Ein älterer Dozent belästigt seine Studentinnen und Kolleginnen. Die Leitung der Universität der Oblast Osch verschließt die Augen vor den Fällen sexueller Belästigung, um den eigenen Ruf nicht zu ruinieren. Den Preis für diese Ignoranz zahlen die Opfer.
Dscharkyn war bis vor kurzem Studentin und ist nun als junge Mitarbeiterin an ihre Universität zurückgekehrt. Die ersten Tage an ihrem neuen Arbeitsplatz wurden jedoch durch das Verhalten eines ihrer älteren Kollegen getrübt. Was wie ein schlechter Film begann, entwickelte sich zu einer unablässigen psychischen Belastung.
„Diesen Tag werde ich so schnell nicht vergessen. Es war kurz vor Feierabend, ich war allein im Büro“, sagt Dscharkyn. „Plötzlich stürmte er herein, setzte sich neben mich, legte seinen Arm um meine Schultern und sagte: ‚Ich bin nicht mehr der Jüngste, weißt du? Hilfst du mir mal eben mit meinem Computer? Ich werde deine Hilfe bestimmt noch öfters brauchen.‘“
Dscharkyn antwortete zunächst ruhig, dass sie helfen würde, immerhin arbeite sie hier. Doch der Mann verhielt sich immer aufdringlicher.
„Mein Kind, ich sorge dafür, dass du hier einen Masterabschluss ablegen kannst und an dieser Universität aufsteigen wirst“, klang es in Dscharkyns Ohren fast ein wenig bedrohlich.
Dann beginnt er, sie zu küssen.
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Als vereinsgetragene, unabhängige Plattform lebt Novastan vom Enthusiasmus seiner ehrenamtlichen Mitarbeiter:innen – und von eurer Unterstützung!„Darauf kam ich nicht mehr klar. Ich stieß ihn weg, fragte entsetzt, was das soll und rannte aus dem Büro. Zurück kam ich erst, als er weg war. Dann packte ich mein Zeug und ging heim“, erzählt die junge Frau.
Von diesem Tag an ging sie ihrem Kollegen aus dem Weg, wann immer es möglich war. Das war oft gar nicht so leicht.
„Seit diesem Vorfall lauerte er nur so auf Momente, in denen ich allein war. Wenn er in meinem Büro auftauchte, verließ ich den Raum, versuchte ihn zu ignorieren“, sagt Dscharkyn.
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Als andere Studentinnen immer zahlreicher Beschwerde wegen Belästigung einreichten, erfuhr sie, dass sie nicht das einzige Opfer dieses Dozenten war. Indem die Studentinnen über die Vorfälle sprachen, brachten sie die unsichtbare Mauer des Schweigens zum Bröckeln und brachten eine lange Serie aus Angst und Unterdrückung zum Vorschein.
„Dieses alte Scheusal hat nicht nur mich belästigt.“ Dscharkyn erinnert sich an einen besonders skandalösen Fall, als der Dozent ein Mädchen belästigte, dessen Freund im selben Kurs saß. Da habe nicht viel zur Prügelei gefehlt.
Der Kleber des Schweigens
Doch diese Universität ist kein Einzelfall. In Kirgistan gibt es Stand 2023 rund 200 weiterführende und höhere Bildungseinrichtungen mit etwa 190.000 Studentinnen.
2021 führten Teilnehmer des Menschenrechtsprojekts „Human Rights Hogwarts“ eine Studie (auf Russisch; Anm. d. Übersetzers) über Belästigung an Universitäten und Hochschulen in Kirgistan durch. Die Ergebnisse zeigten, dass die Hälfte der Befragten, von denen 95 Prozent weiblich waren, verschiedene Arten von Belästigung sowohl innerhalb als auch außerhalb von Bildungseinrichtungen erlebt hatten.
