Die kasachstanische Kultur verbirgt einige Besonderheiten. Doch woher stammen Gewohnheiten, die seit Generationen gepflegt werden? Endlich erfahren wir, warum man sich in Kasachstan sich gewöhnlich verspätet und weshalb wir Geländewagen als ein kulturelles Phänomen behandelt sollten. Die Turkologin Aıman Kodar hat zu diesem Theman geforscht und mit Caravan.kz über ihre Ergebnisse gesprochen. Wir übersetzen den Artikel mit freundlicher Genehmigung der Redaktion.
Der Wissenschaftler Geert Hofstede hat Kriterien für kulturelle Merkmale entwickelt. Es gibt mehrere Ebenen. Die erste ist die offensichtliche Ebene. In Kasachstan, wenn wir den Flughafen verlassen, fällt sie sofort ins Auge … eine große Anzahl an Jeeps. Als ich in der Türkei studiert habe, habe ich gesehen, dass sie hauptsächlich Kleinwagen verwenden, die in vielen Ländern der Welt beliebt sind. Mir war vorher nicht klar, dass dies Teil unserer Kultur ist. Unser Land ist ein erdölproduzierendes Land, Benzin ist preiswert – es ist möglich, Jeeps zu haben. Nicht jedes Land kann sich das leisten.
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Das zweite Kriterium für Hofstede sind Regeln und Vorschriften. Wir sprechen über unser großes kasachisches Uyat, das bereits in den heidnischen Zeiten zu einer Parabel geworden ist.
Was ist eigentlich die Norm? Es ist das, was in der Gesellschaft akzeptiert wird. Wenn Sie etwas nicht tun – werden Sie gescholten, verspottet oder Ihr Verhalten wird mit Sicherheit korrigiert. Wenn es in Amsterdam eine Norm gibt, gibt es bei uns eine andere – diese wird von jeder Kultur selbst festgelegt. Wenn das nicht geschieht, verliert die Kultur ihre Identität und sie bleibt ohne ihr eigenes Erscheinungsbild.
Drei magische Worte
Als ich einmal eine Vorlesung an der Al-Farabi-Universität in Almaty hielt, sagte eine Hörerin (und ich stimme ihr zu), wir hätten drei Komponenten unserer kasachischen Erziehung: Die erste ist Uyat, die zweite ist Obal und die dritte ist Sauap.
Uyat ist, wie Sie wissen, die Scham. Unter Obal verstehen wir eine vergeudete Ressource. Und schließlich Sauap – die Überzeugung, dass Sie, wenn Sie jemandem Gutes getan haben, auf jeden Fall Anerkennung dafür bekommen werden. Das sind drei magischen Worte für die Erziehung von Kindern. Sie sind ein Indikator für unsere Mentalität. Die Kasachen sind ein Volk, das den Preis des Gewissens kennt, das versucht, die Ressourcen weise zu verteilen und das seinen Lebensunterhalt mit Karma verdient.
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Ein weiteres Zeichen für die Manifestierung von Kultur ist die Kontextualität. Es gibt Völker, denen der Kontext wichtig ist, das heißt sie müssen viele Worte benutzen.
Die Japaner sind die kontextuellsten Menschen, sie werden nie Nein zu Ihnen sagen, auch wenn sie nicht einverstanden sind. Die Russen sprechen beispielsweise eindeutig und konkret über einen Fall. Auch ist jede Nation mehr oder weniger offen gegenüber der anderen. Vergleicht man die Kasachen und die Japaner, so stellt sich heraus, dass letztere eine eher östliche Nation sind. Wir sind im Vergleich zu ihnen eher direkt, aber wenn wir uns mit den Deutschen vergleichen, erscheinen wir taktvoller als sie.
