Stundenlang still am Ufer des Kaspischen Meeres ausharren, Erkältungen mit Wodka und Pfeffer auskurieren, einen Sturm im Boot überleben – all das macht Ásel Baımuqanova, um Filme über die einzigen Meeressäugetiere in Kasachstan zu drehen. Mit The Village sprach sie über ihr spannendes, aber anstrengendes Leben. Wir übernehmen den Artikel in gekürzter Fassung mit freundlicher Genehmigung der Redaktion.
Jeden Herbst und Frühling zieht Ásel Baımuqanova – Kamerafrau und Expertin für Umweltbildung – an die wilde kaspische Küste, ohne Internet und ohne Dusche, um gemeinsam mit einem Forschungsteam Robben zu filmen. Wir haben mit Ásel ein paar Tage vor ihrer Abreise gesprochen und herausgefunden, wie schwierig es ist, Robben zu erforschen und warum sie das tut.
Von der Philologie zur Ökologie
Ich bin 27 Jahre alt. Ich bin am See Markakol geboren und aufgewachsen, eine sehr schöne Gegend im Osten Kasachstans. Als Kind wollte ich gefährdete Tierarten schützen und erhalten. Mein Vater ist Ichthyologe, er hat endemische Fischarten in der Region untersucht. Eines Frühlings, als ich in der sechsten Klasse war, nahm mein Vater mich auf meine Bitte hin auf den Markakol mit. Ich dachte, ich würde in einem Boot sitzen und über einen schönen See fahren. In Wirklichkeit stellte es sich als harte Tour heraus: Es war kalt und windig, die Mücken klebten an mir. Ich beschloss, nie wieder im Leben auf so einen Ausflug mitzukommen.
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Nach der sechsten Klasse zogen wir um nach Almaty. Ich wurde älter und als Teenager kümmerte ich mich nicht mehr viel um den Naturschutz, ich war mit meinen eigenen Problemen beschäftigt. Nach der Schule studierte ich an der Philologischen Fakultät, wollte aber in diesem Bereich nicht arbeiten. Papa schlug vor, Filme über die Natur zu machen, er hatte damals schon die Fische am Markakol gefilmt. 2012 bekam ich eine Stelle am Institut für Hydrobiologie und Ökologie, zuerst als Videotechnikerin und dann als Expertin für Umweltbildung. Es ist eine gemeinnützige Organisation, die mein Vater 2006 gegründet hat. Ein Jahr lang habe ich an meinen Kamerafertigkeiten gearbeitet und ging 2013 ans Kaspische Meer. Dieses Jahr habe ich einen auf Ökologie spezialisierten Master-Studiengang angefangen, in Zukunft werde ich mich mit Forschung befassen.
Familie und Arbeit
Mein Vater gründete vor zwölf Jahren das Institut für Hydrobiologie und Ökologie. Hier arbeiten meist junge Forscher: vier Ichthyologen, eine Hydrobiologin (meine ältere Schwester) und ich. Unsere Gehälter sind nicht hoch, die Arbeitsbedingungen im Feld sind schwierig, der Arbeitsaufwand ist ziemlich groß. Alle Mitarbeiter müssen alles können. Eine unserer Hauptaufgaben ist es, die Kaspischen Robben zu erforschen und Dokumentarfilme über sie zu drehen.
Wir arbeiten mit dem kasachischen Forschungsinstitut für Fischerei und mit internationalen Organisationen zusammen. Aber wir sind die einzigen in Kasachstan, die Robben langfristig erforschen. Finanzielle Mittel erhalten wir von staatlichen und nichtstaatlichen Organisationen, die an uns spezielle Aufträge vergeben. Momentan werden wir von den NGOs Expo & Women und Eco Mangystau unterstützt. Diesen Herbst muss ich vor der Forschungsreise für eine Wohltätigkeitsveranstaltung nach Aqtaý, um beim Stadtjubiläum den Schutz der Kaspischen Robben vorzustellen. Außerdem möchten wir eine Spendenaktion für das Markieren der Robben organisieren – mit den Markierungen können wir herausfinden, ob die Robben zu den Inseln an der Kendirli-Bucht zurückkehren und welche Bedeutung diese für sie haben.
Auf Expedition
Ans Kaspische Meer fahre ich seit fünf Jahren. Normalerweise sind wir zweimal im Jahr dort, im Herbst – von Mitte September bis Ende Oktober – und im Frühjahr – von Mitte April bis Mitte Mai. Zu dieser Zeit befinden sich die Robben an ihren Liegeplätzen auf mehreren Inseln in verschiedenen Teilen des Meeres. Im Sommer unternehmen sie Wanderungen innerhalb des Meeres und nehmen an Gewicht zu, und im Winter leben sie auf dem Eis und bekommen Welpen – so nennt man die Robbenjungen.