Die meisten von ihnen waren sexistischen Äußerungen ausgesetzt, wie z. B.: „Warum sollten Mädels studieren, wenn der Ehemann die Entscheidungen trifft?“. Hinzu kamen sexualisierte Kommentare über Aussehen und Sexappeal. Häufig waren auch körperliche Verletzungen und Versuche der sexuellen Bestechung, ausgeübt von Personen in Bildungseinrichtungen, die eine höhere Machtposition innehatten.
Die Studie unterstreicht, dass Statushierarchien bei der Verbreitung sexueller Belästigung eine Schlüsselrolle spielen. In der Dozent-Studentinnen-Beziehung ziehen die jungen Frauen den Kürzeren. Nicht selten versuchen sich die Dozenten an Manipulationstechniken à la „hilfst du mir, helf‘ ich dir“.
Dscharkyn erinnert sich, dass dieser Dozent während ihrer Studienzeit darauf bestand, Hausarbeiten in seinem Büro entgegenzunehmen. Nicht nur befand sich dieses im Gebäude einer anderen Hochschule, seine Forderung betraf zudem ausschließlich weibliche Studenten. Ein Leichtes, diese Situation zu missbrauchen, vermutet Dscharkyn.
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Laut der Hogwarts-Umfrage waren in den meisten Fällen sexueller Belästigung an Hochschulen Männer verantwortlich – das gaben 86 Prozent der Betroffenen an. Meist waren andere Studenten die Täter. Dozenten waren an jedem vierten Fall beteiligt. Das Ergebnis unterstreicht das Problem des Machtmissbrauchs im akademischen Umfeld.
Ständige Fälle sexueller Belästigung durch Dozenten sind in der Regel allen bekannt, an die Verwaltung wendet sich trotzdem niemand. Dies liegt womöglich daran, dass Mitwissende das Verhalten als normal ansehen oder es nicht für notwendig halten, einzugreifen.
So viel Mut wie Dscharkyn haben nur wenige. Doch den hatte sie nicht von Anfang an: Ihr Schweigen brach sie erst, nachdem andere Studentinnen sie durch ihre Beschwerden indirekt ermutigt hatten.
Nach zahlreichen Beschwerden verfügte der Fachbereichsleiter zwar, dem Dozenten einige Kurse zu streichen, in denen betroffene Studentinnen saßen. Über den wahren Grund dieses Vorgehens informierte er den Dozenten jedoch nicht.
„Er hat es nie gewagt, dem Dozenten direkt zu sagen: ‚Sie verhalten sich unangemessen.‘ Darum ist ihm bis heute unklar, weshalb er uns nicht mehr unterrichten darf“, so Dscharkyn.
Laut der Studie von Human Rights Hogwarts wandten sich nur 3 Prozent der Belästigungsopfer an ihren Lehrstuhl oder Dekan. Die Hälfte der Befragten erzählte ihren Freundinnen oder Freunden davon, während ein Drittel es vorzog, niemandem davon zu erzählen.
Die Gründe für ihr Schweigen
Viele Opfer geben sich selbst die Schuld oder fürchten, dass ihnen niemand glaubt. „Was hatte ich in dem Moment an? Habe ich mit meinem Verhalten provoziert?“, fragen sie sich wieder und wieder.
In die Strafverfolgungsbehörden und die Universitätsverwaltung setzen die Studentinnen keinerlei Hoffnung. Bestenfalls entlassen sie den Belästiger, aber ohne an die Öffentlichkeit zu gehen, um den Ruf der Bildungseinrichtung zu wahren. Das gaben auch die Verantwortlichen gegenüber Dscharkyn zu, als sie nachgehakt hatte.
„Dozenten mit akademischem Abschluss sind für den Lehrstuhl essenziell, sie sichern das Ansehen des Fachbereichs und damit auch den Ruf der Uni. Darum agiert die Leitung oft nur so zögerlich gegen sie“, erklärt Dscharkyn.
