Seit 2017 arbeitet Kasachstan am Übergang vom kyrillischen zum lateinischen Alphabet, da letzteres als besser geeignet für die kasachische Sprache gilt. Nach mehreren Fehlschlägen und Kritik hat sich die Regierung nun aber entschieden, das Tempo in dieser komplexen Angelegenheit zu verlangsamen.
Bei den Olympischen Winterspielen 2022 haben Kasachstans Athlet:innen auf ihrer Kleidung erstmals den Namen ihres Landes in seiner neuen lateinischen Schreibweise getragen. Das Nationale Olympische Komitee des Landes hatte im Januar diese Änderung angekündigt und so liefen in Peking die olympische Athlet:innen in Kleidung mit der Aufschrift „Qazaqstan“ auf. Diese Aktion verdeutlicht den Willen des Landes, vom kyrillischen zum lateinischen Alphabet zu wechseln.
Die Frage ist jedoch komplex: Es geht darum, die Schrift eines ganzen Landes mit 19 Millionen Einwohner:innen zu ändern. Darüber hinaus ist Kasachstan offiziell zweisprachig, mit Kasachisch und Russisch als Amtssprachen. Bis 2031 sollen alle Schulbücher, offiziellen Dokumente und Straßenschilder im Land in lateinischer Schrift umgeschrieben werden – sechs Jahre später als das ursprünglich geplante Umstellungsdatum 2025.
Die Notwendigkeit einer eingehenden Analyse
Ein solches sprachliches Manöver erfordere jedoch mehr Analyse als nur die Erstellung entsprechender Buchstaben, wie Kasachstans Präsident Qasym-Jomart Toqaev laut The Astana Times am 16. Juni während einer Sitzung des Nationalkongresses betonte. Das Treffen zielte darauf ab, die Entwicklung des Landes nach dem Verfassungsreferendum zu diskutieren.
Lest auch auf Novastan: Kasachstan stimmt für Verfassungsänderung
„Wir sollten nichts übereilen. Schauen Sie sich nur die Plakate in den Straßen und die Namen der Ministerien an. Unsere Sprache hat sich verzerrt. Ich muss ehrlich sagen, dass dies der Natur der kasachischen Sprache fremd ist und sogar wie eine Parodie unserer Sprache aussieht. Eine solche oberflächliche Sprachreform ist unnötig. Wir brauchen echte Reformen“, sagte Toqaev in einer vom kasachstanischen Onlinemedium Orda veröffentlichten Rede.
Seit 2017, als der ehemalige Präsident Nursultan Nazarbaev ein Dekret zur Umstellung des kasachischen Alphabets von kyrillisch auf lateinisch unterzeichnete, hat es eine Reihe erfolgloser Versuche mit dem neuen Alphabet gegeben. Zwei der insgesamt vier Modifikationsversuche fanden in weniger als einem Jahr statt, zwischen Oktober 2017 und Februar 2018. Es entstand eine 32 Buchstaben umfassende Version des Alphabets mit mehreren Apostrophen, die nach Kritik und Ablehnung der Bevölkerung durch Akzente ersetzt wurden.
Eine optimierte neue Version
Die neueste und aktuelle Version wurde Anfang 2021 vorgestellt und gut angenommen. Allerdings scheint sie noch immer unzureichend. Daher forderte Präsident Toqaev am 16. Juni 2022, die Umstellung des Alphabets zu verlangsamen und so unerwünschten Auswirkungen, Bedenken und sprachlichen Verzerrungen zu verringern.
Gleichzeitig betonte der Präsident, dass es für junge Kasach:innen am wichtigsten sei, ihre Sprache zu beherrschen und sich ihres sprachlichen Erbes bewusst zu sein. „Die Hauptsache ist, dass die Bürger, insbesondere unsere jungen Leute, alle Wörter der kasachischen Sprache in Schrift kennen. Mit anderen Worten, es ist notwendig, die Rechtschreibregeln unserer Sprache zu überarbeiten“, erklärte Toqaev.
