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Grenzen und Brücken bei der Herausbildung einer regionalen zentralasiatischen Identität

Die Grenzen für die Herausbildung einer intraregionalen zentralasiatischen Identität liegen in den nationalen Geschichtsbildern, die von den politischen Eliten der jeweiligen Länder instrumentalisiert werden. Dies erschwert den Integrationsprozess, stellt Erkin Baıdarov in einem Beitrag für das Central Asian Bureau for Analytical Reporting (CABAR) fest.

Das Amir-Temur-Denkmal inmitten des nach Ihm benannten Platzes in Usbekistans HauptstadtTaschkent
Amir Temur, Herrscher aus dem Mittelalter, gilt heute als einer der Nationalhelden Usbekistans, Photo: Auriane Pichard

Die Grenzen für die Herausbildung einer intraregionalen zentralasiatischen Identität liegen in den nationalen Geschichtsbildern, die von den politischen Eliten der jeweiligen Länder instrumentalisiert werden. Dies erschwert den Integrationsprozess, stellt Erkin Baıdarov in einem Beitrag für das Central Asian Bureau for Analytical Reporting (CABAR) fest.

Die Frage der Formierung einer regionalen Identität in Zentralasien gewann Ende Dezember 2022 wieder an Relevanz, als Regierungsvertreter aus Kirgistan (Sujunbek Kasmambetow, kirgisischer Staatssekretär) und Usbekistan (Eldor Aripov, Direktor des ISRS – Institut für strategische und regionale Studien – beim Präsidenten Usbekistans) im Rahmen des Zentralasiatischen Medienforums in Astana gemeinsam über die Notwendigkeit sprachen, „sich nicht nur als Teil ihres Landes, sondern auch als Teil der gemeinsamen Region, als  Zentralasien, zu verstehen.“

Die geopolitischen Turbulenzen in den internationalen Beziehungen und die politischen und soziokulturellen Spaltungen haben die Diskussion über die Identität der zentralasiatischen Gemeinschaften wieder aufleben lassen. Die geopolitischen Machtungleichgewichte wirken sich auch auf Zentralasien aus und haben zu einer Entropie der zentralasiatischen Gesellschaftssysteme geführt. [Es handelt sich um eine Anspielung auf das aktuelle Kräftemessen zwischen Russland und dem Westen – Anm. der Red. v. Novastan].

Was bedeutet „Identität“?

Wenn man von „Identität“ spricht, ist es wichtig, eine angemessene Definition dieses Begriffs zu wählen, da er verschieden interpretiert und angewendet wird. Nach dem interdisziplinären Wörterbuch der „Globalistik“ ist Identität eine gewisse Dauerhaftigkeit individueller, kultureller oder zivilisatorischer Parameter, ihre Selbstidentifikation, wobei die ersten Identitätsebenen mit der traditionellen (nationalen) Kultur verbunden sind.

Das wachsende Verständnis für die Rolle der Identität im menschlichen Leben und in der Gesellschaft führt jedoch zu der Schlussfolgerung, dass die grundlegenden Institutionen der zentralasiatischen Staaten wie Politik und Wirtschaft nicht ohne Bezug auf die regionale Identität funktionieren können.

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Bereits in den 1930er Jahren wies Mustafa Shokaı (1890-1941) in einer Ansprache an die Jugend von „Zentralasien und Kasachstan“ auf die vermeintlich gemeinsamen historischen Wurzeln der Völker der Region hin. Sie hätten die gleiche regionale Kultur, die gleichen Traditionen und Bräuche, ein gemeinsames soziales und politisches Ideal und eine gemeinsame, unteilbare Region (Turkestan, Turan oder Transoxanien) mit gemeinsamen materiellen und geistigen Werten.

Herausbildung einer regionalen Identität Zentralasiens

Genau vor dieser Aufgabe stehen die politischen und intellektuellen Eliten Zentralasiens heutzutage. Es geht darum, die Bedeutung der zentralasiatischen Region und ihre Subjektivität in den internationalen Beziehungen wiederherzustellen. Dazu gehört die Intensivierung der intraregionalen Beziehungen ebenso wie die Aufmerksamkeit der Welt- und anderer Regionalmächte für die Region. Die Rolle Zentralasiens als – wie es Kasachstans Präsident Qasym-Jomart Toqaev formulierte – „Schnittstelle zwischen Russland, China, Südasien, dem Nahen Osten und dem Südkaukasus“ nimmt aufgrund der neuen geopolitischen Realitäten rapide zu.

