Startseite      „Wir kennen nur die männliche Seite unserer Familiengeschichte“: Terek Story arbeitet die weibliche Geschichte Kasachstans auf

„Wir kennen nur die männliche Seite unserer Familiengeschichte“: Terek Story arbeitet die weibliche Geschichte Kasachstans auf

„Die Geschichte meiner Vorfahren ist meine Geschichte“. Dies ist der Standpunkt des Teams der Initiative Terek Story, das die Geschichte Kasachstans durch die Geschichten seiner Einwohner:innen beleuchten will. Vlast sprach mit dem Projektteam über einen neuen Blick auf die Vergangenheit, die Ethnografie der Familien und den Wunsch, eine geografische digitale Karte der Familienerinnerungen zu erstellen

Quelle: Terek Story

„Die Geschichte meiner Vorfahren ist meine Geschichte“. Dies ist der Standpunkt des Teams der Initiative Terek Story, das die Geschichte Kasachstans durch die Geschichten seiner Einwohner:innen beleuchten will. Vlast sprach mit dem Projektteam über einen neuen Blick auf die Vergangenheit, die Ethnografie der Familien und den Wunsch, eine geografische digitale Karte der Familienerinnerungen zu erstellen

Terek Story wurde im Mai letzten Jahres mit Aul Inspired und dem Zentrum für politische Lösungen als Partner ins Leben gerufen. Während der dreimonatigen Pilotphase des Projekts wurden 26 Geschichten aus verschiedenen Teilen Kasachstans gesammelt. Das Team besteht nun aus 11 Personen. Während der Pilotphase wurden Workshops abgehalten und mehrere Podcast-Episoden zum Thema Familienethnographie produziert.

„Seit meiner Kindheit interessiere ich mich für Geschichte, weshalb ich das Fach auch an der Universität studiert habe. Viele Menschen denken, dass Geschichte eintönig und langweilig ist und keinen Einfluss auf uns hat. Aber in Wirklichkeit ist die Geschichte unsere Vergangenheit, die Vergangenheit unserer Familie“, sagt Gulnaz Tulenova, die Projektleiterin.

Terek Story sammelt Geschichten auf zwei Arten: Es gibt eine Instagram-Seite, auf der jeder die Geschichte seiner Familie teilen kann, indem er das Projektteam kontaktiert. Man kann dort auch selbst einen Beitrag in den sozialen Medien verfassen und einen speziellen Hashtag hinzufügen. Die Projektseite enthält Leitfragen wie: „Bist du gerne zur Schule gegangen?“, „Hattest du Geheimnisse vor deinen Eltern?“, „Wie war deine Kindheit?“, „Wann und wo hast du deine erste Liebe kennengelernt?“ und so weiter. Die zweite Möglichkeit, Geschichten zu sammeln, sind Live-Interviews.

Identitätsfindung durch das Studium der sieben Familienstämme

Tulenova zeichnet derzeit die Geschichte ihrer Großmutter mütterlicherseits auf, da sie andere Verwandte der älteren Generation nicht erreicht hat. Sie glaubt, dass dies dazu beitragen wird, die Geschichte aus einer neuen Perspektive zu betrachten. „Meine Großmutter wurde zum Beispiel während des Ascharschylyk (Hungersnot, Anm. d. Red.) mit zwei Kindern allein gelassen, aber trotz der Schwierigkeiten kehrte sie zu ihren Verwandten zurück. Der Ascharschylyk hatte direkte Auswirkungen auf meine Familie. Vor nicht allzu langer Zeit erfuhren wir, dass mein Urgroßvater während der Schlacht von Anrakai (Dezember 1729  – Januar 1730, Anm. d. Red.) nach Taraz gezogen war. Jetzt ist die Schlacht von Anrakai für mich kein entferntes Ereignis mehr, sondern eine Geschichte, die meine Familie betrifft“, sagte sie.  

