub oder Ala kachuu in Kirigstan
Der Brautraub, auf Kirgisisch Ala kachuu (Übersetzung: eine Frau nehmen und weglaufen) ist seit dem Ende der Sowjetunion ein immer größeres Problem in Kirgistan. Laut dem Experten Russel Kleinbach von der Philadelphia University gibt es drei Arten von ala kachuu: das Entführen der Frau gegen ihren Willen, das Entführen der Frau gegen den Willen beider Eltern und das Entführen der Frau mit Einverständnis aller Parteien.
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Wo die letzten beiden Formen oft angewandt werden, um den elterlichen oder finanziellen Vorstellungen der Dorfbewohner zu entkommen, erfreut sich die erstere und uneinvernehmliche Form von ala kachuu immer größerer Beliebtheit in Kirgistan. Obwohl den Männern bis zu zehn Jahre Gefängnis drohen, schätzen Forscher, dass zwischen 30% und 80% oder 12,000 aller Hochzeiten jedes Jahr in Kirgistan durch Brautraub entstehen. Laut Elena Kim von UN Women Kyrgyzstan sind besonders Frauen in den ländlichen Gebieten betroffen: 2008 wurden mindestens 51% der Ehen auf dem Land durch nicht-einvernehmlichen Brautraub geschlossen. Trotz der hohen Fallzahl werden nur sehr wenige Männer vor Gericht gebracht – und noch weniger verurteilt.
Laut den Dorfbewohnern von Ak-Talaa begehen oft Junggesellen Brautraub, die zu schüchtern sind, um sich persönlich einem Mädchen anzunähern. Mairambek war so einer. Anekdotenhaft und ohne schlechtes Gewissen erzählt er, wie er seine Braut raubte. Er hat sich zwar vor einem Monat mit einem Mädchen in der Hauptstadt bekanntgemacht, aber nicht den Mut gehabt, sie näher kennenzulernen. Damals war er vierundzwanzig Jahre alt und die Zeit zum Heiraten war gekommen.
Mairambek findet keine Frau zum entführen
Weiter erzählt er, für das europäische Ohr ein wenig schockierend, humorvoll, dass er Zuhause ankündigte, dass er eine Braut klauen wird und man schon alles für die Vermählung vorbereiten soll. Während seine Verwandten also die Hochzeitsgesellschaft einluden, ein Pferd schlachteten, und die Tische mit Essen füllten, füllte Mairambek einen Minibus mit Männern und fuhr damit in die Hauptstadt los. Der Plan war, bei dem Mädchen aufzukreuzen und sie so schnell und unauffällig wie möglich in den Wagen zu packen. Aber die Aufregung wurde schon bald gedämpft, als das Mädchen nirgends aufzufinden war. Sie musste wohl gespürt haben, dass da was in der Luft liegt und sich vorsichtshalber versteckt haben.
Nach der Enttäuschung kam auch gleich die Panik: Zuhause war schon alles vorbereitet und die Leute warteten gespannt auf die schöne Braut. Es würde Schande über die Familie bringen, wenn sie mit leeren Händen zurückkehrten. Schnell setzte sich der Minibus zum Krisengespräch zusammen und jeder nannte Mädchen, die noch ledig sind und gute Hausfrauen abgeben würden. Eine wurde zur Glücklichen auserkoren und der Minibus setzte sich wieder in Bewegung. Aber an diesem Tag sind sie wohl alle mit dem linken Fuß aufgestanden, denn auch dieses Mädchen war nirgends zu finden.
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Also kurvten die Jungs weiter durch die Straßen, während alle nochmals durch das Mädchen-Repertoire gingen. Auf dem Weg wurde als Verzweiflungsakt noch spontan eine junge Frau in den Wagen gezerrt, die sich aber als dick entpuppt hat und wieder gehengelassen wurde.
Die verhinderte Ehe
Nach langem Hin und Her haben sie sich nochmals auf ein Mädchen geeinigt und sie auch erfolgreich entführt. Sie hat sich heftig gewehrt und schlug um sich, so dass die gesamte Mannschaft sie festhalten musste, bis sie das Dorf erreichten. Dort ging der Kampf weiter, denn nun ist es an den Frauen, dem Opfer das weiße Kopftuch aufzuzwingen – das Symbol der Ehe, vergleichbar mit dem Ehering im Westen. Das Mädchen hat sich stundenlang widersetzt und ein großes Theater veranstaltet. Aber alleine kommt sie gegen die hartnäckige Mutter, Großmütter und zahlreichen Tanten und Cousinen nicht an. In der kirgisischen Tradition sind es nämlich die Frauen der Familie des Mannes, die schließlich die geraubte Frau überzeugen müssen, den Mann zu heiraten.
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Als das weiße Kopftuch sicher auf dem Haupt saß, ging es an das zweite Ritual, um die Vermählung zu besiegeln: die Entjungferung. Die Frauen haben das weinende Mädchen entkleidet und zu Mairambek hinter dem Vorhang ins Bett geschickt. Gerade als es passieren sollte, platzten nicht nur die wütenden Eltern des Mädchens rein, sondern dazu noch ein Duzend andere aufgebrachte Familienmitglieder, die wohl erfahren haben, dass die Tochter entführt worden ist. Die Braut wurde aus dem Bett gerissen und Mairambek mit den Fäusten geschlagen und den Füßen getreten. Seine Rettung war, dass das Mädchen Jungfrau geblieben ist, ansonsten hätten er und seine Familie noch einiges mehr einbüßen müssen.
Gülzat wird „erfolgreich“ entführt
Ein paar Wochen später hat sich der entmutigte Mairambek wieder zur Frauenjagt aufgerafft, aber diesmal wollte er es sich leichter machen. Eine Bekannte war Lehrerin an der Dorfschule. Sie hat ihm den Gefallen getan und alle sechzehn- und siebzehnjährige Mädchen der Abschlussklasse zu einer Brautschau eingeladen. Aber nachdem ihm die vierte Kandidatin vorgestellt wurde, hat Mairambek entschieden, dass sie doch etwas zu jung seien.
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Rund einen Monat später hat ein Freund Mairambeks von einem ledigen Mädchen berichtet, die ein guter Fang sein soll und Gülzat heisst. Der Junggeselle hat aus seinen Fehlern gelernt und sie erstmal alleine besucht. Eine Stunde haben sie sich unterhalten und zum Schluss hat Mairambek angekündigt, dass er sie entführen möchte. Ganz ernst genommen hat ihn Gülzat nicht, aber als sie zwei Tage später zwischen zwei Männern in einem fremden Auto saß, wusste sie, wer der Täter war. „Ich habe geweint“, erinnert sich Gülzat, „aber keinen Widerstand geleistet, denn er schien ein guter und ehrlicher Mann zu sein. So ist es eben bei uns in Kirgistan. Ein paar Frauen werden mit Gewalt zur Heirat gezwungen. Ich bin aber glücklich, denn wir haben drei wundervolle Kinder zusammen und ein Dach über dem Kopf.“
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Nadine Boller
Gastautorin und Dokumentarfilmerin, aktuell mit dem Film „Erkinai – Die Halbnomadin“