Medizinische Hochschulen in Kirgistan bieten keine Kurse an, die sich inhaltlich mit dem Autismus beschäftigen. Daher fehlt es an Spezialisten, die Autismus diagnostizieren und eine entsprechende Therapie verschreiben können.
Das Klassenzimmer ist durchflutet von Licht, das durch die vielen Fenster in den Raum gelangt. Helle, beigefarbene Töne dominieren und erzeugen eine Wärme, die es den Schülern erleichtern soll, sich auf den Unterricht zu konzentrieren. Acht Tische sind im Zentrum des Raums platziert. Auf nahezu jedem befindet sich das Foto eines Kindes. Insgesamt sind es sechs. Eines von ihnen zeigt das Mädchen Rabiga.
Rabiga ist sieben Jahre alt und hätte im September eingeschult werden müssen, so wie alle anderen Kinder in ihrem Alter. Doch stattdessen besucht Rabiga die Klasse, in deren Zimmermitte sich ihr Foto auf einem der Tische befindet. Die Erwachsenen versichern, dass diese Klasse ihre Chance sei, nicht nur lesen und schreiben zu lernen, sondern auch mit anderen Kindern zu in Kontakt zu kommen. All das, was sie braucht, um eingeschult werden zu können. Veränderungen mag Rabiga aber nicht.
Die ersten Symptome des Autismus haben Rabigas Eltern vor vier Jahren bemerkt. Ihre Mutter Aidai konnte sich mit der darauf folgenden Diagnose lange nicht anfreunden. Sie konnte nicht glauben, dass so etwas ihrer eigenen Tochter zustoßen kann, die sich bis dahin doch gesund entwickelte.
„Die Eltern machen sich große Sorgen, wenn sie erfahren, dass ihr Kind an Autismus leidet. Nicht selten zerbrechen Familien sogar, weil der Vater die Familie verlässt. Im gleichen Zug können Eltern mit dem untypischen Verhalten des Kindes nicht umgehen und behandeln es schlecht. Sie hören auf, den Kontakt zu ihren Verwandten aufrecht zu erhalten, worauf diese ebenso reagieren und sogar Treffen mit ihnen meiden“, so Aidai.
Alles begann als Rabiga aufhörte, ihre Mutter anzuschauen.
„Aufmerksam darauf wurde ich vor allem, als sie anfing, grundlos zu weinen. Es wurde immer schlimmer. Ich bekam das Gefühl, dass sie aus heiterem Himmel hysterisch wurde. Sie hörte auf, Wörter zu benutzen, die sie kannte. Einen hysterischen Anfall konnte beispielsweise das Umsteigen aus einem Bus in einen anderen auslösen. Selbst wenn wir unseren gewohnten Weg kaum merklich veränderten, geriet Rabika in Panik. Sie legte sich auf den Boden und weigerte sich, auch nur einen Schritt zu tun. Nach einiger Zeit haben wir uns entschieden, einen Arzt aufzusuchen und dieser stellte sogleich die Diagnose: Entwicklungsverzögerung“, berichtet Aidai.
Nach drei bis vier Arztbesuchen mit demselben Ergebnis, akzeptierte Aidai die Situation und fing an, ihrer Tochter das Leben so angenehm wie nur möglich zu gestalten.
Früher wurde sie damit konfrontiert, dass es entweder keine Spezialisten gab, die hätten helfen können, oder aber dass es in Kirgistan ungeheuer wenige gab. Vor zwei Jahren gründeten Eltern autistischer Kinder den Verein „Ruka v Ruke“ (Hand in Hand). Seitdem sind sie es, die ihre Kinder lehren müssen, sich anzupassen.
Es fehlen Experten
Schyldyz Sadykowa, Leiterin des Vereins, betont, dass es in Kirgistan keine Spezialisten gebe, die den Kindern eine Therapie ermöglichen könnten. Sie beschwert sich über die mangelnde Unterstützung durch den Staat.
„Wir wollen, dass die Regierung endlich ihr Augenmerk auf dieses Problem richtet und es erkennt. Denn in Kirgistan gibt es keine Gesetze, die eine spezielle Hilfeleistung für Kinder mit Autismus vorschreiben. Medizinische Hochschulen bieten keine Kurse an, die auf den Umgang mit autistischen Kindern vorbereiten. Um die Autismus-Spektrum-Störungen (ASD) nicht unbehandelt zu lassen, sind Spezialisten unverzichtbar. Denn nur sie können die Diagnose stellen.“, erklärt sie.