Männliche Kollegen mehr als unkooperativ
Bislang wagen sich Studentinnen also lediglich in die Konfrontation mit den Dozenten, solange der Vorfall keinen großen Aufruhr nach sich zieht und den Ruf der Einrichtung nicht gefährdet.
Auch die 26-jährige Sajkal aus Bischkek erinnert sich mit viel Verbitterung an ihre Studienzeit, in der sie von einem ihrer Dozenten sexuell belästigt wurde. Sie war eine ganz normale Studentin aus einem weit entfernten Dorf, die an eine prestigeträchtige Universität zum Studium kam.
„Als ich 17-18 Jahre alt war, hatte ich keine klare Idee davon, was Belästigung überhaupt ist. Deshalb habe ich auch lange nicht gemerkt, was für ein inakzeptables Verhalten sich der Dozent da herausnahm“, erklärt Sajkal.
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„Die Erziehung auf dem Dorf hat mich in gewisser Weise geprägt. Ich hatte ein gutes Mädchen zu sein, sollte die Älteren respektieren und nicht verärgern. Lehrer waren Heilige. Es war völlig ausgeschlossen, dass sie ihre Schülerinnen und Studentinnen als Objekt der Begierde betrachten würden.“
Die Realität sah jedoch anders aus. Ihr auf den ersten Eindruck unauffälliger Dozent schenkte ihr und einigen Kommilitoninnen besondere Aufmerksamkeit, gab ihnen liebevolle Spitznamen wie „Ajsuluuschka“ oder „Bermetka“ (statt Ajsulu und Bermet, Anm. d. Übersetzers.) Während der Sitzungen und Prüfungen berührte er immer öfter Sajkals Schultern und Arme und bot ihr an, nach dem Unterricht zu bleiben, um über ihre Noten und ihre Karriere zu sprechen.
Sajkal ging ihm zusehends aus dem Weg, jede Ausrede war ihr recht. Als sie ein Buch bei ihm ausleihen wollte, schlug er schamlos vor, sich dafür in der Stadt zu treffen.
„Mein Misstrauen und meine Angst haben mich vor Schlimmerem bewahrt. Doch der unangenehme Nachgeschmack seiner Kommentare und Berührungen bleibt. Als ich später mehr über das Thema Belästigung erfuhr, sträubte sich alles in mir“, so Sajkal.
Im dritten Studienjahr beschloss Sajkal, beim Dekanat Beschwerde einzureichen. Ihre Kommilitoninnen machten ihr derweil keine großen Hoffnungen.
„Sie sagten, die wären längst auf dem Laufenden und würden die Vorwürfe weiter totschweigen. Von wegen ‚die Studentinnen verstehen das alles falsch, der Dozent bemüht sich doch nur um ein gutes Verhältnis‘“, erinnert sich Sajkal.
Verzweifelt ließ sie ihr Vorhaben fallen. Noch nach ihrem Abschluss erfuhr sie, dass der Dozent seine Studentinnen auch weiterhin belästigte.
„Erst als eine Dozentin von seinem Verhalten erfuhr, kam es ihrem Einsatz sei Dank zur Entlassung. Hätte ich vielleicht von Anfang an Hilfe bei einer Frau suchen sollen?“, überlegt Sajkal.
Wichtige Entscheidungen an den Hochschulen Kirgistans treffen meist Männer. Die Rektoren von 74 Prozent der Universitäten sind männlich.
Bloß keine obszönen Dinge schreiben
Die meisten Universitäten in Kirgistan haben noch keine Strategie entwickelt, um Belästigung zu verhindern und zu bekämpfen. Eine Analyse der Websites der Universitäten ergab, dass lediglich die Amerikanische Universität Zentralasiens (AUCA) und die OSZE-Akademie über klare Mechanismen zur Bekämpfung von Belästigung verfügen.
