ZENTRALASIEN SOZIAL. Straßensozialarbeit ist in Kasachstan wenig entwickelt. Obdachlosen stehen zwar sogenannte „Zentren für soziale Anpassung“ offen, allerdings erhalten sie dort keine Hilfe bei der Rückkehr in ein normales Leben. Diese Hilfe leisten Menschen wie Berik Orazbekov.
„Zentralasien Sozial“ ist eine Reihe von Artikeln, die im Rahmen des Projekts „Consolidation of CBR structures in Tajikistan, Kyrgyzstan, Uzbekistan and Kazakhstan and further professionalization of social work training using the CBR approach“ entstanden sind. Im Rahmen des vom Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung finanzierten und von Caritas Deutschland in Tadschikistan durchgeführten Projektes hat Novastan eine journalistische Fortbildung rund um das Thema soziale Arbeit organisiert.
In Kasachstan gibt es nur sehr wenige Organisationen, die Obdachlosen helfen. Im Allgemeinen gibt es im Land keine Straßensozialarbeit, sondern staatliche „Zentren für soziale Anpassung“ für Menschen, die auf der Straße leben. Hierbei geht es hauptsächlich um eine Nacht im Warmen und Essen. Nicht alle Obdachlosen ertragen die dort herrschenden Freiheitseinschränkungen und stigmatisierenden Einstellungen. Und wenn sie sich vom Zentrum lossagen, können sie nicht sofort dorthin zurückkehren.
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Eine Rückkehr ins normale Leben scheint unmöglich. Dem 46-jährigen Ospan aus Astana (Name geändert) ist dies gelungen. Dabei wurde er von fürsorglichen Menschen von der Nationalen Allianz der Sozialarbeiter:innen unterstützt. Darüber, wie man einem Obdachlosen hilft, aus einer schwierigen Lebenssituation herauszukommen, haben wir mit Berik Orazbekov, den Leiter der Allianz-Niederlassung in Astana, gesprochen.
Aus dem Leben auf die Straße
Ospan hatte alles – Frau und Kinder, ein Business, Geld, Haus, Vieh und Auto. Er war gesund. Alles begann 2014 mit dem Alkohol, als seine Frau zu einem anderen ging und die Kinder mitnahm. Im Frühjahr 2020 lebte Ospan auf der Straße. Er stahl nicht, das Geld zum Leben erhielt er, indem er Metall sammelte. Barmherzige Menschen gaben Essen, Kleidung, Geld. Ospan lebte zwei Winter auf der Straße. Im „Zentrum für soziale Anpassung“ war er ein paar Mal. Aber er meint, dass es besser sei, auf der Straße zu leben.
„Im Anpassungszentrum ist es wie im Gefängnis. Sie lassen dich nirgendwo hingehen, nur einmal am Abend. Und ich brauche Freiheit. Es ist besser, auf der Straße zu leben. Die Jungs dort haben ganze Tiere im Speisesaal abgeladen, aber Sie werden dennoch kein Stück Fleisch auf einem Teller finden. Ich habe noch nie erlebt, dass jemand Papiere bekommen hat oder ihm mit der Rente geholfen wurde. Man braucht fürsorgliche Menschen, die wirklich helfen wollen“, teilt Ospan mit.
Der mühsame Weg zu gegenseitigem Vertrauen
Der 40-jährige Berik Orazbekov ist ein solcher Mensch. Er arbeitet in einer IT-Firma und hilft abends und am Wochenende Menschen, die auf der Straße leben. Wie die meisten Menschen, die in Kasachstan in der Sozialarbeit tätig sind, entspricht dies nicht seiner Ausbildung. Berik ist studierter Physiker und Mathematiker. Aber was ihn von einem barmherzigen Passanten unterscheidet, der Essen und Kleidung bringt, ist der Versuch, die Probleme der Menschen auf der Straße umfassend zu lösen und ihnen zu helfen, zu einem normalen Leben zurückzukehren: Eine Arbeit und Wohnung finden, Beziehungen zu Verwandten wiederherstellen, sich einer Behandlung unterziehen und vor allem nicht wieder auf die Straße zurückkehren.
Der Wunsch, Menschen zu helfen, führte ihn zu den Trainings der Allianz für Case Management. Er lernte Straßensozialarbeit mit Obdachlosen – eine erste und vertiefte Einschätzung der Situation, Kommunikationsfähigkeit, den Aufbau vertrauensvoller Beziehungen zu den Betreuten und die Fähigkeit, Menschen in einer schwierigen Lebenssituation zu begleiten. Er übte dies an realen Fällen mit Menschen.