Nach der Ankunft in Aqtaý kaufen wir Lebensmittel und alles Notwendige, um unter Feldbedingungen zu leben. Dann fahren wir zu den Inseln, wo die Robben liegen, wählen einen Platz für unser Camp, bauen die Zelte auf, essen zu Abend und gehen ins Bett. Normalerweise sind wir an einer Nehrung an der Kendirli-Bucht (neben den Lagerplätzen der Robben. Um uns herum ist wilde Natur, wenn man die Taschenlampe einschaltet, fliegen Insekten auseinander wie im Horrorfilm. Nachts soll man das Camp nicht verlassen, denn man kann sich leicht verlaufen, um uns herum gibt es Schakale und Wölfe. Es gibt einige grundsätzliche Sicherheitsregeln: sich nicht alleine zu weit vom Camp entfernen, immer Bescheid geben, wohin man geht, nicht aufs Meer fahren wenn die Windgeschwindigkeit einen bestimmten Wert überschreitet. Im Camp muss man die Küche im Blick behalten, den Treibstoff in sicherer Entfernung vom Feuer aufbewahren und Lagerfeuer weiter weg vom Camp anzünden.
Der Tag beginnt wie folgt: Morgens beobachten wir aus der Ferne mit Hilfe eines Teleskops. Dann schicken wir eine Drohne, die die Tiere aus einer Höhe von mindestens 35-40 Metern filmt, um die Anzahl der lagernden Tiere zu berechnen. Normalerweise teilt sich das Expeditionsteam in zwei Gruppen: die erste bleibt im Camp und die zweite geht zu den Robben. Um zu den Tieren zu gelangen ohne sie zu erschrecken, müssen wir über Sand und Muschelkalkstein kriechen. Normalerweise fahren wir bis zu 500 Metern an die Lagerstätten heran und kriechen dann etwa eine Stunde auf dem feuchten Ufer zu ihnen heran. Dabei müssen wir vorsichtig sein damit sie nicht verschwinden. Ich dokumentiere das Leben der Robben auf Film, daher darf ich nicht gesehen und gehört werden. Mit der Kamera kann ich nicht aus großer Entfernung filmen, ich muss nah genug an sie heran kriechen. Das Team hilft mir dabei. Generell sind alle in unserem Team aufeinander abgestimmt, die Abläufe bauen auf gegenseitiger Unterstützung auf. Beim Filmen habe ich gelernt, geduldig und hartnäckig zu sein. Für eine Aufnahme muss ich bis zu anderthalb Stunden in einer Position liegen. Man muss auch aufmerksam sein, denn die Robben sind einander sehr ähnlich und unterscheiden sich nur durch Flecken und ihren Farbton.
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Solche Bedingungen sind anstrengend, daher gibt es noch eine Camp-Regel: immer ein Erste-Hilfe-Set zur Hand haben, auch wenn bisher niemand bei einer Expedition ernsthaft krank wurde. Natürlich gibt es Grippe, Erkältungen, aber aus irgendeinem Grund wirst du hier schneller gesund als in der Stadt. Wir haben unsere eigenen Behandlungsmethoden: Wodka mit Pfeffer einnehmen und sich mit Alkohol einreiben. Früher haben wir uns bei den Expeditionen ohne große Extras ernährt – Nudeln, Reis und viel Dosenfleisch. Auf dem Markakol zum Beispiel hat mein Vater Fischsuppe oder gebratenen Fisch gemacht, nach der Bioanalyse blieben Proben übrig die gegessen werden konnten. Aber 2011 kam ein neuer Ichthyologe zu uns ans Institut, Leonid, und übernahm die Küche: Er kocht erstaunlich, stellt Menus zusammen und berechnet das Volumen der Lebensmittel. Ich bin seit 2014 Vegetarierin und esse deshalb kein Dosenfleisch, das wird auch berücksichtigt. Einmal hat Leonid unter Feldbedingungen sogar Pasteten gebacken! Als wir von der Nehrung zurück kamen und das Gebäck sahen, trauten wir unseren Augen nicht. Es stellte sich heraus, dass er sie mit den Resten der Fischkonserven und für mich mit Erbsen gefüllt hat. Seitdem er dabei ist ernähren wir uns abwechslungsreich. Wenn Leonid nicht da ist, essen wir wieder Nudeln, Kartoffeln, Buchweizen und Dosenfleisch.
