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Plattenbauromantik und Retrosound: „Serial“ des Bischkeker Duos Wtoroj Ka

Serial (Serie) ist ein sehr hörenswertes konzeptuelles Musikalbum, das einen sowohl in die Bunte Welt von Teenieserien, als auch zwischen die Plattenblöcke des südlichen Bischkeks eintauchen lässt. Unsere Rezension des jüngsten Albums des Bischkeker Duos Wtoroj Ka. 

Serial Album Cover

Serial (Serie) ist ein sehr hörenswertes konzeptuelles Musikalbum, das einen sowohl in die Bunte Welt von Teenieserien, als auch zwischen die Plattenblöcke des südlichen Bischkeks eintauchen lässt. Unsere Rezension des jüngsten Albums des Bischkeker Duos Wtoroj Ka. 

Die Kinder der 1990er unter uns haben bestimmt die bunten Teenie-Serien und ihren Soundtrack à la Blur, Blink182 oder GreenDay irgendwo im Unterbewusstsein verinnerlicht. Das 1,2,3,4 der Schlagzeugstücke, die erste Liedzeile mit dem Sprachrohreffekt und das verzerrte vier-Akkorde Gitarrenriff – schon schwelgt man wieder in seinen Jugenderinnerungen. „Unsere Serie beginnt mit einem Lächeln“, startet das jüngst erschienenen Album „Serial“ (Serie) des Bischkeker Hip-Hop Duos Wtoroj Ka.

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Hip-Hop Duo? Tatsächlich ist Serial eher ein Crossover-Album, in dem die zwei Musiker Iliya Semjonow und Sultan Botobajew aus dem Bezirk Asanbaj im Süden der kirgisischen Hauptstadt Bischkek sich nach dem letzten eher Rap-lastigen Werk („Den‘ Zawisimosti“, im Juli 2020) auch erfolgreich auf dem Terrain des alternativen Rocks oder Teenie-Pops bewegen. Das gleichnamige Intro ist dabei wie ein Titelsong für die Serie gedacht.

Erzählungen aus der Bischkeker Jugend

Wie eine typische Teenie-Serie spannt das Album einen Erzählbogen um Liebeserlebnisse, Mutproben und die Selbstfindung des narrativen ‚Ich‘. Das ‚Du‘ richtet sich seinerseits vermutlich an eine Freundin des Hauptcharakters, die mit seinen Ausschweifungen klarkommen muss: „Ich habe noch eine schlechte Tat begangen/ Kaum wirst Du wohl diesmal verstehen/ Dass ich genauso ein Trottel bin wie meine Gruppe/ Ich höre nicht auf über Drogen und den Mikrasch zu rappen“, heißt es etwa in Kompromiss.

Lest auch bei Novastan: „Einen Sound für Bischkek erschaffen“ – „Den‘ Zawisimosti“ vom Bischkeker Musikerduo Wtoroj Ka

Geographisch ist die Erzählung jedoch klar in den ‚Mikrasch‘, den sogenannten Mikrorajon-Bezirken im Süden von Bischkek, verankert. Wie in anderen Städten der ehemaligen Sowjetunion stand der Mikrorajon, welcher mit seinen eigenen sozialen und kulturellen Einrichtungen als autarkes Wohngebiet konzipiert war, sinnbildlich für das urbane Leben der poststalinistischen Sowjetzeit (und darüber hinaus). Als Zeitfragment und Geschichtszeugnis zugleich dokumentiert das Album das Leben in den (post-)sowjetischen Plattenbauviertel der jüngeren Vergangenheit vor der Zukunftsskyline in den Himmel ragender Luxusneubauten.

Gleich nach dem Titelsong erzählt das Rapstück 39 Schkola, wie die Protagonisten es mit einem physischen Angriff von Schülern der benachbarten 39. Schule zu tun haben. Bis in die 2000er hatte diese Schule tatsächlich den Ruf, von besonders harten Straßenkämpfern besucht zu sein. Auch wenn der Vizedirektor im Text die Mutter des Erzählers anruft und ihren Sohn als „verfickten Myrk“ bezeichnen, verwendet er dabei eine lokale Beschimpfung für zugezogene aus ländlichen Gegenden.