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Ospan nahm von Berik Hilfe an, aber er traute ihm nicht. Menschen, die auf der Straße leben, gehören laut dem kasachstanischen Innenministerium zu den am stärksten gefährdeten Gruppen, Opfer von Menschenhandel zu werden. „Ospan rief mich an, als ihm kalt war und er Hunger hatte. Er erzählte mir von seinem Leben, akzeptierte warmes Essen, Kleidung, aber er vertraute mir nicht. Als es um die Behandlung in der Narkologie ging, lehnte Ospan ab und sagte, er habe nicht einmal Papiere. Er hatte Angst, man wolle ihn versklaven oder noch schlimmer – seine Organe verkaufen. Es hat vier Monate gedauert, Vertrauen aufzubauen“, sagt Berik.
Ospan verstand, warum er auf der Straße war und dass er selbst an allem schuld war. „Ich habe mich gefragt, wie ich zu diesem Punkt gekommen bin! Deshalb bin ich zu niemandem gegangen und habe nur Allah um Hilfe gebeten. Als Berik seine Hilfe anbot, habe ich ihm nicht geglaubt, ich vertraue den Menschen nicht auf Anhieb. Ich habe ihm geglaubt, als ich gemerkt habe, dass er gute Absichten hat. Als er mir geholfen hat, innerhalb eines Tages Papiere zu bekommen“, erinnert sich Ospan.
Rückkehr ins normale Leben
Gegen den Alkoholismus ließ er sich freiwillig behandeln. Zwischen den Kursen kehrte er auf die Straße zurück. Berik suchte für ihn einen Job, erstellte einen Plan zu helfen – eine Bedarfsermittlung und einen individuellen Förderplan – wie man Ospan zu seinen Verwandten zurückbringt, was er tun könnte, wie man Geld verdient, was seine Stärken sind.
Ospan trinkt seit einem halben Jahr nicht mehr. Er lernte den Beruf des Schweißers und fand selbst einen Job. Die Firma stellte ihm eine Unterkunft zur Verfügung. Er kommuniziert mit seinen Kindern, kauft für sie ein. Natürlich ist Ospan immer noch ein potenzieller Obdachloser. Es besteht die Gefahr, dass er auf die Straße zurückkehrt, wenn er seinen Job verliert. Beriks Plan ist es, Ospan zurück ins Unternehmertum zu bringen, was ihm Standfestigkeit verleihen würde. Und ihn an die Sozialarbeit heranzuführen. Arbeit mit denen, die wie er auf der Straße gelandet sind.
Entwicklung der Sozialarbeit
Berik ist sich sicher, dass es sehr wichtig ist, die Straßensozialarbeit mit Obdachlosen zu entwickeln. Menschen werden aus verschiedenen Gründen obdachlos. Es gibt soziale Gründe wie Mangel an bezahlbarem Wohnraum, Armut und Arbeitslosigkeit, aber auch Lebensereignisse – die Entlassung aus dem Gefängnis, aus der Vormundschaft oder aus der Armee.
Viele Frauen fliehen vor Gewalt oder missbräuchlichen Beziehungen und landen so auf der Straße. „Dafür brauchen wir nicht nur Notunterkünfte, sondern Organisationen mit umfassender professioneller Hilfe durch Ärzte, Psychologen, Sozialarbeiter und Rechtsanwälte. Wir brauchen die Zusammenarbeit mit AIDS-Zentren, Narkologie, öffentlichen Dienstleistungszentren, den Akimaten [Stadt- oder Regionalverwaltungen, Anm. d. Ü.]. Mit Ausbildung, Beschäftigung, individueller Begleitung einer Person [kommen wir] zu einem nachhaltigen Ergebnis“, erklärt Berik.
Interessant ist die Erfahrung der Wohltätigkeitsorganisation Notschleschka (russ. Nachtlager), die Probleme von Obdachlosen in Moskau und St. Petersburg löst. Es gibt eine Unterkunft, in der sie essen und übernachten können, und abends fährt ein Bus mit Lebensmitteln und Medikamenten durch die Stadt. Es gibt eine Wäscherei mit Maschinen, in der man seine Sachen waschen und trocknen kann.
Man hilft alkoholabhängigen Obdachlosen und man hilft beim Erhalt von Dokumenten und staatlichen Leistungen. Man hilft dabei, einen Job zu bekommen. In 32 Jahren haben Zehntausende von Menschen Hilfe von Notschleschka erhalten. Die Einrichtung lebt von Spenden. Berik plant, die Finanzierung für ein solches Zentrum zu finden, basierend auf den wahren Geschichten derer, die erfolgreich waren. Es gibt wenige solcher Geschichten. Aber Dank der Nationalen Allianz der Sozialarbeiter:innen Kasachstans wird es mehr von ihnen geben.
Ayslu Asan
Aus dem Russischen von Robin Roth
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