Tulenova meint, dass die Geschichte Kasachstans stark verzerrt ist und viele Lücken aufweist. Sie möchte, dass Terek Story eine Plattform ist, auf der die Menschen ihre Version der Geschichte erzählen können. „Es gibt so viele unterrepräsentierte Teile der Geschichte. Schließlich hat jede Familie, jedes Familienmitglied seine eigene Stimme, Meinung und Geschichte“, sagt sie.

Sie ist der Auffassung, dass die Kenntnis der Geschichte der eigenen Vorfahren viele Fragen zur Identität beantworten kann: „Einige ältere Familienmitglieder leben auf dem Land, während ihre Kinder und Enkel in der Stadt leben. Dann fangen sie an, sich die Frage zu stellen: ‚Wer bin ich?‘ Und die Antwort findet man im Prozess des Nachdenkens, genauer gesagt, im Studium der sieben Familienstämme“

Erzählte Familiengeschichten

„Ich wurde von meiner Oma aufgezogen“, so beginnt Jandos Aktaevs Geschichte über seine Großmutter Yrysaldy. Ihr Name bedeutet „Vorbote des Glücks“ auf Kasachisch. Sie wurde 1926 im Dorf Schieli in der Region Qostanai geboren. Sie überlebte Hungersnot, Krieg, den Zusammenbruch der Sowjetunion und die Unabhängigkeit des Landes.

„Die Bedingungen, unter denen sie aufwuchs, förderten in ihr die Toleranz gegenüber anderen. Damals kämpften alle ethnischen Gruppen gemeinsam gegen den Hunger und unterstützten sich gegenseitig, das brachte alle zusammen“. Er beschrieb, wie seine Großmutter nicht nur kasachische Nationalgerichte, sondern auch kaukasische (tschetschenische) Galuschki, Kholodets und andere Gerichte kochte.

Wegen des Krieges erhielt Yrysaldy keine Schulbildung, aber sie unterstützte stets das Streben ihrer Kinder und Enkel danach.

„Meine Oma sagte immer, dass nur ehrliche Arbeit und familiäre Werte uns stärker und glücklicher machen können. Sie ist im Februar 2023 im Alter von 97 Jahren von uns gegangen. Obwohl sie nicht mehr unter uns weilt, wird die Weisheit, die sie uns vermittelt hat, immer in meinem Herzen weiterleben. Wir werden sie als eine starke und freundliche Frau in Erinnerung behalten, die die besten Eigenschaften der kasachischen Kultur und Traditionen verkörperte“, meint Aktaev.

In einer anderen Geschichte, die das Team von Terek Story gesammelt hat, erinnert sich der 1942 während des Zweiten Weltkriegs geborene Ryskeldi Jaqaschūly an seine Jugend und daran, wie seine Eltern zwei Töchter und vier Jungen großzogen. Sie lebten im Dorf Taldy, dann im Dorf Boleksaz, Bezirk Kegen, Region Almaty. Als sein Vater Jaqasch an die Front geschickt wurde, war seine Mutter Abzel schwanger. Daher erhielt der Sohn den Namen Ryskeldi „yrys keldi“, was auf Kasachisch „Erfolg“ bedeutet. Sein Vater kehrte jedoch nie aus dem Krieg zurück. Seine Mutter Abzel arbeitete anschließend als Melkerin auf dem staatlichen Bauernhof.

Von Kindheit an interessierte sich Ryskeldi Jaqaschūly für das Tischlerhandwerk. Er begann mit dem Basteln von alten Brettern in der Scheune, und in fortgeschrittenem Alter schuf er Gegenstände, die für das tägliche Leben notwendig waren.

Ryskeldi erzählt, dass er schon in jungen Jahren zu arbeiten begann, aber trotzdem Zeit für verschiedene Spiele fand. Die Kinder nahmen zum Beispiel einen Stein, wickelten ihn in Kuhfell und formten so einen Ball. „Und wenn es im Dorf einen Feiertag gab, dann durfte der Aıtysch-Wettbewerb nicht fehlen. Der Filz der Jurte wurde in eine Bühne verwandelt. Auch damals spielten die jungen Leute das Spiel Aksuiek (mit Kuhknochen, Anm. d. Red.)“.