Das begleitende Musikvideo ist zwar in einer anderen Schule gedreht, mischt aber erfolgreich eine ‚globalisierte‘ Teenieserienästhetik mit Bezügen auf die Besonderheiten des Bischkeker Schullebens vor der Verbreitung des Internets. Das gilt etwa für die organisierten Schulkämpfe mit ihren Regeln („Ich bin nominiert, um im eins zu eins zu kämpfen/ Sie haben mich verarscht, gesagt, das muss so sein“) oder auch das Geldeintreiben von älteren Schülern bei jüngeren. Auch der Rest des Albums ist durchsetzt von kleinen, aber präzisen Zitaten und Bezügen auf den besonderen Kontext des Albums. Manche Ausdrücke dürften den russischsprachigen Hörern außerhalb von Kirgistan kaum geläufig sein.

In Tschjort (Teufel) etwa: „Mein Herz ist kälter als Metall/ Ich lache dort, wo man nicht sollte, wo man sagt ‚Kojtchu Bratan‘ (Kirgisisch ‚Lass es‘ und Russisch ‚Bruder‘)“ oder die schmeichelnden Worte in Pol Lyama (eine halbe Mille): „Dein Arsch ist [wie aus] Stein“ (Russisch ‚Schopa‘ und Kirgisisch ‚Tasch‘) . Dasselbe gilt für spezifische geographische Bezüge, die dazu einladen, sich näher mit der Umgebung der zwei Musiker zu befassen. Der Erzähler im gleichen Track hat seine Geliebte zuletzt „an dem Abend, irgendwo bei dem Denkmal, wo der achte Mikrorajon ist“ geküsst.

Farbe für die Musiklandschaft

Wie bereits in ihrem ersten Album geht es Wtoroj Ka vor allem darum, einen eigenen Sound und eine Ästhetik für ihre Heimatstadt Bischkek zu prägen. Diesmal wollen sie vor allem kunterbunte Farben in die Musiklandschaft tragen. Die aufregende Lebenswelt von Jugendlichen, ihre intensiven emotionalen Sorgen und Sensibilität bieten an sich schon viel Material für farbenfrohe Motive. Dabei bringt das Album eigene Erlebnisse aus den 2000ern, wie etwa die Schulkämpfe, mit den vermeintlichen Erlebnissen der heutigen Jugend zusammen.

So beziehen sich manche Stücke auf soziale Praktiken in sozialen Medien in den 2010ern: „Lösch ruhig dein Instagram und VK, ich geb‘ einen Scheiß drauf“, in Kompromiss. So auch das poetische „Ich konnte irgendwie mit zitternden Fingern bis an die Pforte deines Instagram treten“, in Stories. Und weiter: „Ich tanze mit Fingern über den Bildschirm/ muss nur nicht stecken bleiben, keine Spur hinterlassen“, das Ganze zu einem besonders Karaoke-kompatiblem Gesang und akustischer Gitarre. Die direkt eingespielten Gitarren- und teils Schlagzeugspuren tragen vermeintlich zur Atmosphäre bei – insbesondere die erste Hälfte des Albums verfolgt einen poppig fröhlichen Ton. Ebenso die zahlreichen Lautmalereien (oooooo, lalalal, papapapa…), die förmlich zum Mitsingen einladen.

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Jenseits der Musik haben Wtoroj Ka bei der Promo des Albums auch besonderen Wert auf eine begleitende visuelle Ästhetik gelegt, inklusive dem Ausdruck einer gewissen Metrosexualität, wie man in den 1990ern gesagt hätte. In den begleitenden Fotosessions zeigen sich die durchgestylt in unterschiedlichen Locations, je als harte Jungs im Auto, im Anzug ohne Hemd auf dem Golfplatz und als eingespieltes Duo im Fotostudio. Das Album Cover zeigt sie in braver Pose als Engel und Teufel auf einem Sofa sitzend, mit hinzugenähten Symbolbildern von Geld, Liebe, Apotheke und den Bergen, die unmittelbar südlich vom Asanbaj-Bezirk beginnen.

Der Ernst des Lebens

Tatsächlich soll das Album eher ein jüngeres Publikum ansprechen, das bekannterweise das Gros der Musikhörenden ausmacht. Wem die Stücke über Liebe und Social Media zu teeniehaft sind, der findet in der zweiten Hälfte eine Wende zu ernsteren Themen und etwas mehr Rap. Die Romantik weicht dem Wagemut und dem Umgang mit den Schwierigkeiten des Lebens. „Ich bin in Bischkek, das heißt ich weiß, was von ganz unten heißt“, stellen die Autoren klar und fordern den Teufel heraus ihnen doch mal zu erklären, wie man in dieser Stadt leben soll.

