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„Generation Nasarbajew“: Über die unpolitische Jugend Kasachstans

Was macht die „Generation Nasarbajew“ aus? Was denkt sie über die Gegenwart und was erhofft sie sich von der Zukunft? Amerikanische WissenschaftlerInnen zogen in einer Studie unerfreuliche Schlüsse: Die Demokratie ist der jungen Generation nicht besonders wichtig. Der folgende Artikel erschien im russischsprachigen Original auf Fergana News.

Nsarbajew und Jugend
Nursultan Nasarbajew mit jungen AnhängerInnen

Was macht die „Generation Nasarbajew“ aus? Was denkt sie über die Gegenwart und was erhofft sie sich von der Zukunft? Amerikanische WissenschaftlerInnen zogen in einer Studie unerfreuliche Schlüsse: Die Demokratie ist der jungen Generation nicht besonders wichtig. Der folgende Artikel erschien im russischsprachigen Original auf Fergana News.

In Bezug auf ihre historische Erfahrung unterscheiden sich junge KasachstanerInnen zweifellos stark von den älteren Generationen. Sie wuchsen in einer stabilen Gesellschaft auf, fernab von der Sowjet-Zeit und auch vom Chaos und den Belastungen der 90er-Jahre. Die Jahre nach 2000 waren geprägt von wirtschaftlichem Wachstum und der Konsolidierung des Autoritarismus. Das BIP pro Kopf wuchs fast um das 11-fache – von 1130 US-Dollar im Jahr 1999 auf 12 400US-Dollar im Jahr 2012.

Zeitgleich wuchsen die Befugnisse Nursultan Nasarbajews: mit der Verfassungsänderung von 2007 wurde die Begrenzung der Amtszeiten des Präsidenten aufgehoben. Die Jugend wuchs in einem Land auf, in dem es keine andere Führung gab und auch nicht in Sicht ist. Gleichzeitig treibt das Regime aktiv die Idee von der intellektuellen Unabhängigkeit einer neuen Generation voran, die frei vom Druck der sowjetischen Vergangenheit ist. In den präsidentiellen Botschaften wird die Jugend aufgerufen, die treibende Kraft des Wandels zu sein und auf gute Bildung zu setzen, welche das Bolaschak-Programm, die Nasarbajew-Universität und ähnliche Institutionen ermöglichen.

An nichts interessiert, über nichts beunruhigt

Historische Forschungen zu Generationsunterschieden beschränkten sich bisher auf die demokratischen Industriegesellschaften Westeuropas und Nordamerikas. Darin fanden AutorInnen heraus, dass die letzten Jahre der Jugend und die ersten Jahre als Erwachsener das Fundament für den Menschen als Mitglied der Gesellschaft legen.

Für die globale Generationenforschung gibt Kasachstan nun ein sehr interessantes und lehrreiches Material, gerade aufgrund seiner staatlichen Struktur. Erstens ist das politische System im Land charakteristisch für moderne autoritäre Regime: die personalisierte Macht eines starken Präsidenten, sowie eine Übermacht der Exekutive gegenüber der Legislativen und Judikativen. Zweitens sind die Liberalisierung der Wirtschaft und die Privatisierung des sozialen Bereichs typisch für viele Entwicklungsländer, die sich dem Marktkapitalismus unterworfen haben.

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In diesem Zusammenhang tauchen wichtige Fragen auf. Hat die heutige kasachstanische Jugend  eigene politische und ökonomische Werte oder bleibt sie lediglich eine demografische Abstraktion, eine amorphe Masse von Menschen mit unklaren Überzeugungen? Unterscheidet sie sich von älteren Generationen?  Inwieweit ist die Jugend bereit, die Politik der Regierung zu kritisieren?

Um Antworten auf diese Fragen zu finden, führten Barbara und Azamat Junisbai vom Pitzer College in Kalifornien eine große Meinungsumfrage durch. In der soziologischen Studie befragten die Wissenschaftler  junge KasachstanerInnen im Alter von 18 bis 29 Jahren. Die Umfrage wurde vom Nationalen Wissenschaftsfonds der USA finanziert. Die Ergebnisse wurden in dem Artikel „Are Youth Different? The Nazarbayev Generation and Public Opinion in Kazakhstan“. Aus den Ergebnissen wird klar, dass die „Generation Nasarbajew“ recht homogene Ansichten hat, die einem radikalen Marktliberalismus am nächsten kommen. Ungleich verteilter Wohlstand ist nach Meinung der Jugend nicht schlimm und staatliche Ausgaben für Sozialprogramme erscheinen als unnütz. Im Vergleich zu anderen Generationen, ist Kritik an der Macht unüblich, die Demokratie interessiert sie nicht, Vetternwirtschaft und Korruption beunruhigen sie nicht. Doch alles der Reihe nach.