Nachdem er eine vierjährige Schule in Taldy besucht hatte, setzte er seine Ausbildung im Kegen fort. Und nach der 8. Klasse lernte er im Dorf Zhalagasсh den Beruf des Kraftfahrers. Anschließend diente er in Wladiwostok in der Turbinenbranche.

„Eines Tages begaben wir uns mit einer Mannschaft auf eine lange Reise in den Pazifik, um verschiedene Aufgaben zu erfüllen. Wir überquerten den Äquator und gelangen am Ufer in Indonesien“, erzählt Jaqaschūly. Nach der Demobilisierung arbeitete er als Bergarbeiter in einem Bergwerk im Dorf Tūıyq. Dort wurden Zink und Blei abgebaut und zur Weiterverarbeitung in der Stadt Tekeli in die Blei-Zink-Anlage geschickt. Danach arbeitete er als Kranführer und heiratete.

Weibliche Perspektive auf Geschichte und Dekolonialität

Die Projektleiterin Tulenova ist der Meinung, dass die Schezhire, eine Ahnentafel der Generationen, über Männer aus der Perspektive von Angehörigen des gleichen Geschlechts geschrieben wird. Frauen kämen darin nicht vor: „Wir sollten die Verdienste der Frauen nicht ausklammern“.

Elmira Kakabaeva, Schriftstellerin und Autorin des [russischsprachigen, Anm. d. Red.] Online-Kurses Familienethnographie oder wie man sein Schreiben entkolonialisiert, die die Initiativgruppe des Projekts berätteilt diese Ansicht. Mit einer weiblichen Perspektive, sagt sie, wird es möglich sein, mehr über die weibliche Seite der Geschichte zu erfahren. 

„Mir wurde immer gesagt, dass ich die sieben Stämme meiner Familie kennen sollte. Dann wurde mir klar, dass wir nur die männliche Seite unserer Familiengeschichte kennen. Aber Frauen leben dieses Leben genauso, und sie haben oft sogar ein komplizierteres Leben“, so die Schriftstellerin.

Ihrer Meinung nach ist die Welt der Frauen in manchen Kulturen verschlossener. Wenn sich beispielsweise Anthropolog:innen für eine Forschungstätigkeit entscheiden, steht ihnen die weibliche Welt mehr offen als den Männern. Deshalb bietet Kakabaeva einen Kurs nur für Frauen an, in dem sie über ihre Großmütter sprechen und nachdenken können.

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Tulenova ist der Meinung, dass Frauen die Träger:innen von Geschichten sind – sie lesen ihren Kindern und Enkeln Geschichten vor, und wenn diese heranwachsen, erzählen sie die Neuigkeiten, die in ihrem Stammbaum geschehen sind. Deshalb sei es wichtig, den weiblichen Teil der Geschichte zu zeigen. „In unserem Projekt Terek Story wurden viele Geschichten von Frauen übernommen. Das sollte die Norm sein“.

Kakabaeva begann nach dem Einmarsch Russlands in die Ukraine, über Familiengeschichte nachzudenken. Daraufhin begann sie wieder, einen Text zu schreiben, in dem sie über ihre Verbindung zu ihren Vorfahren nachdenkt. Das war der Beginn ihres Schreibkurses „Ich begann zu reflektieren und erkannte, dass meine Vorfahren ein sehr erfülltes Leben führten. Das 20. Jahrhundert hatte gerade begonnen, eine Zeit großer Veränderungen. Und plötzlich wurde mir klar, dass ihr Leben mein Geschichtslehrbuch ist. Alles, was wir in der Schule gelernt haben, ist an uns vorbeigeflogen. Wir haben einige Daten auswendig gelernt, um unsere Prüfungen zu bestehen. Aber nach einer Weile vergisst man alles. Und dann schaut man sich das Leben seiner Verwandten, seiner Großeltern an, die dieses Leben gelebt haben, und plötzlich wird es so greifbar, dass man wirklich ein Produkt dieses historischen Prozesses wird“, sagte sie.