Wtoroj Ka
Durchestylt in der nächtlichen Stadt. Iliya und Sultan (vlnr) von Wtoroj Ka.

In dem Teil zeigen sich Wtoroj Ka auch introspektiver. Das melancholische „[Noch eine Woche] auf den Sonntag warten“, ist eine Abhandlung über die (Selbst-)Zweifel des musikalischen Autors: „Die Lieder sammeln sich an und sie alle drehen sich um…/ Nicht um das was ich wollen würde.“ Interessanterweise gibt es auf dem Album keinen gemeinsamen Track von Iliya und Sultan, und dennoch scheinen sie zu einem Erzähler zu verschmelzen. In Papina Maschina (Papas Auto) taucht mit dem Vater ein weiterer Charakter in der Serie auf. Der Hauptcharakter stielt sein Auto, um zu seiner Geliebten zu fahren, und „mein Vater wird nicht froh sein, aber mir ist seine Meinung egal“. Dem erzählenden Subjekt vergeht aber ganz schnell sein jugendlicher Übermut als während der nächtlichen Kiff-Kredenzen „drei Bullen ans Fenster klopfen“. So gibst sich der Erzähler im Chorus kleinlaut und fleht reuig um eine „letzte Chance“.

Spätestens hier muss man merken, dass es Wtoroj Ka weniger um platte Attitüden und demonstrative Hypermaskulinität geht als darum, einen eigenen narrativen Mikrokosmos zu schaffen, der das Leben im Mikrasch in all seinen Facetten, Höhen und Tiefen einzufangen vermag. Das Album schwingt hier besonders gekonnt zwischen Authentizität und Fiktion, biographischen Selbstreferenzen und ironischer Selbstdistanz. Seinen narrativen Höhepunkt erreicht das Album ganz am Ende, in „My igraem do Kontsa“ (Wir spielen bis zum Schluss), einem gekonnten Storytelling über den Werdegang von Wtoroj Ka, den ersten musikalischen Schritten und die Querfinanzierung durch eine Nebentätigkeit im Webcam-Business. Auch hier taucht wieder die dramatische Parallele zum Vater auf, der wegen Steuerschulden von den Behörden gesucht wurde: „Am Ende konnten sie den Vater nicht schnappen/ Ich weiss selbst nicht, in welcher Ecke er sich herumtreibt/ Eine Woche später treffen wir uns in der Leichenhalle/ Mein Vater hat auch bis zum Ende gespielt.“

Musikalische Ambitionen

Unser Ziel ist es, dass man nach dem ersten Durchhören denkt: ‚Was war das? Das hab‘ ich nicht verstanden!‘, und dann gleich noch einmal durchhört“, kommentiert Iliya das Album im Gespräch mit Novastan. So ist das Album auch als ein weiterer Karriereschritt in dem Werdegang der noch Nischenhaften Gruppe gedacht. Die Stücke waren meist schon vor zwei Jahren geschrieben, nur eben im Laufe des Frühlings zu einem Album zusammengetragen.

Ob der große Durchbruch diesmal kommt oder mit dem nächsten Album bleibt abzuwarten. Ein Fehdehandschuh an die lokale und weitere russischsprachige Musikindustrien ist es allemal: „Ich sehe keine Musiker, nur irgend wessen Geld/ Drum herum Leute, die Pudern, auf Target setzen/ Und nun bei Urgants Wanja auf dem ersten Kanal…“, reimen sie in Tschjort in Anspielung auf eine beliebte Late Night Show im russischen Fernsehen. Seine Ambitionen, zum mehrfachen Hören anzuregen, erfüllt das Album allemal. In fast jedem Stück versteckt sich eine eingängige prägende Melodie, die dann aber gleich durch das nächste Stück verdrängt wird. Da bleibt nur noch der Replay-Knopf, um alle Feinheiten zu erfassen. Serial ist auf allen gängigen Streaming-Plattformen zu hören.

Florian Coppenrath und David Leupold für Novastan.org

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