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Warum haben sich Frauen aus Zentralasien verschiedenen religiös-terroristischen Gruppen angeschlossen?

In den letzten Jahren haben sich weltweit Frauen dem sogenannten „Islamischen Staat“ und anderen religiös-terroristischen Gruppen angeschlossen. Auch Zentralasien ist diesbezüglich keine Ausnahme. Doch was bewegt Frauen und Mädchen zur Ausreise in Kriegsgebiete? Novastan hat mit drei ExpertInnen über dieses Thema gesprochen.

In den letzten Jahren haben sich weltweit Frauen dem sogenannten „Islamischen Staat“ und anderen religiös-terroristischen Gruppen angeschlossen. Auch Zentralasien ist diesbezüglich keine Ausnahme. Doch was bewegt Frauen und Mädchen zur Ausreise in Kriegsgebiete? Novastan hat mit drei ExpertInnen über dieses Thema gesprochen.

Vom 22. Februar bis 24. März fand die 46. Session des UN-Menschenrechtsrates in Genf statt. Während ihrer Rede nahm Fionnuala Ní Aoláin, die Sonderberichterstatterin zur Förderung und zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten bei der Bekämpfung des Terrorismus, Bezug auf die Lage der Frauen nach der Niederlage des sogenannten „Islamischen Staates“ (IS). Sie lobte die Regierungen von Kasachstan, Usbekistan, Tadschikistan und Russland, weil diese ihre BürgerInnen aus Syrien und dem Irak zurück in die Heimat repatriiert haben. Gleichzeitig zog sie viele Beispiele in Betracht, in denen ganze Familien von der Seite der Antiterror-Behörden bestraft wurden. Kinder, die während der Herrschaft des IS geboren wurden, haben keine Dokumente erhalten oder sie wurden ihren Müttern weggenommen und in Waisenhäuser gebracht.

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In diesem Hinblick ist es wichtig zu verstehen, warum Frauen und Mädchen teilweise sogar mit ihren Kindern in Kriegsgebiete gereist sind und sich terroristischen Organisationen angeschlossen haben. Novastan hat zu diesem Thema mit renommierten ExpertInnen aus Kasachstan, Kirgistan und Tadschikistan gesprochen.

Die Suche nach dem Lebensunterhalt

Rustam Azizi, stellvertretender Direktor des Zentrums für Islamforschungen beim Präsidenten der Republik Tadschikistan, sieht ein Grundmotiv in der Familienzusammenführung: „Diese Frauen haben eine orientalische Mentalität und sie leben in einer traditionellen Gesellschaft, in der Frau ihrem Mann immer folgen soll. Aus der verfügbaren Statistik können wir sagen, mehr als 90 Prozent der ausgereisten Frauen ihren männlichen Verwandten gefolgt sind.“  

Rustam Azizi

Sie folgen ihren Ehemännern nicht nur aus Liebe, sondern viel öfter wegen der Notwendigkeit sich selbst und ihre Kinder ernähren zu können. Tatsächlich gibt es in Zentralasien keinen ausgeprägten Sozialstaat, die finanzielle Unterstützung von der Regierung ist eher symbolisch und reicht nicht den Lebensunterhalt dauerhaft zu sichern.

Nurgul Esenamanowa ist Dozentin an der Kirgisischen Staatlichen Akademie für Jura. Ihr Forschungsschwerpunkt liegt auf religiösen ExtremistInnen und TerroristInnen im Strafvollzugssystem. Anhand von konkreten Beispielen beleuchtet Esenamanowa wesentliche Aspekte der Motivation von vielen weiblichen Personen: Eine Frau aus der Stadt Osch hat große Probleme in der Familie erlebt. Ihr Ehemann ist nach Russland als Gastarbeiter migriert, wo er später erneut geheiratet hat. In dieser Situation musste sie mit ihrer Schwiegermutter wohnen. Die Beziehungen zwischen beiden waren ohnehin immer schwer. Einerseits war diese Frau im starken Stress, denn ihr Ehemann hat eine andere Frau gefunden. Andererseits konnte sie diese Familie auch nicht verlassen, sie sollte weiter mit ihrer Schwiegermutter wohnen, weil die einheimische Gesellschaft Scheidungen nicht akzeptiert.

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Außerdem hatte sie keine ausreichende Ausbildung, um Arbeit zu finden und ihre drei oder vier Kinder ernähren zu können. […] Sie versuchte weiter in dieser Familie zu bleiben. Aber eines Tages ist sie mit ihren Kindern zum Flughafen gefahren, um ins Gebiet der terroristischen Organisationen zu reisen. Sie wurde festgenommen. Sie war sicher, dass im „Kalifat“ Kinder kostenlose Windeln und Mütter ausreichende finanzielle Unterstützung bekommen. Daher können wir sagen, sie hat materielle Hilfe und psychologischen und physischen Schutz in der religiös-terroristischen Organisation gesucht, erklärt die Expertin.  