Eine symbolträchtige Präsentation
Konkret wurde die aktualisierte Version des lateinischen Alphabets mit seinen Verbesserungen am 28. Januar 2021 durch eine Expert:innen-Kommission des Ahmet-Baıtursunov-Instituts für Linguistik vorgestellt. Dieses symbolische Ereignis fand während der Feierlichkeiten zum 30. Jahrestag der Unabhängigkeit Kasachstans statt.
In diesem Zusammenhang sagte der damalige Premierminister Asqar Mamin: „Eine verbesserte Version des Alphabets wird der Entwicklung der kasachischen Sprache neue Impulse geben und zu ihrer Modernisierung im Einklang mit modernen Trends beitragen. In der kommenden Zeit müssen viele Vorarbeiten für den schrittweisen Übergang der kasachischen Sprache zur lateinischen Schrift geleistet werden.“ Mamin erklärte auch, dass mehr als 40 Versionen bei der Kommission zur Untersuchung eingereicht worden seien.
Lest auch auf Novastan: Tatsächlich, Liebe: Das Kasachische und die lateinische Schrift
Wie die türkische Nachrichtenagentur Anadolu berichtete, wurde die optimierte Version des lateinischen Alphabets zwischen April und Mai 2021 zur öffentlichen Diskussion gestellt. Das neue Alphabet besteht aus 31 Buchstaben, von denen einige diakritische Zeichen erhalten wie ә (ä), ө (ö), ү (ü), ұ (ū), ғ (ğ), ш (ş). Es wurde nach dem Prinzip „ein Laut, ein Buchstabe“ erstellt und entspricht dem qwerty-Standard für digitales Schreiben.
Trotz der Probleme in Bezug auf die Funktionalität des neuen Alphabets haben die Kasach:innen es bereits in ihr tägliches Leben eingeführt. Trotz der gegenwärtigen Rechtschreibfehler schreiben immer mehr Geschäfte ihren Namen in lateinischer Schrift. An kasachischen Schulen werden bereits Kurse in lateinischer Schrift angeboten und ein Medienunternehmen hat sogar die Initiative ergriffen, im neuen Alphabet zu veröffentlichen.
Das Alphabet ändern: ein alter Wunsch
Der Wunsch, das kasachische Alphabet zu ändern, ist nicht neu. Bereits nach der Unabhängigkeit des Landes von der Sowjetunion im Jahr 1991 sprachen Sprachwissenschaftler:innen von der Notwendigkeit, auf das lateinische Alphabet umzusteigen. Dieses wurde bereits in den Jahren 1929-1939 in Folge des sowjetischen Latinisierungsprogramms verwendet, bevor die Sprache auf das kyrillische Alphabet umgestellt wurde.
Im Jahr 2012 wurde die Reform des Alphabets in das nationale Strategieprogramm Kasachstan-2050 aufgenommen und 2025 als Datum für die vollständige Umsetzung des neuen Alphabets angegeben, wie das australische Portal The Conversation zusammenfasst. 2017 wurde mit Pilotanwendungen des Alphabets begonnen, nachdem zuvor das Dekret zur Formalisierung des Übergangs verabschiedet worden war. Darüber hinaus ist bis heute aber nicht viel passiert.
Ein Wechsel aus geopolitischen Gründen
Die Gründe für den Übergang zum lateinischen Alphabet haben praktische, aber auch historische, spirituelle und vor allem geopolitische Ursachen. Einige Stimmen sehen darin eine sprachliche Modernisierung und Entkolonialisierung sowie einen Schritt zu engeren Beziehungen mit dem Westen und den Turkvölkern, während gleichzeitig der Einfluss Russlands vermindert wird.
Tatsächlich lohnt es sich, an die Worte des ehemaligen Präsidenten Nazarbaev zu erinnern, als er 2017 für die Änderung des Alphabets eintrat. „Hinter der Umstellung auf die lateinische Schrift steckt eine tiefe Logik. Dies liegt an modernen Technologien, der Umgebung und Kommunikation sowie an den Besonderheiten von Bildungs- und Wissenschaftsprozessen des 21. Jahrhunderts. Von der Schulbank an lernen unsere Kinder Englisch und lateinische Buchstaben, daher sollte es keine Schwierigkeiten und Hindernisse für die junge Generation geben“, sagte er nach Angaben von EurAsia Daily Press.