Der Ertrinkende rettet sich selbst

Die beiden Forscher erstellten einen umfangreichen, detaillierten Fragebogen, der politische Überzeugungen, religiöse Praktiken, Medienkonsum, Vorstellungen der Rolle des Staats in der Wirtschaft, Vertrauen in die Institute und soziale Mobilität abdeckte. Mit der Durchführung der Umfrage betrauten sie das erste unabhängige Zentrum für soziologische Studien in Kasachstan, BRIF Research Group.

97 SpezialistInnen des Instituts führten insgesammt 1500 Interviews an 150 verschiedenen Orten in allen 14 Verwaltungsgebieten des Landes durch. Die durchschnittliche Dauer eines Interviews betrug 45 Minuten, 60,1 Prozent der angefragten Personen waren bereit, sich zu beteiligen (was ein gutes Ergebnis für ein Land ist, dessen BewohnerInnen der vielen Marketingumfragen überdrüssig sind).

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Laut den Umfragen sind KasachstanerInnen im Allgemeinen für Gleichheit: fast 90 Prozent der Befragten stimmen zu, dass „die Einkommensunterschiede im Land zu hoch“ sind. 80 Prozent sind sich sicher, dass „wirtschaftliche Ungleichheit nur dann vertretbar ist, wenn alle Menschen die gleichen Möglichkeiten haben, Geld zu verdienen“. Dennoch empört sich die „Generation Nasarbajew“ seltener über die Unterschiede zwischen Arm und Reich – um 10 Prozentpunkte im Vergleich zu den älteren MitbürgerInnen.

Bei konkreten Symptomen der Ungleichheit wird dieser Unterschied noch deutlicher: Die Jüngeren stimmen mehrheitlich zu, dass „der große Einkommensunterschied dazu anregt nach Erfolg zu streben“. Bei den Älteren teilen weniger als die Hälfte der Befragten diese Meinung.

Ein entsprechender Bruch zwischen den Generationen wird auch  in Bezug auf die Verantwortlichkeit des Staates deutlich. Die Älteren sehen im Vergleich zur Jugend den Staat viel häufiger in der Pflicht, Ungleichiet zu bekämpfen. Auch die Forderung, dass der Staat Wirtschaft und Industrie stärker regulieren sollte, findet bei der älteren Generation mehr Unterstützung (79,2 Prozent versus 70,4 Prozent). Das gleiche gilt für die Prinzipien des Sozialstaats – allen voran die Garantie eines Existenzminimums. Alles in allem wollen die BürgerInnen des Landes, dass sich die Mächtigen um die Bevölkerung kümmern. Allerdings sind die Jüngeren weniger fordernd und eher bereit, Kürzungen bei Sozialprogrammen zu unterstützen.

Sich anpassen anstatt zu kämpfen

All dies zeigt eine langsame Verschiebung der sozialen und ökonomischen Realität Kasachstans. Die „Generation Nasarbajew“ ist eine postsowjetische. Allgemeine kostenlose Hochschulbildung und hochwertige medizinische Versorgung erscheinen ihr als vage Erinnerungen, die Marktwirtschaft scheint ihnen nicht als chaotisch und brutal (wie in den 90er Jahren), sondern als Quelle der Prosperität. Die jungen KasachstanerInnen stellen dem Staat gegenüber bescheidenere Forderungen, da sie sich an ein „sparsameres“, kommerzialisiertes und weiter vom Sozialismus entfernteres Umfeld gewöhnt haben, im Gegensatz zu ihren Eltern.

Die WissenschaftlerInnen heben hervor, dass die Werte der „Generation Nasarbajew“ kein Alleinstellungsmerkmal sind: auch im benachbarten Russland, in Osteuropa und in vielen anderen Ländern fühlt sich die Jugend zu den Werten des persönlichen Erfolgs und der Marktwirtschaft hingezogen und sagt sich von der Fürsorge seitens des Staates ab.