Eine der Hauptschwierigkeiten bei unserer Arbeit sind die hygienischen Bedingungen, im Feld wäschst du dich praktisch nicht. Wenn du unbedingt willst, kannst du schwimmen gehen. Wir haben uns eine Methode ausgedacht: am Strand aufwärmen, rennen, und dann ins Wasser springen. In der Regel haben wir keine freien Stunden, in denen du einfach spazieren gehen kannst. Das sind die Bedingungen meines Vaters – es ist, als hätte er einen Motor im Inneren, es gibt keine Minute im Feld in der er nicht beschäftigt ist. Wenn es Freizeit gibt, schreiben wir daher Anträge für Projekte, die finanziert werden könnten.
Die Robben
Die Anzahl der Robben ist derzeit nicht bekannt. Dieses Tier steht auf der Roten Liste gefährdeter Arten der Weltnaturschutzunion (IUCN). Die letzte Luftzählung – eine Art Volkszählung – wurde 2005 durchgeführt, damals wurden etwa 100.000 Tiere registriert. Aus Arbeiten sowjetischer Forscher ist bekannt, dass es im kaschstanischen Teil des kaspischen Meers einst fast eine Million Roben gab. Das heißt, ihre Zahl ist um 90 Prozent zurückgegangen. Die in den Büchern erwähnten Kolonien sind jetzt leer. Unsere Studien für 2015 bis 2017 zeigten, dass Robbenkolonien in der Kendirli-Bucht – im mittleren Teil des Kaspischen Meeres – und an der Nordspitze der Komsomolskaya-Bucht, den Durneva-Inseln (nördlich der Halbinsel Mańģystaý, Anm. d. Red.) entstanden. Umfragen unter Anwohnern zufolge fanden sie solche Orte in der Gegend von Prorva (370 Kilometer von Atyraý entfernt). Und in Russland und Turkmenistan gibt es nur jeweils eine Kolonie. Warum weiß niemand, wie viele Robben es im Kaspische Meer gibt? Um sie zu zählen, müssen sich alle angrenzenden Staaten beteiligen – bisher ist das nicht möglich.
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Ein weiterer wichtiger Punkt ist das Aussterben. Robben sterben aus verschiedenen Gründen: Durch den Rückgang der Eisdecke aufgrund der globalen Erwärmung, oder sie treffen auf Eisbrecher. Sie sterben auch an Verschmutzung: Giftstoffe sammeln sich im Körper der Robbe an und ihre Immunität nimmt dadurch ab. Es gibt auch illegale Fischerei. Fischer setzen Netze ein, in denen sich die Robben verfangen. Es rentiert sich nicht, ein verängstigtes Tier freizulassen, weil es zappelt und sich herumwälzt und die Netze zerstören kann, die viel Geld kosten. Daher lassen sie die Robben sterben, betäuben sie oder töten sie sogar ganz.
Wenn ich erzähle, dass ich mich mit Robben beschäftige, gibt es immer Leute, die überrascht sind, dass es diese Lebewesen noch in unserem Land gibt. Sogar die Leute in Aqtaý sind überrascht.
Leben in der Stadt
Wenn ich von einer Expedition zurückkomme gehe ich erstmal in die Banja. Normalerweise bräuchte ich noch zwei Tage, um auszuschlafen. Aber dafür gibt es keine Zeit, denn nach der Feldarbeit müssen Berichte erstellt, das Material katalogisiert und der Film bearbeitet werden. Ich bin sehr kritisch gegenüber meinen Filmen und kann meine Arbeit immer noch nicht ohne Bedauern betrachten. Die Nachbereitung einer Expedition dauert mehrere Monate. Dann müssen wir Projektanträge schreiben und uns für verschiedene Ausschreibungen bewerben um Finanzierungen zu erhalten. Jetzt fängt das Studium an und ich habe keine Ahnung, wie ich alles schaffen werde.
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Bei der Arbeit mit den Robben habe ich gelernt, jede Situation gelassen zu nehmen. Einmal kamen mein Vater und ich in einen Sturm. Es war unheimlich, wir saßen in einem Boot, das jeden Moment umkippen konnte. Wir würden es niemals zurück an Land schaffen. Dann erkannte ich, dass nichts von mir abhängt und schlief einfach ein, und als ich aufwachte, hatte sich das Meer beruhigt. Nach so etwas ist macht dir nichts mehr Angst.
Aus dem Russischen von Alexandra Wedl
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