Lest auch auf Novastan: Der Vater des neuen kasachischen Alphabets erhält amerikanischen Preis
Die Stimmen, die sich für eine Änderung des Alphabets aussprechen, machen auch darauf aufmerksam, dass die Bevölkerung des Landes derzeit überwiegend ethnisch kasachisch ist (70 Prozent). Im Gegensatz dazu machen ethnische Russ:innen nur 20 Prozent der Bevölkerung aus. Auch die Schulen und Bildungseinrichtungen des Landes unterrichten überwiegend auf Kasachisch. Eine Umfrage aus dem Jahr 2009 ergab jedoch, dass 94 Prozent der Bevölkerung Russisch verstehen, während es bei Kasachisch nur 74 Prozent sind.
Als jemand, der in der Ära der Unabhängigkeit Kasachstans aufgewachsen ist – einer Zeit, die von Verwestlichung und Globalisierung geprägt war – unterstütze ich die Latinisierung von ganzem Herzen“, erklärte der Künstler und Aktivist Erden Zikibaı 2017 gegenüber Eurasia.net. Die Verwendung eines lateinischen Alphabets könne seiner Meinung nach dazu dienen, „die Wahrnehmung und das Prestige der kasachischen Sprache von ihrem derzeitigen marginalen und zweitrangigen Status zu erheben, in dem sie anfangen könnte, sich gegen Russisch, Englisch und so weiter zu verteidigen.“
Pragmatische Gründe
Es gibt aber auch pragmatische Gründe und Argumente für die Übernahme des lateinischen Alphabets: Diese Umstellung erleichtert Ausländer:innen das Kasachischlernen und bringt jungen Menschen ihre Herkunftskultur und ihre gemeinsamen Wurzeln mit anderen turksprachigen Ländern näher.
Die Philologin Zeınep Bazarbaeva erklärte in einem Interview mit dem nationalen Sender Qazaq TV, dass der Übergang zur lateinischen Schrift den Eintritt Kasachstans in den globalen Informationsraum beschleunige. Gleichzeitig werde sich die Weltgemeinschaft, die zu 80-90 Prozent das lateinische Alphabet schreibt und liest, leichter mit dem reichen Erbe, der Kultur und der Geschichte der kasachischen Nation vertraut machen können.
Eine Veränderung des literarischen Erbes?
Kritiker:innen sprechen jedoch von einer Laune der Eliten, dem Verlust des kulturellen Erbes, einschließlich der in den letzten 60 Jahren entwickelten Literatur des Landes, und der Unfähigkeit der älteren Generation, sich an das neue Alphabet anzupassen. Auch die Kosten einer solchen Transformation werden kritisiert. Sie beläuft sich laut dem staatlichen Nachrichtenportal KTK.kz auf 664 Millionen US-Dollar (662 Millionen Euro).
Darüber hinaus gibt es Versuche, das Thema zu politisieren, indem eine Bedrohung der Rechte von russischsprachigen Menschen durch die Änderung des Alphabets heraufbeschworen wird. Präsident Toqaev versicherte jedoch, dass sich an der Rolle der russischen Sprache in Kasachstan nichts ändern werde.
Lest auch auf Novastan: Pro und Contra: Soll Kasachisch in Lateinschrift wiedergegeben werden?
„Ich meine, dass diejenigen, die behaupten, dass die Position der russischen Sprache in Kasachstan geschwächt, verringert oder gar beschädigt worden sei, sich vollkommen gegen die Wahrheit richten. Sie argumentieren schlecht, um dieses oder jenes zu politisieren. […] Im Allgemeinen hat sich die Situation der russischen Sprache in Kasachstan nicht verschlechtert. Da bin ich mir sicher“, erklärte Toqaev am 15. Juni 2022 in einem Interview mit dem russischen Fernsehsender Rossiya 24.
Indira Ramírez Redakteurin für Novastan
Aus dem Französischen von Robin Roth
Noch mehr Zentralasien findet ihr auf unseren Social Media Kanälen, schaut mal vorbei bei Twitter, Facebook, Telegram, Linkedin oder Instagram. Für Zentralasien direkt in eurer Mailbox könnt ihr euch auch zu unserem wöchentlichen Newsletter anmelden.