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Aber was sind nach Meinung der KasachstanerInnen die Gründe für Armut und Reichtum im Land? In dieser Frage stimmen Alt und Jung überein: Der Erfolg im Leben hängt von den notwendigen Kontakten und guten Startbedingungen ab – das meinen 70-80 Prozent der Befragten. Strukturelle Gründe für Armut (Diskriminierung und das ungerechte Wirtschaftssystem) betrachten lediglich 50-60 Prozent als entscheidend.

Laut den beiden Wissenschaftlern nähmen die KasachstanerInnen das für die Elite vorteilhafte System aus Beziehungen, Korruption und Klientelismus als gegeben hin, als unabänderliche Spielregeln, an die man sich anpassen muss – und nicht als Übel, das es zu bekämpfen gilt. Und hierin besteht eine direkte Verbindung zum politischen Leben. Aus Studien geht nämlich hervor: Ignorieren BürgerInnen die systemischen Gründe für Ungleichheit, und führen diese nur auf Glück und Erfolg einzelner Personen zurück, wird die Staatsmacht für die Vorgänge im Land nicht in Verantwortung gezogen. Diese Einstellung stärkt letzendlich das Regime.

Eine Revolution wird es nicht geben

Die politischen Werte und Überzeugungen der KasachstanerInnen sind unabhängig vom Alter recht liberal: 80 Prozent der Befragten unterstützen die Idee der Demokratie, 86 Prozent stimmen der Aussage zu, dass „ehrliche Wahlen wichtig für das Wohlergehen meiner Familie“ sind, und 95 Prozent meinen, dass Wahlen „wichtig für die ökonomische Entwicklung des Landes“ sind. In Bezug auf konkrete Mittel, sich in der Demokratie einzubringen, gibt es aber deutliche Unterschiede.

Während 87 Prozent aller befragten KasachstanerInnen der Meinung sind, dass „die BürgerInnen die Handlungen der Staatsmacht hinterfragen“ sollten, so sind dies unter der „Generation Nasarbajew“ lediglich weniger als ein Viertel. Auch die Aussage, dass die Medien Korruption und Fehlentscheidungen der Mächtigen aufdecken sollten, findet unter der Jugend weniger Unterstützung (35,6 Prozent gegenüber 44 Prozent unter der älteren Generation).

Wie kann man diese Unterschiede in den Bewertungen erklären? Wahrscheinlich ist die „Generation Nasarbajew“ apolitischer als jene Generation, die die Perestroika miterlebt hat. Die jungen Befragten meinen, dass es zu viel Zeit und Kraft kostet, wenn die Gesellschaft die Mächtigen kontrolliert, und dass man diese Zeit und Kraft für andere Dinge verwenden kann. Außerdem ist die Jugend toleranter in Bezug auf Vetternwirtschaft. Sie ist mit ihr aufgewachsen und hält sie für natürlich.

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„Die Generation Nasarbajew lehnt solche Praktiken nicht ab, sondern nimmt sie als normale Umstände an… Alles in allem besteht die Lektion, die die Jugend aus der Politik gelernt hat, darin, dass Vetternwirtschaft eine Norm darstellt und dass die Demokratie den Worten nach funktioniert, aber nicht in der Realität“, konstatieren die Wissenschaftler. Anders gesagt, der Jugend ist nicht nach Revolution oder der Forderung nach Reformen.

Natürlich bekennen die beiden Autoren der Studie die Begrenztheit ihrer Schlüsse – es handelt sich nur um eine Umfrage, deren Ergebnisse sich in ein paar Jahren gut überprüfen lassen. Das hält sie aber nicht davon ab, pessimistische Rückschlüsse über die Demokratisierung Kasachstans zu ziehen. Ein solcher Prozess beginnt für gewöhnlich „von unten“, wenn die BürgerInnen kritischer werden, faire Wahlen, politischen Pluralismus und Kontrolle durch die Gesellschaft fordern. Allem Anschein nach bevorzugt es die Jugend des Landes aber, Karriere zu machen, indem sie nach jenen Spielregeln handelt, die das Regime auferlegt hat.

Artjom Kosmarskij für Fergana News

Aus dem Russischen von Robin Roth

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