Die Autismus-Spektrum-Störung geht einher mit einigen Verhaltenszuständen, die unter anderem auch im Autismus auftreten. Betroffen sind Gehirnregionen, die für die soziale Kommunikation zuständig sind.
Laut Sadykowa wird Autismus in Kirgistan durch Psychiater diagnostiziert. In Bischkek gehen insgesamt sieben Personen dieser Tätigkeit nach, in Osch, der zweitgrößten Stadt des Landes, sind es nur zwei. Hinzu kommt, dass der Lehrplan der medizinischen Hochschulen vorwiegend veraltet ist. Das ist der Grund dafür, dass Absolventen dieser Einrichtungen „nicht wissen, dass der Autismus existiert“.
„Also haben wir einen Verein gegründet, in dem wir im ersten Jahr zusammen mit den Eltern autistischer Kinder gearbeitet und Experten aus den USA und Japan eingeladen haben. Die Kosten haben wir allein getragen. Wir haben die Eltern ausgebildet, die sich später ausbilden ließen, Autismus zu behandeln.“, so die Leiterin des Vereins „Ruka v Ruke“.
Amantur Achmatow, der Sprecher des Ministeriums für Bildung erklärt, dass die Absolventen zweier staatlicher Hochschulen, der Staatlichen Medizinischen Akademie Kirgistans sowie der Staatlichen Esenaly-Arabaewa-Universität Kirgistans, Veranstaltungen zur Autismus-Spektrum-Störung besuchen.
„[Inhalt der Veranstaltung zum Thema Autismus] ist die Psychogenetik, die klinische Psychologie, die Logopädie und die höhere Nerventätigkeit“, beteuert Achmatow. Selbiges bestätigt das Gesundheitsministerium.
In einem Brief, welcher auf der Homepage des Vereins „Ruka v Ruke“ veröffentlicht wurde, bestätigt das Ministerium für Gesundheit nicht nur das Fehlen dringend gebrauchter Spezialisten, sondern erklärt auch, dass über die kindliche Entwicklung unter den Kirgisen nur wenig Wissen vorhanden ist. Darüber hinaus ist Stigmatisierung in der Gesellschaft sehr weit verbreitet, was bedeutet, dass bestimmten Gruppen durch die Gesellschaft negative Eigenschaften zugesprochen werden.
Laut der Beamten des Gesundheitsministeriums sind eben diese Gründe, aber auch das Fehlen des Fachpersonals in sämtlichen Bereichen (Psychiatrie, Logopädie, Psychologie, Defektologie), dafür verantwortlich, dass der Informationsfluss über die Autismus-Spektrum-Störung in Kirgistan erschwert wird.
Laut der Informationen des Verteidigungsministeriums leiden heute 115 Kinder am Autismus.
„In Wirklichkeit sind es aber weitaus mehr“, vermutet das Gesundheitsministerium.
Im Ministerium selbst konnte man keine Auskunft über die Anzahl der Spezialisten geben, die autistische Kinder behandeln. Dass die Autismus-Spektrum-Störung Bestandteil des Lehrplans in den medizinischen Hochschulen sei, wurde erneut bekräftigt. In welchem Verhältnis dies zum gesamten Lehrplan steht, bleibt jedoch ungewiss.
Zudem bestätigte das Gesundheitsministerium, dass es dem Staat an finanziellen Mitteln fehle, um Experten auf diesem Gebiet auszubilden.
Psychologen und Neurologen wussten entweder nichts von der Existenz dieser Erkrankung oder aber sie waren nicht gewillt, die herrschende Problematik zu kommentieren.
„Immer wieder wurde ich aufgefordert zu gehen“
Das Fehlen der Fachkräfte ruft noch ein anderes Problem hervor: Es gibt keine Schulen für Kinder, die an Autismus leiden. Sie haben nicht die Möglichkeit der Sozialisation mit anderen Kindern.
Omurbek ist 15 Jahre alt und Schüler der Sonderschule Nr. 34 in der Hauptstadt Kirgistans.
„Mein Sohn war fünf Jahre alt, als festgestellt wurde, dass er an Autismus leidet. Seine Sprache war unterentwickelt, weswegen wir uns an einen Logopäden bzw. Neurologen gewandt haben. Wir haben unzählige Ärzte und Krankenhäuser aufgesucht, unserem Sohn wurden Medikamente verschrieben oder gespritzt mit dem Ergebnis, dass unser Sohn nun panische Angst vor Ärzten hat. Erst als er etwa fünf Jahre alt war, hat ein Logopäde begonnen, mit ihm zu arbeiten“, berichtet Nariza, Omurbeks Mutter.
