Einer Umfrage zufolge spielt jeder fünfte Befragte in Kasachstan mit dem Gedanken, permanent oder vorübergehend ins Ausland zu gehen. Der Begriff „Braindrain“ meint eine hohe Abwanderung von qualifizierten Fachkräften und Verlust von Humankapital; doch erzeugt das Wortbild womöglich mehr Pathos, als er die Wirklichkeit widerspiegelt. Steht dem Land tatsächlich eine Krise im Arbeitsmarkt bevor?
In Zusammenarbeit mit dem Internationalen Journalismus-Netzwerk MediaNet und der Konrad-Adenauer-Stiftung untersucht eine Umfrage die Einstellung der Befragten bezüglich möglicher Auswanderungspläne und -motive.
Den Ergebnissen zufolge würde jeder fünfte Befragte in Betracht ziehen ins Ausland zu gehen, wovon 6,9 Prozent es in den nächsten 2 bis 3 Jahren beabsichtigen, das Land zu verlassen und 5,6 Prozent es aus persönlichen Gründen nicht können. Darunter fallen auch einige wenige, die einen Umzug unter bestimmten Voraussetzungen erwägen würden. In der Gruppe der 30-jährigen Befragten ist der Wunsch nach einem Neuanfang im Ausland besonders groß: Sogar jeder Zehnte gibt an, eine Aussiedlung innerhalb von 2 bis 3 Jahren anzustreben.
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Als vereinsgetragene, unabhängige Plattform lebt Novastan vom Enthusiasmus seiner ehrenamtlichen Mitarbeiter:innen – und von eurer Unterstützung!Die Zahlen schließen auf den ersten Blick auf einen pauschal hohen Auswanderungswillen der Bevölkerung, wobei sich die Zahlen in den einzelnen Altersgruppen unterscheiden. Nicht überraschend tendieren eher jüngere Menschen dazu, ihr Glück im Ausland zu suchen, doch gibt die Umfrage nicht her, ob der Aufenthalt dauerhaft oder kurzweilig bezweckt ist. Eine allgemeingültige Quintessenz der Umfrage lässt sich unter diesen Voraussetzungen nicht finden. Viel eher ist eine auf die einzelnen Bedürfnisse differenziert betrachtete Perspektive angebracht.
Mannigfaltige Motive
Zu den Hauptgründen äußerte ein Viertel der Befragten den Wunsch nach höheren Löhnen, fast gleich viel nennen mangelnde Perspektiven für sich und ihre Kinder im Land und den Wunsch nach einem besseren Arbeitsplatz (14 Prozent). Für junge Menschen seien Motive wie Ausbildungsmöglichkeiten und Selbstentfaltung ausschlaggebend, wohingegen in den mittleren und höheren Altersgruppen deutlich häufiger Unzufriedenheit im eigenen Land ausschlaggebend sind. Nur für 0,6 Prozent der Befragten ist der Wunsch nach der Rückkehr zur „historischen Heimat“ ein Beweggrund.
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Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion kam es zu einer großen Auswanderungswelle aus Kasachstan. Eine 2020 veröffentlichte Statistik verzeichnet allein zwischen 1999 und 2001 einen beachtlichen Bevölkerungsverlust aufgrund hoher Emigrationszahlen (ca. 100.000 Ausgewanderte pro Jahr) und einer vergleichsweise niedrigen natürlichen Bevölkerungsentwicklung (ca. 70.000 Geburten pro Jahr), also der Differenz zwischen der Geburten- und Sterberate. Allein zwischen 2004 und 2011 stieg die Anzahl der Einwanderer nach Kasachstan.
Offizielle Zahlen der Agentur für Statistik der Republik Kasachstan deuten sogar auf einen positiven Trend in den vergangenen Jahren hin; 2024 seien doppelt so viele Menschen nach Kasachstan migriert als es verließen. Der Grund dafür war der Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine, aufgrund dessen viele Menschen aus GUS-Staaten, wie Russland, der Ukraine und Belarus, vor Krieg, Einberufung oder politischer Verfolgung flohen.