„Ein Archiv mündlicher Überlieferungen ist für die Wissenschaft stets von Nutzen“

Kakabaeva glaubt, dass man etwas Neues lernen kann, wenn man sich mit der Geschichte einer Familie beschäftigt. Und das wiederum führt zum Begriff der Dekolonialität. „Man kann herausfinden, warum das Leben so und nicht anders verlaufen ist. Das Interessanteste ist, dass wir die Lebensentscheidungen unserer Vorfahren verstehen können“, meint sie. Bei der Dekolonialität geht es auch darum, etwas zu kritisieren, das in einem festgefahrenen Konstrukt existiert, um ihm Einhalt zu gebieten.

Kakabaeva ist überzeugt, dass das Projekt zur Bewahrung der Erinnerungen beitragen wird. „In Kirgistan gibt es zum Beispiel das Esimde-Projekt, bei dem ein Team von Forscher:innen mündliche Überlieferungen zu verschiedenen historischen Themen sammelt. Sie reisen in Dörfer, Städte und Gemeinden und führen dort Interviews durch. Ein Archiv mündlicher Überlieferungen ist für die Wissenschaft stets von Nutzen“, so die Schriftstellerin.

Die Projektleiterin Gulnaz Tulenova wiederum stellt fest, dass Terek Story in die gleiche Richtung geht. Sobald genügend Geschichten gesammelt sind, werden sie nach Jahr und Inhalt in Gruppen eingeteilt. „Dann können wir Forscher:innen ansprechen, die in Zukunft Materialien nach Themen finden und dann Analysen für ihre eigene Forschung durchführen können“.

Das Projekt wird auf Kasachisch durchgeführt, und die Geschichten werden anschließend ins Russische und Englische übersetzt.

Förderung der Kommunikation zwischen Generationen

Das Wort „Terek“ bedeutet auf Kasachisch „Pappel“. Aliia Şaıhina, Koordinatorin des Sozialprojekts Aul Inspired, hatte die Idee für den Namen des Projekts. Laut Tulenova wird dieser Baum in Dörfer in einer Reihe gepflanzt, manchmal anstelle eines Zauns. „Mein Großvater hat seinen Kindern einmal ein paar Nachbarhäuser gekauft. Ihre Häuser sind mit Pappeln umzäunt. ‚Terek‘ bedeutet eigentlich Umfriedung, Familienbaum“, erklärt sie.

Das Hauptziel von Terek Story ist es, so Tulenova, die Kommunikation zwischen Generationen zu fördern, was letztendlich dazu beitragen soll, unerzählten Geschichten eine Stimme zu geben.

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Seit Dezember 2023 hat eine neue Phase des Projekts begonnen – das Team wird nun Geschichten aus verschiedenen Regionen sammeln. Sie konzentrieren sich jetzt auf Städte im Norden Kasachstans und wollen direkt mit den Erzähler:innen sprechen. Ziel ist es, bis Mai etwa 50 Geschichten zu sammeln. Terek Story plant, aus den gesammelten Geschichten eine geografische digitale Karte zu erstellen. Nach dem Norden Kasachstans wollen sie auch die südlichen Regionen des Landes besuchen.

Tulenova merkt an, dass das Projekt nicht nur Geschichten von Kasach:innen, sondern auch von anderen im Land lebenden Menschen unterschiedlicher Herkunft erfassen will. „In der Pilotversion gab es jeweils Geschichten von einer uigurischen, einer deutschen und einer russischen Großmutter. Wir wollen die Geschichte von ganz Kasachstan erzählen. Unser Land ist multikulturell“.

Die im Rahmen des Pilotprojekts gesammelten Geschichten wurden in einer begrenzten Auflage veröffentlicht und den Erzählerfamilien überreicht. Laut Tulenova waren diese Familien sehr stolz darauf, ein solches Erbe in gedruckter Form zu haben. Jetzt sind alle diese Geschichten elektronisch auf der Website des Zentrums für politische Lösungen gespeichert. Das Projekt plant für die Zukunft eine eigene Website, auf der alle Geschichten sowie Podcasts und Workshops, die derzeit durchgeführt werden, zusammengestellt werden.

Akbota Uzbekbaı für Vlast

Aus dem Russischen von Irina Radu

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