Sie hat drei Kinder. Omurbek ist der älteste von ihnen. Nariza schätzt es als „sehr gut“ ein, wenn sich ein autistisches Kind inmitten von gesunden Kindern aufhält.
„Omurbek spielt nur mit seinen kleinen Brüdern, denn von einem fremden Kind kann man nicht erwarten, dass es auf Anhieb mit ihm zurechtkommt“, erklärt seine Mutter.
Nazira hatte immer den Wunsch, dass Omurbek eine Ausbildung abschließt und sich mit seinen Altersgenossen zurechtfindet. Sie tat ihr Möglichstes und schrieb ihn zuerst in einem Kindergarten ein, dann in einer Schule. Ihr Sohn konnte aber weder im Kindergarten, noch in der Schule lange bleiben.
„Immer wieder musste er gehen. Sie wollten ihn nicht dabehalten. […] Am Ende haben sich so gut wie alle Kindergärten und Schulen gegen ihn entschieden. Meinem Sohn zuliebe habe ich mich entschieden, in einer Grundschule zu unterrichten.“, sagt Nazira.
Nach vielen Versuchen, eine Schule ausfindig zu machen, die gewillt war, Omurbek aufzunehmen, konnte er eine „Sonderklasse“ besuchen. Diese besuchte Omurbek fünf Jahre und wechselte dann in die Sonderschule Nr. 34.
„Seine Hausaufgaben macht er eigenständig. Früher habe ich ihm geholfen. Man hat mich gerügt, ich würde ihm zu viel Aufmerksamkeit schenken. Dieses Jahr erst habe ich wieder begonnen zu arbeiten und bereits jetzt bleibt nur wenig Zeit für Omurbek.“, erzählt Nazira.
Eine spezielle Klasse
Die spezielle Klasse, in der Rabiga unterrichtet wird, ist ein Pilotprojekt der Sonderschule Nr. 34 in Bischkek. Erst 2014 startete dieses Projekt, das durch die Zusammenarbeit des Vereins „Hand in Hand“, der Stiftung „Soros-Kirgistan“ und dem Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen ins Leben gerufen wurde.
Rabigas Mutter Aidai sagt, dass dort momentan nur sechs Kinder unterrichtet würden. Sie fügt hinzu, dass die Arbeit der speziellen Klasse in den ersten Tagen „sehr schwer“ gefallen sei, weil eine Unterrichtsstunde nur 40 Minuten betrage.
„Hier werden zwar auch Kinder mit anderen geistigen Behinderungen geschult, das hat aber trotzdem eine positive Wirkung auf unsere Kinder. […] Ich bin sehr froh darüber, dass unsere Kinder hier die Möglichkeit haben, Anschluss zu anderen Kindern zu finden.“, sagt sie.
Omurbeks Mutter Nazira betont, ihr Sohn würde diese Klasse regelmäßig besuchen und so den Kontakt zu den Kindern aufrechterhalten.
„Der handwerkliche Unterricht fällt Omurbek besonders schwer, da dieser Unterricht nur 45 Minuten dauert. Der Unterricht wird nicht so durchgeführt, wie er es von den anderen Fächern gewohnt ist. Außerdem sind alle Materialien, wie die Maschinen, sehr alt. Viele stammen aus den 50er Jahren. Einige Male wurde er hysterisch, weil er nicht wusste womit er sich hätte beschäftigen können. Die spezielle Klasse stellt eine gute Alternative dazu dar. Immer wenn er in der Schule handwerklichen Unterricht hatte, ist er in diese Klasse gegangen“, so Nazira.
Momentan sind immer zwei Lehrkräfte in einer Unterrichtseinheit eingesetzt. Auch Eltern können während des Unterrichts anwesend sein.
Der Lehrplan ist bisher nur auf ein Schuljahr ausgerichtet, der Vertrag mit der Schule ist jedoch auf drei Jahre befristet. Die zukünftige Planung des Unterrichts in der speziellen Klasse ist daher noch ungewiss.
„Was im nächsten Jahr passieren wird und ob es überhaupt genug Schüler geben wird, um eine erste Klasse zu füllen, wissen wir bislang nicht“, sagt Aidai.
Benazir Ibraimova
Kloop.kg, Bischkek
Aus dem Russischen übersetzt von Olga Zoll
Diese Reportage erschien zuerst beim kirgisischen Internetmagazin kloop.kg. Wir übersetzen Ihn mit der freundlichen Erlaubnis der Redaktion. Alle Fotos wurden mit dem schriftlichen Einverständnis der Eltern veröffentlicht.