Sorgen und Träume der jungen Bevölkerung
Es ist vor allem die jüngere Generation, die sich nach einem Leben im Ausland sehnt. Bildungsinstitutionen im Inland haben einerseits keinen allzu guten Ruf, aufgrund hoher Universitätsgebühren und vermeintlich schlechterer Qualität der Ausbildung. Gleichzeitig locken Universitäten im Ausland mit niedrigeren Kosten, höheren Stipendien und Möglichkeiten der beruflichen Spezialisierung.
Die Frage ist unter den jüngeren Altersgruppen berechtigt: Wie sehen ihre Zukunftspläne konkret aus? Schaut man auf die teilweise marode Infrastruktur Kasachstans und die drohenden Probleme unter anderem in der Wassersicherheit und beim Katastrophenschutz, braucht Kasachstan qualifizierte Fachkräfte mehr denn je, um das Leben der im Durchschnitt sehr jungen Bevölkerung sicher und zukunftsorientiert zu machen.
Kausalität mit Vorsicht zu genießen
Einen drohenden „Braindrain“ sah The Diplomat vergangenen August mit Verweis auf Daten des Nationalen Statistikamts kritisch. Obwohl die absolute Zahl der Auswanderungen steigt, sei dies nicht gleichbedeutend mit dem permanenten Auswanderungswillen einzelner Individuen oder Gruppen im Land. Nimmt man nämlich Studierende und Familien ins Visier, bleibt unklar, ob sie tatsächlich vorhaben, im Ausland zu bleiben.
Es gibt jedoch eine größere Anzahl an Menschen im Land, die mit der aktuellen Situation unzufrieden ist. In Personenportraits und Leserkommentaren, wie sie vor einiger Zeit das Online-Medium The Village aufgeführt hat, wird auf ein korruptes Bildungssystem angespielt. Weiterhin wird sich die Situation auf dem Land und in kleineren Ortschaften aufgrund von Populationsschwund zuspitzen, wie auch in Großstädten wie Almaty oder Astana aufgrund von Überbevölkerung.
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Der Ball liegt bei der Politik. Maßnahmen, um öffentliche Einrichtungen transparent und bevölkerungsorientiert auszurichten, müssen angegangen und das Vertrauen der jungen Menschen Kasachstans wiederhergestellt werden. Andernfalls könnte sich die Anzahl derjenigen, die das Land verlassen möchten oder tatsächlich verlassen, noch weiter zuspitzen. Auf unabsehbare Zeit wird der Ukraine-Krieg enden, sich die Situation in Belarus, der Ukraine und der Russischen Föderation bessern, und die nach Kasachstan eingewanderten Fachkräfte womöglich zurückgehen. Es ist ein Spiel mit der Zeit, das sich die Republik Kasachstan nicht leisten kann.
Das weite Bild sehen: Einordnung und Zusammenfassung
Es ist nicht einfach, eine Antwort nach dem Prinzip „One size fits all“ zu finden. Dementsprechend sind großflächige Gegenmaßnahmen durch die kasachstanische Regierung schwer vorstellbar: Unterschiedliche Gruppen, ob demografisch oder sozioökonomisch getrennt, haben unterschiedliche Bedürfnisse. Zum Beispiel würde eine Reform des Bildungswesens Schülern und Studenten zugutekommen, doch würden etwaige Steuerausgaben anderen Bevölkerungsschichten nur indirekt helfen und womöglich zusätzlich belasten.
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Gleichzeitig macht man es sich womöglich zu einfach, wenn man einzelne Migrationsmotive isoliert voneinander betrachtet und auf ganze Gruppen anwendet. Push- und Pull-Faktoren sind in diesem Zusammenhang für das induktive Verständnis weniger hilfreich, da sie das komplexe Zusammenspiel von gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Faktoren ausblenden.
Die Ursache dafür, dass mehr Menschen das Land verlassen wollen, sind vielschichtig. Die Zahlen lassen sich nicht mit einem Zensus der (Un-)Zufriedenheit der Bevölkerung gleichsetzen. Globalisierungstendenzen und der Ausbau des Mittelstandes sind nur zwei Faktoren, die es Menschen einfacher macht, sich zu informieren und den tatsächlichen Schritt zu wagen, das Land zu verlassen oder vorher Erfahrungen im Ausland zu sammeln.
Anton Genza für Novastan