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Kasachstanische Russ:innen: eine Bevölkerung, die im Zuge des Krieges in der Ukraine fluktuiert

ENTSCHLÜSSELUNG. Russ:innen sind die zweitgrößte ethnische Gemeinschaft Kasachstans. Sie leben hauptsächlich im Norden und Osten des Landes und tendieren seit dem Ende der UdSSR zunehmend dazu, dauerhaft nach Russland zu migrieren. Unterdessen steht die kasachstanische Regierung schon seit Jahren vor der Herausforderung der sogenannten „Rekasachisierung“ jener Regionen, in denen ethnische Russ:innen am stärksten vertreten sind. Wie wirkt sich Russlands Krieg in der Ukraine auf das Zusammenleben der Bevölkerung Kasachstans aus? Eine Analyse.

Photo: Peretz Partensky / Flickr.

ENTSCHLÜSSELUNG. Russ:innen sind die zweitgrößte ethnische Gemeinschaft Kasachstans. Sie leben hauptsächlich im Norden und Osten des Landes und tendieren seit dem Ende der UdSSR zunehmend dazu, dauerhaft nach Russland zu migrieren. Unterdessen steht die kasachstanische Regierung schon seit Jahren vor der Herausforderung der sogenannten „Rekasachisierung“ jener Regionen, in denen ethnische Russ:innen am stärksten vertreten sind. Wie wirkt sich Russlands Krieg in der Ukraine auf das Zusammenleben der Bevölkerung Kasachstans aus? Eine Analyse.

Volkszählungen aus dem Jahr 2023 haben ergeben, dass in Kasachstan 15,18 Prozent der Bevölkerung ethnische Russ:innen sind. Das sind etwa 3 Millionen, wobei die Gesamtbevölkerung Kasachstans 19 Millionen zählt. Russ:innen sind gleich nach den ethnischen Kasach:innen die zweitgrößte Bevölkerungsgruppe im Land. Die Kasach:innen bilden mit 70,7 Prozent der Bevölkerung in allen Regionen die Mehrheit, außer in einigen nördlichen Regionen, in denen Russ:innen zahlreicher vertreten sind, so das kasachstanische Medium Vlast.kz.

Die sowjetische Kollektivierungskampagne der 1930er-Jahren führte damals eine beträchtliche Zahl ethnischer Kasach:innen in den Tod. Der Hungersnot unterlagen fast 1,3 Millionen Kasach:innen, rund ein Viertel der damaligen kasachstanischen Bevölkerung. Weitere Millionen sahen sich gezwungen, ins Ausland zu fliehen.

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So bildeten ethnische Russ:innen in der Kasachstanischen Sowjetrepublik schließlich die Mehrheit. Seit dem Ende der UdSSR betreibt Russland allerdings eine Art Rückholpolitik, um die kasachstanischen Russ:innen nach Russland zu locken.

Laut einer Volkszählung im Jahr 1989 lebten in den nördlichen und östlichen Regionen durchschnittlich von 40 bis zu 60 Prozent Russ:innen. Diese kasachstanischen Russ:innen, die nahe der rund 6000 Kilometer langen Grenze zu Russland leben, stellen auch heute noch einen wichtigen Hebel für den Einfluss des Kremls in seinen Beziehungen zu Kasachstan dar, aber auch eine demografische Herausforderung für die kasachstanischen Behörden.

Stagnation der russischen Auswanderung

Während die Zahl der ethnischen Russ:innen in Kasachstan von Jahr zu Jahr abnahm, scheint es seit dem Angriffskrieg in der Ukraine eine Trendwende zu geben. Eine aktuelle Studie des Central Asian Bureau for Analytical Reporting (CABAR) zeigt, dass im Jahr 2022 nur 14.800 ethnische Russ:innen Kasachstan verließen. Die Zahl im Jahr zuvor hatte noch mehr als das Doppelte betragen.

In den letzten zehn Jahren haben jedes Jahr zwischen 1000 und 4000 Menschen aus unterschiedlichen Gründen eine der nördlichen Regionen Kasachstans verlassen. Während der Covid-19-Pandemie war dieser Trend bereits zurückgegangen: 2019 verließen 31.000 Menschen Kasachstan, 2020 waren es nur noch 19.000.

Die Soziologin Halida Ajigulova erwartet, dass bei den kasachstanischen Russ:innen die Tendenz nach Russland zu migrieren weiter abnehmen wird. Als Grund dafür sieht sie den Krieg in der Ukraine und seine ökonomischen wie auch sozialen Folgen. „Es wird für die nächsten zehn Jahre generell unsicher, irrational sein, sich dauerhaft in Russland niederzulassen“, erklärt die Soziologin in der Studie von CABAR.

Nach Ansicht einiger Analyst:innen handelt es sich dabei allerdings nur um eine vorübergehende Stagnation. Daher würde in diesen Gebieten, die weit von den städtischen Zentren entfernt sind, der Anteil der Russ:innen weiter sinken.

In den letzten 20 Jahren haben mehr als 100.000 Menschen den Norden Kasachstans verlassen, stellt eine Reportage von Vlast fest. Nicht alle ziehen aber ins Ausland: Manche siedeln auf der Suche nach Bildung und Arbeit in die Großstädte Kasachstans um.

Gezielte „Rekasachisierung“ der Gebiete

Diese immer leerer werdenden Gebiete, in denen Russ:innen nach wie vor nahezu die Mehrheit der Bevölkerung stellen, werden mit ethnischen Kasach:innen aus dem Ausland bevölkert. Diese sogenannten Qandas werden seit Kasachstans Unabhängigkeit im Jahr 1991 durch politische Maßnahmen zur Remigration nach Kasachstan bewegt: 1 Million von ihnen haben sich laut Daten aus dem Jahr 2016 bereits in Kasachstan niedergelassen. Nach wie vor leben etwa vier Millionen Kasach:innen außerhalb der Grenzen Kasachstans, hauptsächlich in den Nachbarsländern Usbekistan, China und Turkmenistan.

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Im Jahr 2022 führte die Regierung Quoten für die Umsiedlung von Qandas in sieben Gebieten ein, die sich vom Nordosten bis zum Nordwesten des Landes erstrecken: Ostkasachstan, Pavlodar, Aqmola, Nordkasachstan, Qostanaı, Westkasachstan und Atyraý. Die Repatriierten profitieren dabei von zusätzlichen finanziellen Anreizen, die anderen Neubewohnern nicht zur Verfügung stehen.

Dieses Phänomen tritt laut Radio Free Europe zunehmend häufiger auf. Astana versucht mit seiner Politik, ein „ethnisches Gleichgewicht“ in den nördlichen Regionen zu erreichen, um den Einfluss Moskaus nahe seiner Grenze zu verringern. In diesen Regionen wird Russisch immer noch weitaus häufiger gesprochen als Kasachisch.

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Darüber hinaus werden insbesondere seit Beginn des Ukraine-Kriegs in Kasachstan Debatten über die Politik einer nationalen Einheit geführt. Diese stellen den Status von Russ:innen und anderen nicht-kasachischen ethnischen Gruppen in Frage. Wie Orda berichtete, forderte kürzlich ein Abgeordneter im Sinne eines „strukturierteren nationalen Aufbaus“ die Bezeichnung Kasachstaner:in für Bürger:innen Kasachstans, die keine ethnischen Kasach:innen sind, abzuschaffen. Damit einhergehend wurde die Streichung der ethnischen Zugehörigkeit aus kasachstanischen Pässen zur Debatte gestellt.

Emma Collet, Redakteurin für Novastan

Aus dem Französischen von Berenika Zeller

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