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Kasachstans Regierung schiebt Schuld für wirtschaftliche Probleme der Bevölkerung zu

In seiner jüngsten Ansprache an die Nation warf Kasachstans Präsident Qasym-Jomart Toqaev den Kasachstanern erneut „soziales Schmarotzertum“ vor und setzte damit die Praxis ähnlicher Äußerungen seines Vorgängers Nursultan Nazarbaev fort.

Kasachstans Präsident Qasym-Jomart Toqaev bei der Besichtigung einer Fabrik. Foto: Aqordy

In seiner jüngsten Ansprache an die Nation warf Kasachstans Präsident Qasym-Jomart Toqaev den Kasachstanern erneut „soziales Schmarotzertum“ vor und setzte damit die Praxis ähnlicher Äußerungen seines Vorgängers Nursultan Nazarbaev fort.

Laut dem Präsidenten förderte die Regierung seit mindestens fünfzehn Jahren ein „soziales Betrugssystem“. Nun müsse der Staat seine Sozialpolitik überarbeiten, was voraussichtlich zu einer Verringerung der Zahl der Empfangenden staatlicher Leistungen führen werde.

Experten sind der Ansicht, dass solche Aussagen Teil des ideologischen Narrativs der kasachstanischen Eliten sind. Sie schieben die Verantwortung für die Armut auf die Bevölkerung, um das Versagen der staatlichen Wirtschaftspolitik zu verschleiern und Ungleichheit zu rechtfertigen.

„Pomogajki“ und Scheidungen für Sozialleistungen?

„Die kurzsichtige, beschwichtigende Sozialpolitik des Staates führte zu über hundert verschiedenen Vergünstigungen, von denen eine eigene Gruppe von Bürgerinnen und Bürgern profitiert – die sogenannten ‚Pomogajki‘ [umgangssprachlich etwa „Sozialhilfejäger“, Anm. d. Übers.]. (…) Wozu soll man arbeiten, wenn man Beihilfen erhalten kann – sogar gezielte Sozialhilfe für jedes Familienmitglied?“, verlautete Toqaev in seiner Ansprache.

In den Reden des Präsidenten wird der soziale Teil mit besonderer Spannung erwartet – dort spricht er meist über Lohnerhöhungen, neue Beihilfen und Programme wie den „Nationalen Fonds für Kinder“.

Baıterek in Astana. Foto: Janary Karimova

Doch in diesem Jahr griff Toqaev die Sozialpolitik der Regierung scharf an und forderte eine Überprüfung und Vereinheitlichung. Seiner Meinung nach hätten die zuständigen Ministerien Missbrauch und „soziale Betrugsfälle“ unter der Bevölkerung provoziert.

„Unsere Sozialpolitiker haben eine neue Kategorie für Vergünstigungen erfunden – für Alleinerziehende. In der Folge stieg die Zahl der Scheidungen sprunghaft an. In diesem Bereich gehörten wir zeitweise sogar zu den Spitzenreitern weltweit. Solche Beispiele gibt es viele – wir fördern selbst Faulheit und Abhängigkeit“, so der Präsident.

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Toqaev behauptete außerdem, dass Veteranen der sowjetischen Kriege weiterhin Zahlungen erhielten, obwohl ihre Zahl „zunehme und sie immer jünger werden“. Zudem überforderten Menschen aus den Regionen die Infrastruktur der Hauptstadt, weil es vor Ort keine gleichen Chancen gebe: „Statt die Stadt vorausschauend zu entwickeln, ist [die Stadtverwaltung von Astana] gezwungen, erhebliche Mittel für soziale Ausgaben bereitzustellen“, sagte Toqaev.

Fortsetzung einer Strategie

Aussagen wie diese setzen die antisoziale Rhetorik Nursultan Nazarbaevs fort. Bereits 1997 erklärte der ehemalige Präsident in seiner Strategie Kasachstan 2030, der Staat solle nur die schwächsten Gruppen unterstützen – alle anderen müssten „selbst zurechtkommen“. Damit rechtfertigte er die Kürzung sozialer Leistungen im Zuge der marktwirtschaftlichen Reformen.

„Nazarbaev legte die ‚neoliberale‘ Logik fest, die soziale Ungleichheit normalisierte und das Individuum statt des Staates für sein Wohlergehen verantwortlich machte“, analysiert Eugenia Pesci, Doktorandin an der Universität Helsinki.

