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Wie der Krieg in der Ukraine die Auswanderung von Russ:innen aus Kasachstan beeinflusst

Seit dem Zerfall der Sowjetunion gibt es konstante Migrationsbewegungen in Kasachstan lebender ethnischer Russ:innen nach Russland. Sowohl die Covid19-Pandemie als auch der andauernde Ukrainekrieg haben die Emigrationsstimmung jedoch deutlich beeinflusst.

Petropavl im Norden Kasachstans ist Heimat vieler ethnischer Russ:innen (Photo: Eurovaran/Wikimedia)

Seit dem Zerfall der Sowjetunion gibt es konstante Migrationsbewegungen in Kasachstan lebender ethnischer Russ:innen nach Russland. Sowohl die Covid19-Pandemie als auch der andauernde Ukrainekrieg haben die Emigrationsstimmung jedoch deutlich beeinflusst.

Russlandsr Krieg in der Ukraine hat den Ausreisetrend ethnischer Russ:innen aus Kasachstan in die historische Heimat vorerst gestoppt. Die Anzahl derjenigen, die ihren Wohnort änderten, nahm drastisch ab. Expert:innen gehen jedoch davon aus, dass es sich dabei nur um eine zeitweise Abflachung handelt.

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Mit dem Zerfall der Sowjetunion in den 1990er Jahren setzte eine massenweise Auswanderung aus Kasachstan ein. Allein in den Jahren 1996 bis 2000 verließen mehr als eine Millionen Menschen das Land. Die jährliche Zahl an Emigrant:innen erreichte dabei zeitweise fast 300.000 Personen (299.500 im Jahr 1997). In den darauffolgenden Jahren verlangsamte sich die Emigrationsbewegung. Seit 2010 reisten jährlich 20.000 bis 40.000 Personen aus.

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Am meisten trugen dazu sieben an Russland grenzende Gebiete bei, da diese einen hohen Anteil an Russ:innen in der Bevölkerung aufweisen. In diesen Regionen machten ethnische Russ:innen zwischen einem Drittel bis zur Hälfte der jeweiligen Bevölkerung aus. Eine Ausnahme stellt dabei der an Russland grenzende Gebiet Atyraý dar, in welchem der Anteil ethnischer Russ:innen traditionell gering ausfällt.

Gründe zur Auswanderung

In den letzten 10 Jahren wanderten aus den jeweiligen Gebieten zwischen 1000 und 4000 Personen jährlich aus. Die Gründe für die Entscheidung zur Auswanderung waren dabei vielfältig: psychologische – auf der Suche nach Menschen, die einem im Geiste nahe sind, ein Gefühl der Benachteiligung im „Herkunftsland“, wirtschaftliche – die Möglichkeit, mehr zu verdienen und eine Ausbildung in Russland zu erhalten, oder auch spezielle Rabatte, die bei der Geburt von Kindern gewährt werden oder für diejenigen, die in Sibirien oder im Fernen Osten siedeln.

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Vor drei Jahren ging dieser Emigrationstrend jedoch drastisch zurück. Während im Jahr 2019 noch 31.000 Menschen Kasachstan verließen, waren es 2020 nur noch 19.000. In einigen grenznahen Regionen halbierten sich die Zahlen sogar. Offensichtlicher Grund war die Covid19-Pandemie und der damit verbundene Lockdown in Kasachstan und Russland, welcher auch die Landesgrenzen betraf. Erst gegen Ende 2021 kehrte das Leben in die gewohnten Bahnen zurück: die Grenzen wurden geöffnet und der Transportverkehr wieder aufgenommen. Anstatt jedoch im Jahr 2022 zum Niveau vor der Pandemie zurückzukehren, sanken die Zahlen weiter: aus Kasachstan wanderten lediglich 14.800 Menschen aus (im Vergleich zu 31.100 im Vorjahr).

Auf welche Weise hat der Krieg an der fernen Grenze des Nachbarlandes Bewohner:innen Kasachstans von der Emigration abgebracht? „Die Sanktionen (gegen Russland – Anm. d. Red.), die Preissteigerungen und die Mobilisierungen können als Hauptgründe für den Wandel der Emigrationstrends genannt werden“, meint Halida Ajigulova,  Juristin und Soziologin und assoziierte Professorin für Recht an der Eurasischen Technologischen Universität.

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Olga Simakova, Soziologin und Projektkoordinatorin bei der öffentlichen Stiftung „ZSPI Strategie“, geht ebenfalls davon aus, dass der Krieg zwischen Russland und der Ukraine der wahrscheinlichste Grund für den Trendwandel ist. Jedoch handelt es sich hierbei ihrer Meinung nach lediglich um eine zeitweise Abflachung des Trends, ähnlich der Entwicklung während der Pandemie: „Ab 2014 konnten wir ein stetiges Wachstum an Auswanderung beobachten, welches nur im Jahr 2020 im Zusammenhang mit der Pandemie und der daraus resultierenden Isolation des Landes unterbrochen wurde. Und bereits nach einem Jahr wurde klar, dass sich der Wille zur Emigration keinesfalls in Luft aufgelöst hat, und lediglich auf günstigere Zeiten gewartet wird, was 2021 auch 33.000 Menschen nutzten“.

Die Expertin ist überzeugt, dass auch der Rückgang der Ausreisen in die Russische Föderation im Jahr 2022 situativen Charakter hat. „Wenn wir die Immigration in andere Länder wie Deutschland, die USA, Usbekistan oder Kanada betrachten, dann sehen wir, dass das Tempo unverändert ist. Die gleichbleibende Nachfrage nach Plätzen an russischen Universitäten unter Abiturient:innen in Kasachstan spricht ebenfalls für einen situativen Charakter“, so Simakova.

Blick auf die zukünftige Entwicklung der Emigration

Was bedeutet das perspektivisch? Halida Ajigulova rechnet damit, dass vor dem Hintergrund des Ukrainekrieges und seiner Folgen der Migrationswille unter kasachischen Bürger:innen mit russischem Hintergrund in den nächsten Jahren weiter zurückgehen wird. Selbst nach einem eventuellen Kriegsende werde es lange dauern, bis sich die russische Wirtschaft und das Sozialleben erholt hätten. Außerdem merkt die Expertin an, dass bereits jetzt ein Anstieg an Gewalt in der Öffentlichkeit und im Familienleben durch posttraumatische Belastungsstörungen unter russischen Soldaten, die aus dem Krieg zurückkehren, beobachtet werden kann. „Deshalb erscheint es in den nächsten zehn Jahren eher als unsicher und irrational, sich in Russland niederzulassen“, resümiert Azjigulova.

Olga Simakova erinnert daran, dass eine Auswanderung einen ernsthafte Entscheidung ist und potentielle Immigrant:innen sich darüber lange Gedanken machen. „Jegliche Veränderungen sowohl im Ursprungsland als auch im Zielland können sich auf das Tempo dieser Entscheidungsfindung auswirken. Aktuell, genau wie 2020, haben viele ihre Entscheidung über eine Auswanderung verschoben und eine abwartende Haltung eingenommen. Ich bin mir sicher, dass wir keine Änderung in den Präferenzen hinsichtlich des Ziellandes beobachten werden“, so Simakova.

Aldiyar Auyezbek für Central Asian Bureau for Analytical Reporting (CABAR)

Aus dem Russischen von Marie Schliesser

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