An den anderen Universitäten findet das Problem in offiziellen Dokumenten wie Satzungen oder Ethikkodexen überhaupt keine Erwähnung. Gängig sind allgemeine Formulierungen wie „gegen jegliche Verletzung der Menschenwürde“. Der Inhalt dieser Dokumente deckt sich meist. Das liegt daran, dass das Bildungsministerium sich nicht die Mühe macht, über die standardisierten Vorlagen hinaus etwas auszuformulieren. Zudem gibt es Beispiele für Kodexe, die russländischen Dokumenten entstammen, in denen das Wort „Russland“ beim Copy-Paste allerdings oftmals vergessen und noch nicht durch „Kirgistan“ ersetzt wurde.
Einige Universitäten geben auf ihren Websites an, eine Art Kummerkasten für Studierende bereitzuhalten. Die Anonymität der eingehenden Beschwerden ist dabei jedoch nicht immer gewährleistet. Auf der Website der Staatlichen Universität Naryn heißt es beispielsweise, dass „Fragen unangemessener oder irrelevanter Natur“ nicht veröffentlicht werden. Solche Formulierungen können dazu beitragen, dass Barrieren entstehen und die Studierende sich beim Teilen ihrer Anliegen nicht sicher fühlen.
Die Folgen von Belästigung
Während Universitäten sich nach wie vor weigern, sexuelle Belästigung als ernstzunehmendes Problem anzuerkennen, haben die Opfer mit den oft tief sitzenden und einschneidenden Folgen der Belästigung zu kämpfen.
Auch Dscharkyn hat lange gebraucht, um sich von dem Durchlebten zu erholen.
„Mir kommen noch immer die Tränen, wenn ich an diese enorme Stresssituation zurückdenke. Heute wie damals dreht mein Puls völlig frei, wenn ich ihm über den Weg laufe“, erzählt sie.
Diese Folgen sind den meisten Belästigungsopfern gemein. Einige entwickeln Depressionen, andere sogar Selbstmordgedanken. Umso dringender muss eine systemische Lösung für das Problem der sexuellen Belästigung gefunden werden.
Im Jahr 2024 ratifizierte Kirgistan das Übereinkommen Nr. 190 der Internationalen Arbeitsorganisation über die Bekämpfung von Gewalt und Belästigung am Arbeitsplatz. Doch was als erster wichtiger Schritt erscheint, bleibt in der Praxis meist unbeachtet.
Das Strafgesetzbuch des Landes definiert den Begriff „sexuelle Belästigung“ sehr vage. So zählen beispielsweise Fälle von Gewalt oder Drohungen als Handlungen sexueller Natur (Artikel 155 des Strafgesetzbuchs). Beleidigungen oder Demütigungen fallen meist unter die Kategorie des Kleinrowdytums, das mit einer Geldstrafe oder einer administrativen Festnahme geahndet wird.
Viele Studien betonen die Notwendigkeit eines neuen Artikels, der das Problem der sexuellen Belästigung direkt regelt. Das meint auch Dscharkyn und fügt hinzu, dass der Staat härtere Maßnahmen ergreifen sollte.
„Wir bräuchten ernsthafte Maßnahmen. Wer sich bestechen lässt, der wundert sich ja auch nicht über das Kündigungsschreiben. So sollte es auch bei Belästigung sein. Die Dozenten wähnen sich in Sicherheit, weil sie wissen, dass der Staat tatenlos zuschaut und die Schuld auf das Opfer schiebt“, erklärt sie.
Dscharkyn fügt hinzu, dass ihre Universität vor kurzem Kameras in Fluren, Klassenzimmern und in der Nähe von Türen angebracht hat. „Sie sind überall: in den Fluren, in den Büros, am Eingang. Vielleicht wird das solche Vorfälle reduzieren…“
Redaktion von kloop.kg
Aus dem Russischen von Arthur Siavash Klischat
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Angela B., 3 months ago
Hallo, gibt es auch Informationen aus Usbekistan zu diesem Thema? Vielen Dank fuer diesen Artikel, das ist unglaublich wichtig, dass das Thema groessere Reichweite erfaerht!
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