Diese Rhetorik, so Pesci, sei weltweit verbreitet. In den postsowjetischen Ländern stütze sie sich auf das Argument, dass die Sowjetbürgerinnen und -bürger durch das umfassende soziale Sicherungssystem – „von der Wiege bis zum Grab“ – in Abhängigkeit geraten seien.

Gerade in dieser Zeit, als Nazarbaev die antisoziale Rhetorik übernahm, führte er im Land eine „Schocktherapie“ durch: massive, unkontrollierte Privatisierung staatlicher Vermögenswerte, Liberalisierung der Preise, Deregulierung des Arbeitsmarktes und den Abbau sozialer Garantien.

Nach dieser Phase kehrte Nazarbaev regelmäßig zum Thema des „Schmarotzertums“ zurück. 2017 etwa sprach er von „sozialem Betrug“ – einem Begriff, den Toqaev acht Jahre später in seiner eigenen Ansprache übernehmen sollte.

„Wir gewöhnen die Menschen an Abhängigkeit. Es gibt schon genug Vergünstigungen und Krediterlasse. Es kommt vor, dass hundert Menschen von irgendwo [aus den Regionen] in einem Zimmer registriert werden und dann gemeinsam eine Wohnung [in Astana] erhalten. […] Um [eine Wohnung] zu besitzen, muss man arbeiten. Arbeit gibt es in Kasachstan. Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen – das ist das Prinzip“, sagte Nazarbaev damals.

Gleiche Rhetoriken der Präsidenten

Bereits am dritten Tag nach seiner Amtseinführung 2019 zeigte Toqaev, dass er ähnliche Ansichten vertritt: „Man darf soziales Schmarotzertum unter denen, die keine Arbeit suchen, nicht fördern. Der Staat wird die sozial Schwachen unterstützen. Alle anderen müssen arbeiten.“

Doch sowohl Nazarbaev als auch Toqaev ändern ihre Haltung zum Thema „Schmarotzertum“ je nach politischer Notwendigkeit. Jeweils kurz vor den Wahlen beider Präsidenten wurden Löhne und Sozialleistungen erhöht.

Weiter nutzten beide Krisenzeiten aus, um ihre Popularität zu festigen. Nach der Abwertung 2015 und der folgenden Wirtschaftskrise kündigte Nazarbaev nicht nur Lohnerhöhungen, sondern auch eine neue Sozialpolitik an. Und Toqaev weitete nach einem Brand in Astana 2019, bei dem fünf Kinder starben, deren Eltern nachts arbeiteten, um die Familie zu ernähren, die Unterstützung für kinderreiche Familien aus.

Protest von „Müttern mit vielen Kindern“ in Astana 2019. Foto: Tamara Vaal

Auch nach dem Blutigen Januar 2022 erhöhte Toqaev den Mindestlohn. Damals hatten die Demonstrierenden gefordert, Nazarbaev und seine Familie ihrer formellen und informellen Macht zu entheben.

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„Die Sozialpolitik schwankt je nach politischer Lage zwischen Großzügigkeit und Sparsamkeit. Wenn Legitimität nötig ist, werden Leistungen ausgeweitet; sobald der Druck nachlässt, kehrt die Rhetorik der Kürzungen zurück“, betont Pesci.

Der Politologe Dimaş Alşanov ergänzt: „Das ist kein Widerspruch, sondern Teil der Funktionsweise des Regimes. Die Regierung hat einen großen Teil der Gesellschaft arm und abhängig von staatlicher Umverteilung gemacht. Vor Wahlen werden die Sozialleistungen erhöht, um Unzufriedenheit zu dämpfen. Aber strukturelle Reformen, die die Menschen wirtschaftlich unabhängig machen würden, finden nicht statt.“

Nach den Wahlen 2022, bei denen die pro-präsidentielle Partei Amanat und Toqev ihre Macht bestätigten, kehrte der Staat zur „Schmarotzertums“-Rhetorik zurück. Es wurde vorgeschlagen, Beihilfen für Menschen mit Krediten oder ohne festen Wohnsitz zu streichen, Mutterschafts- und Kinderbetreuungsgelder zu kürzen sowie die Sozialausgaben zu senken und „zielgerechter“ einzusetzen.