So ist in den letzten Jahren in vielerlei Hinsicht ein Trend zur regionalen Annäherung der Staaten zu beobachten. Die Vielfalt der jeweiligen Kooperationsansätze zwischen den zentralasiatischen Staaten schmälert dabei nicht die Bedeutung überregionaler Verbindungen. Dies zeigt sich bereits heute in verschiedenen bi- und multilateralen Verträgen über gemeinsame Aktivitäten in politischen, wirtschaftlichen, kulturellen und anderen Bereichen, auch wenn deren Auswirkungen noch nicht wirklich spürbar sind.

Im Spannungsfeld zwischen Wirtschaft und Geopolitik der Länder der Region versucht die Ökonomie, die nationalen Wirtschaftsstrategien miteinander zu verknüpfen, während die Geopolitik die Integrationsprozess erschwert. Auf diese Weise werden bestimmte (ethnisch-nationale, territoriale und andere) Ansprüche, die sich nicht in den stabilen und fortschreitenden historischen und wirtschaftlichen Prozess einfügen, wieder hervorgeholt.

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Dies führt zur Aushöhlung der politischen Instrumente und zur Entstehung einer Reihe von Konfliktzonen. Gleichzeitig legen die Schwächung und Zerstörung alter Formen kollektiver, ethnischer, territorialer und sozialer Identität in der Gesellschaft den Grundstein für die Entstehung neuer struktureller Heterogenität und sozialer Differenzierung. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit, nicht nur die geopolitische und geoökonomische, sondern auch die soziokulturelle Dimension zu berücksichtigen.

Die Barrieren sind zum Teil in den komplexen kulturpolitischen Selbstdefinitionen der Staaten der Region begründet. So wird beispielsweise ein Unterschied zwischen nomadischen und sesshaften Gesellschaften gemacht. Dies führt zu gegenseitigem Unverständnis und verhindert Interaktionen zwischen den verschiedenen Kulturen der in der Region lebenden Bevölkerung. Vor diesem Hintergrund stellt die Herausbildung einer regionalen Identität der Bevölkerung Zentralasiens eine Herausforderung auf politischer und soziokultureller Ebene dar.

Herausbildung einer regionalen Identität Zentralasiens

Zur Herausbildung einer regionalen Identität der zentralasiatischen Länder stehen folgende Aufgaben an:

  • Erforschung der historischen Wurzeln und Untersuchung der wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Faktoren der zentralasiatischen Identität;
  • Analyse der hanafitischen Madhhab und des Maturidismus als doktrinäre Glaubensgrundlagen der muslimischen Umma der Region als eines der Identifikationsmerkmale der zentralasiatischen Identität;
  • Untersuchung der sprachlichen Zusammensetzung der regionalen Identität anhand der Turksprachen, des Farsi und des Arabischen als ethnisch-kulturelle und ethnisch-konfessionelle Grundlage der regionalen Identität;
  • Untersuchung der ethnischen Identität und des ethnischen Nationalismus, der kulturellen Identität und des kulturellen Nationalismus (Ursprünge und gegenwärtiger Stand) der zentralasiatischen Gesellschaften;
  • Analyse der Rolle der wirtschaftlichen und politischen Integration bei der Herausbildung der regionalen Identität, Identifizierung von Desintegrationsfaktoren;
  • Untersuchung der soziokulturellen Integration und der Auswirkungen aktueller Herausforderungen auf den Prozess der Regionalisierung Zentralasiens;
  • Anregungen zur Erarbeitung regionsweiter Symbole (soziale Einrichtungen, Bräuche, Traditionen, historische Persönlichkeiten, kulturelle Marken etc.), die die zivilisatorische Matrix Zentralasiens repräsentieren

Neuinterpretationen der Geschichte als Hindernis für die regionale Identität

Die Länder Zentralasiens, die zusammen eine Art vagina gentium“ (Wiege der Nationen“) bilden, sind in der gegenwärtigen Phase ihrer Entwicklung nicht nur mit dem Aufbau und der Stärkung ihrer eigenen nationalen Strukturen beschäftigt, sondern auch mit der Herausbildung einer eigenen nationalen Identität, die eine neue Interpretation der Geschichte mit sich bringt.

Die alte und mittelalterliche Geschichte der ethnischen Gemeinschaften in der Region wird heutzutage oftmals mythologisiert, wobei tatsächliche Quellen und wissenschaftliche Forschungsmethoden ignoriert werden. Geschafft wird eine Pseudogeschichte, die als politische Ressource“ genutzt wird. Manche Autor:innen zeitgenössischer Publikationen glorifizieren die ferne Vergangenheit des eigenen Volkes hemmungslos und spielen im Gegensatz dazu die Geschichte anderer Bevölkerungsgruppen der Region bewusst herunter.

Kennzeichnend sind auch nationale Auseinandersetzungen um Deutungen vergangener Epochen: Damit einhergehend führen Vertreter:innen verschiedener Nationen wissenschaftlich-politische Diskussionen über die nationale“ Zugehörigkeit der einen oder anderen historischen Persönlichkeit (z. B. al-Fārābī, ibn Sīnā, Yūsuf Balasaguni, Qоjа Аhmet Iassaúi kesenеsі, Ali Schir Nawāʾi und so weiter).