Das Recht, zu spät zu kommen
Ein weiterer wichtiger Punkt, der durch die Kultur erfasst wird, ist die Einstellung zum Raum oder zur Territorialität. Wenn ein Mensch eine hohe Territorialität hat, hält er seine Grenzen ein und lässt niemanden in seine Nähe. Bei uns Kasachen kann man etwa von einer niedrigen Territorialität sprechen. Die Straßen der Seidenstraße führten durch unser Land, unser Lebensraum war immer offen, die Steppe ausgedehnt. Wir selbst mussten uns im Raum aufteilen.
Warum kommt ein Kasache oder eine Kasachin zu spät? Für ihn oder sie ist der Raum wichtiger als die Zeit – der Raum dominiert. Der Übergang zum Jailau (dt. Alm – Weideland, auf welchem die kasachischen Nomaden im Sommer ihr Vieh halten – Anm. d. Red.), der sogenannte Kokteu (also die Umsiedlung im Frühling – Anm. d Red.) fand zu einer bestimmten Zeit statt. Diese nahmen die Menschen aber gar nicht wahr, da sie so sehr mit der Natur verschmolzen lebten.
Die Zeit liegt bei uns in einem unbewussten Kanal
So kommt dies einfach aus unserer historischen Lebensweise: Auch wenn wir nicht mehr reiten, nicht in Jurten leben, hat sich alles zu einem großen Simulakrum (vom lateinischen simulacrum – „Bild“ von „so tun als ob, vortäuschen“) und einer angenehmen Erinnerung entwickelt, aber die Mentalität bleibt. Und in dieser Mentalität haben wir immer noch dieselbe Einstellung zur Zeit. Die Zeit liegt bei uns in einem unbewussten Kanal, und wir machen uns keine Gedanken darüber, weil sie keinen Wert besitzt. Es gibt Völker, für die sie ein Wert ist: Sie müssen immer pünktlich sein. Die eigene Kultur fühlt man dann besonders stark, wenn man einer anderen begegnet. So kann es sein, dass die eine Person (aus einer anderen Kultur) nicht versteht, dass die andere (kasachische) Person zum Beispiel das Recht hat, sich zu verspäten.
Bei uns kann man sich verspäten und sich entschuldigen, und jeder wird das verstehen. Kürzlich ist ein kostenpflichtiger Parkplatz aufgetaucht. Erinnern Sie sich, wie die Leute sich aufregten? Für sie schien es lächerlich, für Zeit zu bezahlen.
Ich habe noch einen weiteren interessanten Zusammenhang festgestellt: Landwirtschaft-treibende Völker entwickeln raumbezogene Künste, während unsere Nomaden temporäre Künste wie Musik, Wort bevorzugen.
Männlich gegen weiblich
Für manche Menschen ist das vielleicht nicht ganz offensichtlich, aber wir leben in einer männlichen Gesellschaft, in der Erfolg, Reichtum, Macht und natürlich auch Angeberei wichtig sind. Aber glauben Sie mir, es kann auch anders sein.
In weiblichen Gesellschaften ist Komfort wichtig und es wird Wert darauf gelegt, wie sehr man sich als Person verwirklicht. Dort ist jeder Mensch einzigartig, individuell, und man muss ihn so schätzen, wie er geboren wurde, mit all seinen Fähigkeiten und Eigenschaften.
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Bei uns geht es eher ums Geld
Die Türkei zum Beispiel ist eine weibliche Gesellschaft – bei ihnen ist der Service, das Restaurant- und Hotelgewerbe gut entwickelt. Bei uns geht es viel eher um Status, um Geld, der Komfort eines Menschen hingegen ist nicht wichtig, solange es ihm gut geht.
Schwäche wird nicht gefördert, ebenso wenig wie der Ausdruck von Gefühlen in der Öffentlichkeit. In Männergesellschaften dominiert der Wettbewerb, und oft werden Konflikte durch Skandale gelöst, während weibliche Gesellschaften immer versuchen, die Wogen zu glätten.
Kollektivistisches Denken
Zu unseren kulturellen Eigenheiten gehört auch ein starkes kollektives Denken. Die Wurzeln dieses Phänomens sind erneut in der Steppe zu finden.