Psychische Stigmatisierung in der traditionellen Gesellschaft spielt neben den materiellen Faktoren eine der wichtigsten Rollen bei der Entscheidung ins Kampfgebiet auszureisen. Je traditioneller die Gesellschaft ist, desto höher ist das Risiko, dass Frauen wegen Scheidungen stigmatisiert werden. In diesem Fall entscheiden sich viele diese Gesellschaft zu verlassen und irgendwo anders ihr Glück zu suchen, unter anderem auch in terroristischen Organisationen im Ausland.

Opfer von Betrug

Rustam Azizi zeigt, dass viele Männer und Frauen betrogen wurden und gegen den eigenen Willen nach Syrien und in den Irak geraten sind. Sie waren als ArbeitsmigrantenInnen in Russland oft mit den Arbeitsbedienungen und dem Lohn nicht zufrieden. Wenn sie ein Angebot bekamen, in der Türkei zu arbeiten und mehr zu verdienen, waren viele einverstanden und erst am Ziel begriffen sie, dass sie schon in Syrien oder im Irak waren. Sie waren Opfer von MenschenhändlerInnen geworden.

Tatiana Dronzina, die seit den 1980er das Phänomen des Frauenterrorismus erforscht, hat mehrere Fachbücher veröffentlicht und Feldforschungen in Zentralasien durchgeführt. Sie berichtet, dass Frauen und Mädchen sich Terrorgruppen anschlossen, um eine Familie zu gründen. „Viele Frauen, die in ihren Gesellschaften schon als „alte Jungfern“ galten, strebten nach der Gründung einer Familie und nach Kindern. Nebenbei bezieht das sich nicht nur auf Frauen, sondern auch auf junge Mädchen, die im Internet eine Liebesromanze begonnen haben. Leider war das für viele von ihnen eine Tragödie“, berichtet Dronzina.

Tatiana Dronzina

Nach Meinung der Wissenschaftlerin spielt auch das Streben nach neuen Erlebnissen eine Rolle. Der Wunsch etwas Neues und Interessantes zu erleben. In Kasachstan und Kirgistan stammen viele Frauen, die nach zum IS ausgereist sind, aus depressiven Regionen, wo das Leben so abwechslungslos und armselig ist, dass der Mensch wirklich etwas Interessantes erleben will, meint die Expertin.

Was die Rollen von Frauen in religiös-terroristischen Organisationen angeht, sind alle drei ExpertenInnen einig, dass sie keine Chancen haben, in diesen Gruppen irgendwelche führende Positionen zu bekommen. Frauen führen den Haushalt und erziehen die Kinder. Wenn der Ehemann im Kampf getötet wird, wird die Frau gezwungen, erneut zu heiraten, was den religiösen Normen natürlich widerspricht.

Esenamanowa bemerkte aber, dass im Gegenzug zu den gewaltbereiten Terrorgruppen Frauen in gewaltlosen religiös-extremistischen Gruppen wie Hizb ut-Tahrir oder Jakyn Inkar führende Positionen einnehmen. Sie sind zum Beispielen Lehrerinnen in Frauengruppen oder leiten deren regionalen Strukturen.  

Deradikalisierung

Rustam Azizi fügt hinzu, dass Frauen sich sehr effektiv in der propagandistischen Arbeit der religiös-terroristischen Organisationen gezeigt haben. „Frauen werden heutzutage sehr aktiv in der Propaganda-Arbeit benutzt, besonders in Bezug auf den Emotionsfaktor. Wenn eine Frau in der traditionellen Gesellschaft an die Männer eine Forderung mit dem ungefähr folgenden Inhalt richtet „Wir Frauen brauchen euren Schutz, schützt unsere Ehre“, hat das einen sehr starken Effekt“, erklärt der Forscher. Laut Azizi wurden wenige Frauen als Kämpferinnen trainiert. Solche Fälle sind eher Ausnahmen und spiegeln die Gesamtsituation nicht wider.

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Die Frage nach der Deradikalisierung der zurückgekehrten Frauen und deren Kinder ist nicht eindeutig.  Azizi sieht in solchen Frauen kein großes Potenzial zur Verbreitung von extremistisch-terroristischen Ideologien. „Über ihre Radikalisierung muss man auch nicht reden, denn die Mehrheit der Rückkehrerinnen wurde amnestiert. Während der Interviews mit ihnen haben wir gemerkt, dass sie keine radikale Denkweise und kein radikales Benehmen zeigen. Diese Frauen haben eine gewöhnliche, traditionelle Denkart, sie verfügen über das durchschnittliche Bildungsniveau. Solche Personen bilden die absolute Mehrheit“, meint der Wissenschaftler.

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Tatiana Dronzina betrachtet die Situation skeptischer. „Wie kann man Frauen, die selbständig zurückgekommen sind oder durch die humanitär-diplomatische Operation „Dschusan“ aus dem Irak und aus Syrien in ihrer Heimat zurückgekehrt sind, entradikalisieren und in die Gesellschaft reintegrieren? Die Ergebnisse dieses Prozesses sind nicht völlig eindeutig. Wenn es heute eine positive Prognose gibt, bedeutet das nicht, dass das auch in Zukunft so sein wird“, schließt die Expertin.

Roman Weizel

Autor für Novastan

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