Die Berufung auf die großen Vorfahren“ ist in der Regel eine der Ressourcen der ethnischen Mobilisierung im Kampf um nationale Souveränität. Das macht die Artikulation von Geschichtsbildern (Schlüsselelemente der ethnopolitischen Geschichte) zum wichtigsten Element ethnischer Identifikation. So gesehen existiert und funktioniert das Ideologem Nationalgeschichte“ im Rahmen national orientierter Weltbilder und Denkstrukturen.

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Um es mit den Worten des zeitgenössischen tadschikischen Philosophen der Akademie der Wissenschaften der Republik Tadschikistan, Akbar Turson, zu formulieren: Der politisch verfrühte und moralisch unreife zentralasiatische Nationalismus ist eindeutig zu einer Ideologie des egoistischen Subethnizismus verkommen, die eine lokal-pathologische Form angenommen hat, in der die provinziellen Köpfe der nationalen Apologeten oder sogar die komplexen regionalen Hochstapler mehr an der Vergangenheit als an der Gegenwart und Zukunft der Region interessiert sind“.

Die Idee der nationalen Identität im Rahmen der „nationalen Geschichte“ verhindert weitgehend den gemeinsamen intranationalen Integrationsprozess. Die Idee ist im Bewusstsein der zentralasiatischen Gesellschaft (vor allem ihrer politischen Elite) „verankert“. Die jeweiligen politischen Elite bilden nationale Symbole und füllen sie mit ideologischem Inhalt, ohne sich der Gefahr solcher „Dekonstruktionen“ für die künftige Entwicklung der Region bewusst zu sein.

Beispiele hierfür sind unter anderem der Bezug auf Amir Timur und das von ihm geschaffene Imperium als  „die Grundlage der usbekischen Staatlichkeit“ in Usbekistan unter Islom Karimov oder die Glorifizierung des kirgisischen Khaganats als Großreich von Sibirien bis Tibet durch Almasbek Atambajew. Die von Emomali Rahmon propagierte „indoiranische (arische) Zivilisation“ als Ursprung des modernen tadschikischen Staates oder Bezüge auf das Partherreich in Turkmenistan sowie auf die „Goldene Horde“ in Kasachstan passen ebenso in diese Reihe.

„Kämpfe der Geschichte“

Die Herausbildung „exklusiver nationaler Identitäten“ in der zentralasiatischen Region birgt Gefahren. Einerseits kann sie die weitere Entwicklung sowie die Sicherheit der Staaten in der Region negativ beeinflussen. Andererseits kann sie die Region gegenüber geopolitischen Interessen von Drittstaaten in der Region verwundbar machen.

Geht man der Frage nach, wer wir sind, hat Samuel Huntington in vielerlei Hinsicht Recht: Moderne Gesellschaften bilden sprachliche, nationale, religiöse, zivilisatorische und territoriale Identitäten aus, die in einer Region repräsentiert werden.

Es gibt eine Vielzahl solcher kulturellen und zivilisatorischen Phänomene, die die Eigenart, die Einheit und den Fortbestand der zentralasiatischen Zivilisation bestimmen. Die Länder der Region müssen zunächst das Wertesystem, das ihre Vorfahren im Laufe der Jahrhunderte entwickelt haben, bewahren. Um die Frage nach der Zukunft der Länder zu beantworten: Es müssen kulturelle und zivilisatorische Leitlinien wiederhergestellt werden. Denn Bürger:innen müssen auf die Zukunft einer gemeinsamen regionalen Identität vertrauen können.

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In diesem Zusammenhang möchte ich die Meinung des großen kirgisischen Schriftstellers Tschingis Aitmatow hervorheben, der in einem seiner letzten Interviews feststellte, dass „historische Gemeinsamkeiten, sprachliche Ähnlichkeiten, das Vorhandensein gemeinsamer Traditionen und Bräuche uns unzählige Möglichkeiten bieten, zusammenzukommen und gemeinsam eine neue Welt, eine gemeinsame Zivilisationsgemeinschaft aufzubauen.“

Trotz der politischen Grenzen leben die Länder und Völker der zentralasiatischen Region in einem einzigen Kultur- und Zivilisationsraum, sodass es unmöglich ist, das historische, kulturelle und zivilisatorische Erbe der Region getrennt zu betrachten.

Es ist an der Zeit, ein neues Zentralasien aufzubauen, in dem sich alle Beteiligten der Region gemeinsam über ihre Erfolge freuen und sich über ihre Misserfolge sorgen.

Erkin Baıdarov für CABAR

Aus dem Russischen (gekürzt) von Berenika Zeller

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