Wie mein Vater, der Schriftsteller und Philosoph Aýezhan Kodar, schrieb, ist „die Steppe […] die Vorherrschaft des Raums über den Punkt“. In der Steppe kann man alleine nicht überleben.“
Gatschew bemerkte auch, dass es unmöglich ist, sich in der Nähe der Jurte in einem Zelt niederzulassen. Du bist entweder unser Gast, und wir lassen dich als Einheimischen herein oder du bist unser Feind, der in der Steppe vor der Jurte zum Sterben zurückgelassen wurde.
Daher kommt auch dieser Kollektivismus, der uns gemein ist. Wir haben uns diesen Raum nicht angeeignet. Er ist unser gemeinsamer, wir lassen einander nicht im Stich. Was für uns zählt, ist die Meinung der Gruppe. Wir werden nicht ermutigt, wenn jemand aus dem Muster herausfällt – jeder erfüllt eindeutig seine Funktion, dann funktioniert das Muster. Diese Struktur wurde von den Turkvölkern des Altertums gebildet – jetzt können wir zu anderen mentalen Konstruktionen übergehen, aber die Menschen geben sie von Generation zu Generation weiter. Es scheint ihnen richtig zu sein, weil das schon immer so war. Wie viele kasachische schwarze Schafe ich auch sehe, die Gesellschaft macht sich in der Regel nichts aus ihnen.
Das Prinzip des Überlebens
Gesellschaften können vertikal und horizontal sein. Wir können zum Beispiel nicht zu einem Beamten gehen und von ihm etwas fordern, wie in Amerika, wo die Gesellschaft horizontal und flach ist und der Chef den anderen zuhört.
Im Allgemeinen ist das Prinzip der Hierarchie in östlicheren Gesellschaften sehr stark ausgeprägt, zumindest in der arabischen, chinesischen, japanischen und türkischen Welt. Aber mit der Existenz der Hierarchie besteht das Problem, dass die unteren Schichten die oberen nicht erreichen können, es gibt keine Kommunikation. Wenn die Gesellschaft flach ist, kann man dort alles sehen. Und mit einer vertikalen Struktur können die oben Genannten nicht sehen, was da unten vor sich geht, es ist wie ein taubes Telefon.
Warum haben wir eine positive und respektvolle Haltung gegenüber der Hierarchie? Es war ein Überlebensprinzip: Wenn wir in der Vergangenheit keinen starken Führer hatten, dem die Menschen folgen würden, würden sie in der Steppe nicht überleben.
Die eigene Kultur im Prozess der Globalisierung nicht verlieren
Heute befindet sich unsere Gesellschaft im Prozess der Globalisierung. Ihr Bild wird sich ein wenig ändern, aber die Hauptsache ist, dass wir uns in diesem Prozess nicht wieder verlieren. Wir müssen uns der Dinge, die uns regieren, bewusst sein, um ihr Erbe neu zu überdenken. Wir können flexibler sein, um mit der Modernität Schritt zu halten. Ich unterstütze dies sehr, deshalb habe ich mich mit der Zeitschrift meines Vaters – «Tamyr» – beschäftigt. Ich habe verstanden, dass seine Hauptbotschaft darin besteht, den anderen zu hören und zu verstehen, diesem anderen das Recht auf Existenz zu geben, tolerant zu sein, und einen Dialog aufzubauen.
Ja, wir möchten gerne hell leuchten, aber es gibt eben auch bescheidene Gesellschaften. Worin ihr Wesen besteht und wie sie ihre Existenz ist sehr interessant.
Ich bin dafür, dass Menschen unterschiedlicher Kulturen sich verstehen und aneinander zuhören. Ich hoffe, dass unsere Zeitschrift und der intellektuelle Club meines Vaters zum internationalen Dialog beitragen können.
Das Gespräch mit Aıman Kodar führte Marina Hegaı, Redakteurin für Caravan.kz
Aus dem Russischen von Hannah Riedler
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