„Selbst wenn es zu Beihilfe in einigen Fällen kam, ist das Problem des „Schmarotzertums“ stark übertrieben“, findet Pesci. Die Zahl der Empfangenden gezielter Sozialhilfe sei ohnehin rückläufig, von über 2 Millionen im Jahr 2019 auf 413.000 im letzten Jahr (2024). Die durchschnittliche Zahlung betrug 7.959 Tenge (ca. 14,50 US-Dollar).

„Die Entscheidung, die Armutsgrenze für Sozialhilfe an das Medianeinkommen statt an das Existenzminimum zu koppeln, hat zwar mehr Familien anspruchsberechtigt gemacht, aber die Zahl der Empfangenden ist immer noch weit von früheren Werten entfernt“, so die Expertin.

Darina Ualihanqyzy vom Forschungszentrum „Paperlab“ meint, dass die „Schlupflöcher“, die Menschen nutzen, eine direkte Folge der instabilen wirtschaftlichen Lage seien: „Lohnerhöhungen, die die Inflation ausgleichen, sind nur in wenigen großen Unternehmen üblich. Der Großteil der Bevölkerung lebt in unsicheren oder sogar unfreiwilligen Arbeitsverhältnissen. In so einem Umfeld wird das Suchen nach Alternativen zu einer Überlebensstrategie. Menschen deshalb als ‚faul‘ oder ‚abhängig‘ zu bezeichnen, ist nicht nur unfair, sondern schlicht falsch.“

Strukturelle Probleme statt „Faulheit

Auch der Soziologe Galym Jusipbek kritisiert Toqaevs Aussagen scharf: „Ich sehe keinen Zusammenhang zwischen Beihilfen und Scheidungen. Sind die Leistungen wirklich so hoch, dass sie Menschen zur Scheidung motivieren könnten? Bei den aktuellen Beträgen kann man gerade so Brot und Wasser kaufen.“

Ebenso bezweifelt er, dass Menschen nur wegen Sozialleistungen in die Hauptstadt ziehen: „Die Menschen wandern in große Städte, weil die Infrastruktur in den Regionen seit den 1990er-Jahren abgebaut wurde. Damals wurde etwa die Hälfte aller Krankenhäuser geschlossen – vor allem in ländlichen Gebieten.“

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Bevor man die Kasachstaner der Abhängigkeit bezichtige, müsse man verstehen, für wen die Wirtschaft überhaupt funktioniere: „Für die einfachen Bürger oder für Oligarchen und multinationale Konzerne? Selbst das Öl arbeitet nicht für das Volk“, so Jusipbek.

Pesci stimmt zu: Die Rhetorik vom „Schmarotzertum“ verdecke die tatsächlichen Barrieren, die Menschen daran hindern, der Armut zu entkommen. „Ein Mangel an Arbeitsplätzen auf dem Land, niedrige Löhne und Pflegepflichten für Angehörige schränken die Möglichkeiten armer Familien ein, ihre Lage zu verbessern – unabhängig von Motivation oder Fleiß“, erklärt sie.

Atyrau. Foto: Almas Kaısar

Zudem seien staatliche Programme keine wirkliche Lösung: „Bezahlte gemeinnützige Arbeiten und subventionierte Jobs sind nur kurzfristig. Mikrokredit- und Unternehmensförderprogramme verschulden Familien zusätzlich und bieten keine stabile Einkommensquelle.“

Jusipbek fasst zusammen: „Obwohl Kasachstan sich in der Verfassung als Sozialstaat bezeichnet, ist es in der Praxis keiner. Wenn der Mindestlohn 300.000 bis 400.000 Tenge betragen würde, könnte man über ‚Abhängigkeit‘ reden. Doch in der jetzigen Lage ist das unangebracht – die Menschen arbeiten in mehreren Jobs und ertragen enorme Belastungen.“

Ualihanqyzy schlussfolgert: „Das kasachstanische Sozialsystem wurde falsch konzipiert – ohne Verständnis für die reale Lebenssituation der Menschen und ohne effektive Kontrolle. Dadurch verliert die Gesellschaft das Vertrauen in soziale Institutionen und die Diskussion wird erneut von Fragen der Regierungsqualität auf die Moral der Bevölkerung abgelenkt.“

Almas Kaısar für Vlast

Aus dem Russischen von Michèle Häfliger

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